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Interview mit einem Aktivisten der Anti-Kriegs- und Umweltbewegung in der Türkei zu den gegenwärtigen Repressionen der türkischen Regierung gegenüber der Zivilgesellschaft

Information

Autorin

Katja Hermann,

picture alliance / NurPhoto

Das Interview wurde anonymisiert. (English version)

Frage: Welche zivilgesellschaftlichen Organisationen sind derzeit bedroht oder wurden bereits geschlossen?

Antwort: Nach dem Putschversuch hat die Regierung am 20. Juli einen dreimonatigen Ausnahmezustand erklärt, auf dessen Grundlage sie die Möglichkeit erhielt, per Erlass zu regieren. Seitdem hat die Regierung zahlreiche Dekrete erlassen und Hunderte Schulen, 15 Universitäten und Dutzende Medieneinrichtungen geschlossen. Weiterhin hat sie Tausende Arbeiter im Öffentlichen Sektor entlassen und Dutzende Bürgermeister und Parlamentarier (der HDP) verhaftet. Die Regierung hat den Ausnahmezustand am 19. Oktober um weitere drei Monate verlängert. Mit Blick auf die jüngsten Entwicklungen im Bereich der Zivilgesellschaft, hat das Innenministerium mit Rückgriff auf Artikel 11 der Ausnahmegesetze 370 Nichtregierungsorganisationen (NGOs) zeitweise schließen lassen. Laut diesem Gesetz werden diese NGOs von der Regierung wegen «gewalttätigen Aktivitäten» überpüft. Das bedeutet, dass die Organisationen drei Monate untersucht werden und in dieser Zeit ihre Arbeit ruhen lassen müssen. Sie werden wegen ihrer Beziehungen zu illegalen Organisationen ganz unterschiedlicher ideologischer Prägung überprüft, und zwar 190 NGOs wegen Kontakten zur PKK (Kurdische Arbeiterpartei), 153 wegen der sogenannten FETÖ (Fettullahist Terrororganisatio), 19 Organisationen wegen ihrer Beziehung zur DHKP-C (Revolutionäre Volksbefreiungsfront) und 8 wegen Kontakten zum IS (Islamischer Staat). 47 der 370 NGOs haben ihren Sitz in Diyarbakır, einer großen Stadt in den kurdischen Gebieten der Türkei. Bislang ist die gesamte Liste aller geschlossenen Organisationen aus Sicherheitsgründen nicht veröffentlicht worden, aber aus den sozialen Medien wissen wir, dass auch weitere Gruppen wie der Progressive Anwaltsverein, der Verein Kinderagenda und mehrere Frauenvereine betroffen sind. Die meisten von ihnen haben ihren Sitz in den kurdischen Gebieten.

Direkt nach dem Putschversuch hat die Regierung bekannt gegeben, dass der Ausnahmezustand nicht die Zivilgesellschaft, sondern den Staat betrifft. In den ersten drei Monaten wurden die Schulen von Fettullah Gülen sowie seine «Unterstützer» im öffentlichen Sektor, allen voran die Polizei, zur Zielscheibe. Dann weitete die Regierung den Kampf gegen Gülen’s Organisationen, die für den Putsch verantwortlich gemacht wurden, im Namen der Terrorbekämpfung in Richtung HDP und anderer oppositioneller Bewegungen aus.

Was sind die Gründe für die derzeitige Verfolgung der Zivilgesellschaft?

Der entscheidende Grund ist der Krieg, den der türkische Staat gegen die kurdische Befreiungsbewegung innerhalb der Grenzen der Türkei, aber auch in Syrien und im Irak führt. Die agressive interventionistische Außenpolitik der Türkei in Syrien und Irak hat die staatlichen Institutionen verändert und eine neue Koalition zwischen den extremen rechten Gruppen von Militär und Bürokratie («Ergenekon») und der Regierungspartei geformt. Die faschistische Partei MHP (Nationalistische Bewegungspartei) hat alle repressiven Maßnahmen der Regierung einschließlich der Präsidentschaft von Erdoğan unterstützt. Dies ist eine Kriegskoalition und dieser Krieg ist nicht nur eine Folge innenpolitischer Entwicklungen, sondern auch eine Folge der Entwicklungen in Syrien wie beispielsweise der Aufbau autonomer kurdischer Provinzen in Rojava und die gegenwärtigen Kriegshandlungen in Mossul.    

Die Bedeutung des Putschversuches lässt sich nur im Kontext des Nahen Ostens verstehen. Wir dürfen nicht vergessen, dass die türkische Armee aus vier verschiedenen Sektionen besteht, von denen sich nur die zweite Sektion mit ihren Top-Generälen an dem Putschversuch beteiligt hat. Die zweite Sektion hat ihren Sitz in Malatya im Osten des Landes und ist verantwortlich für die Südgrenzen der Türkei. Es ist auch der Teil der Armee, der für die «Terrorismusbekämpfung» zuständig ist. Vor dem Putsch war es dieser Teil der Armee, der Krieg in den kurdischen Städten geführt hat. Kurz gesagt, bei der zweiten Sektion handelt es sich um den aktivsten Teil des Militärs. Die zweitstärkste Unterstützung des Putsches kam von der Luftwaffe, einer weiteren aktiven Gruppe des Militärs. Das türkische Militär hat eine lange Tradition in der Einmischung in Politik, aber die jüngsten Gerichtsverfahren zu Ergenekon und Balyoz haben seine politische Macht deutlich reduziert. Ohne den Krieg hätten diese Teile des Militärs sich nicht stark genug gefühlt für einen Putsch. Es war der Krieg, der den Weg geebnet hatte für eine undurchsichtige Situation, in der eine Junta die Regierung stürzen wollte.

Ein Staat im Krieg kann nicht gleichzeitig ein demokratischer Staat sein. Seit dem Putschversuch hat die Regierung weder die Friedensgespräche mit Öcalan, dem Anführer der kurdischen Befreiungsbewegung, wieder aufgenommen, noch ihre interventionistische Außenpolitik in Syrien und Irak beendet. Sie missbraucht die Möglichkeit, die Junta innerhalb des Militärs zu bekämpfen, indem sie alle regierungskritischen Kräfte in der Gesellschaft bekämpft. Das stellt eine ernste Bedrohung nicht nur für die Opposition und für die Zivilgesellschaft dar, sondern auch für das Parlament als solches, einschließlich der regierenden Partei. Wenn der Krieg der Türkei in Nahost in eine ernsthafte ökonomische und politische Krise umschlägt, dann werden wir vielleicht einen neuen Putsch im Lande haben – und dieses Mal würde keiner die Regierung schützen.

Demokratie und Frieden gehen im Nahen Osten Hand in Hand. Leider hat das Schweigen der türkischen Zivilgesellschaft zum Krieg in den kurdischen Regionen den Weg frei gemacht für anti-demokratische Maßnahmen. Gewerkschaften, NGOs und die wichtigste Oppositionspartei CHP hätten zu Beginn des Krieges eine starke Friedensbewegung auf die Beine stellen müssen. Allerdings haben die meisten von ihnen die Regierung nur für die Menschenrechtsverletzungen in ihrem Krieg gegen den «Terrorismus» kritisiert, nicht für den Krieg an sich. Einen Krieg führen, bei dem man die Menschenrechte einhält, ist nicht möglich! Und ein demokratisches Regime, das Krieg führt, ist auch nicht möglich!

Was bedeuten diese Entwicklungen für die Mitarbeitenden zivilgesellschaftlicher Einrichtungen?

Bislang ist niemand verhaftet worden. Je nachdem, wie die Überprüfung der NGOs verlaufen wird, werden einige Organisationen wegen der «Unterstützung von Terrorismus» dauerhaft geschlossen bleiben und dann wird es natürlich auch Verfahren gegen die Vorstände und Mitarbeitenden der Organisationen geben.

Wie geht die Zivilgesellschaft mit der Situation um?

Die meisten der verbleibenden Organisationen befürchten Repressionen, wenn sie ihre Stimme gegen die Regierung erheben. Abgesehen von einigen überzeugten Linken – sozialistische Kräfte der türkischen und kurdischen Zivilgesellschaft – nimmt das Schweigen zu. Im Kontext des Ausnahmezustandes ist das Schließen einer NGO nicht die schlimmste Strafe. Die türkische Regierung hat bereits die europäische Menschenrechtskonvention ausgesetzt, Inhaftierung (ohne Gerichtsurteil) ist mittlerweile bis zu einer Dauer von 30 Tagen möglich, Folter ist wieder normaler Bestandteil bei Polizeiverhören und Tausende linker Aktivisten wurden verhaftet, ohne Mitteilung von Gründen. Der Ausnahmezustand bedeutet die Zerstörung der Demokratie. Solange die Türkei die Demokratie nicht wieder respektiert und anwendet, brauchen zivilgesellschaftliche Organisationen viel Mut, um die AKP und Erdoğan herauszufordern.  

Welche Auswirkungen haben die Repressionen auf die türkische Zivilgesellschaft?

Die jüngsten Schließungen haben das Ziel, die Strukturen der demokratischen Opposition zu zerstören und Angst zu verbreiten. Die türkische Zivilgesellschaft war bereits vorher ziemlich schwach und hat sich spät entwickelt, weitgehend erst in den 1990er Jahren. Mit den Schließungen wird sie noch schwacher. Viele fühlen sich wie in die 1980er Jahre zurückversetzt, als eine Junta das Land regierte. Im Moment hat eine sehr kleine Gruppe um Erdoğan unbegrenzte und unkontrollierbare Macht.

Die AKP hat in den letzten Jahren den Mediensektor umstrukturiert. Mit sehr wenigen Ausnahmen sind nun alle größeren Medien pro Regierung. Es könnte sein, dass die AKP das Gleiche nun mit den NGOs vorhat. In den letzten Jahren nahm die Zahl derjenigen Organisationen, die offen die AKP kritisierten, immer weiter ab und mit den Schließungen werden es noch weniger werden. Schwere Unterdrückung und ein Mangel an Demokratie schaffen andere Ausdrucksformen von Widerstand als die direkte Kritik. Es ist sehr wahrscheinlich, dass wir Zeuge werden eines stärker impliziten Diskurses auf Seiten der Zivilgesellschaft, wenn es darum geht, Erdoğan und die Regierung zu kritisieren.

Auf der anderen Seite spüren linke Kräfte die Dringlichkeit, sich gegen den Ausnahmezustand der AKP zu verbünden. So haben am Wochenende tausende Menschen aus dem linken Spektrum gemeinsam in Istanbul gegen die AKP demonstriert. Frauenorganisationen haben in vielen Städten gegen ein neues Gesetz zu Kindesmissbrauch demonstriert. An einigen Orten wurde gestreikt, wie beispielsweise bei der Bahn in Izmir. Es ist sehr wahrscheinlich, dass hier eine Protestwelle gegen anti-demokratische Maßnahmen entsteht.

Wir dürfen nicht vergessen, dass sich der Staat umbaut für eine unvorhersehbare Zukunft im Nahen Osten und einen Krieg in der Region. Erdoğan ist der symbolische Führer dieser «neuen Ordnung». Er selbst nennt sie «nationale und inländische Koalition», also eine Koalition an der Staatsspitze zwischen den extrem rechten Teilen der Armee (Ergenekon), der faschistischen Partei (MHP) und der Regierungspartei (AKP). Allerdings entwickelt sich diese Koalition erst noch. Wir haben bei dem Putschversuch gesehen, dass die Regierung nicht die Macht im Staatsapparat innehatte und auch derzeit noch nicht hat. Diese Schwäche zwingt die Regierung zu neuen Koalitionen und die angespannte Lage im Nahen Osten fordert einen starken Staat. Die «nationale und inländische Koalition» schafft es manchmal, die CHP auf ihre Seite zu bringen, und zwar beim «Krieg gegen Terrorismus» und bei Militäroperationen in Syrien und Irak, aber bei Fragen des Ausnahmezustandes, Schließungen von NGOs und ähnlichen Aspekten gelingt ihr keine Allianz mit der CHP. Eine weitere Schwierigkeit ist es, Tausende entlassene erfahrene Arbeiter und Bürokraten des öffentlichen Sektors, und zwar vom Geheimdienst bis zum Obersten Gericht, zu ersetzen.  

Andererseits hat sich diese «nationale und inländische Front» noch nicht in der Gesellschafft verankern können - ökonomische Schwierigkeiten, Krieg, steigende Arbeitslosenzahlen und Entwicklungen hin zu einem repressiven Staat werden von der Arbeiterklasse nicht akzeptiert. Ihr Schweigen ist kein Ausdruck der Zustimmung zu den neuen Verbindungen und Strukturen, vielmehr sind allgemeine Besorgnis und zunehmende Unzufriedenheit in der Gesellschaft deutlich sichtbar. Jetzt ist die Zeit zum Nachdenken für die sozialen Bewegungen, das «Neue» ist noch nicht da und birgt viele Widersprüche. Krieg und wirtschaftlicher Abschwung zwingt die Regierung zu drastischen Entwicklungsprojekten. Die massive Zerstörung der Umwelt führt in vielen Städten zu Widerstand, ganz besonders von Unterstützern der AKP in den Städten Artvin, Bursa und Soma. Neue Gesetzgebungen für private Beschäftigungsfirmen, die Reduzierung des Mindestlohns, das Verwehren von Abfindungszahlungen und die Unterstützung eines flexiblen Arbeitsmarkts führt zu Unzufriedenheit in der Arbeiterklasse und auch bei den regierungsnahen Gewerkschaften.

Diese Widersprüche führen zu einem Anstieg der gesellschaftlichen Spannungen und nicht zu einer Hegemonie der «nationalen und inländischen Koalition». Anstatt Angst zu verbreiten, sollten die linken Kräfte auf diese Widerstände fokussieren und Strategien überlegen, die zunehmende Unzufriedenheit an der Basis der Regierung zu organisieren.

Wie sollte internationale Solidarität und Unterstützung für die türkische Zivilgesellschaft aussehen?

Wir appellieren an die internationale Gemeinschaft, ihre Regierungen dazu zu bewegen, die Zusammenarbeit mit dem Erdoğan-Regime zu beenden. Die Türkei ist ein NATO-Partner und hat den schmutzigen Flüchtlingsdeal mit der EU vereinbart. Leider haben die westlichen Regierungen entschieden, die grundlegenden demokratischen Rechte in der Türkei für die Befriedigung ihrer kurzfristigen Interessen aufs Spiel zu setzen. Geopolitische und wirtschaftliche Interessen sollten keinen Vorrang haben vor den globalen Werten von Demokratie und Menschenrechten, diese Werte sollten vielmehr verteidigt werden. Deals mit einem antidemokratischen System können nicht akzeptiert werden. Wenn eure Regierungen sich entscheiden, ihre Zusammenarbeit mit dem Erdoğan-Regime zu beenden, würde die türkische Bourgeoisie ihre Unterstützung für Erdoğan überdenken.

Abgesehen davon erwarten wir alle möglichen Formen von symbolischer Solidarität. Das könnte in den sozialen Medien oder woanders stattfinden. Sprecht über den demokratischen Widerstand in der Türkei. Dort gibt es Unterdrückung, aber es gibt auch Widerstand. Macht die unterdrückerischen Politiken der herrschenden Klassen in der Türkei sichtbar. Zeigt deutlich eure Solidarität mit der HDP. Leider haben einige einflussreiche internationale NGOs entschieden, ihre Programme in der Türkei aufgrund der andauernden Repressionen zurückzufahren. Das ist sehr traurig, im Gegenteil, gerade jetzt brauchen wir ihre Aktivitäten viel mehr als je zuvor.