Der linke Journalist und von Berufsverbot bedrohte Kommunikationswissenschaftler Kerem Schamberger erzielte mit regelmäßigen Kurznachrichten über die Situation in der Türkei eine große Reichweite für alternative Informationen aus einem Land, in dem die Pressefreiheit immer stärker eingeschränkt wird. Bis er wegen seiner kritischen Berichterstattung auf Facebook gesperrt wurde.
In der nächsten Zeit werden wir auf unserer Themenseite immer Mittwochs eine Zusammenstellung alternativer Kurznachrichten aus der Türkei von Kerem Schamberger veröffentlichen.
Wir starten mit einem Überblick aus der Woche vom 28. November bis 4. Dezember 2016.
Arbeitslose Akademiker
BBC Türkce berichtet, dass seit dem Putschversuch vom 15.7.16 insgesamt 19.828 AkademikerInnen entlassen worden sind, nicht mehr lehren dürfen oder ihren Job verloren, nachdem ihre Universitäten geschlossen wurden. Mehr Informationen auf Englisch finden sich unter folgender Quelle: http://turkeypurge.com
Gefangene ins Verlies?
In Kale bei Denizli hat der örtliche Bürgermeister, Erkan Hayla, eine frischrenovierte Burg eröffnet. Besonders stolz ist er auf den als Gefängnis ausgebauten Keller der Anlage, da dort seiner Meinung nach in Zukunft auch Gefangene PKKler oder «FETÖ-Terroristen» (= Anhänger der Gülen-Bewegung) eingesperrt werden könnten. Um schon mal einen Eindruck davon zu erhalten, kaufte die Stadtverwaltungen Puppen, die Inhaftierte darstellen sollen. Ziel sei es, Angst unter den potentiellen «Übeltätern» zu verbreiten, damit diese erst gar nicht aktiv werden. Um diese Angst noch zu steigern, wurden in dem Verließ auch künstliche Ratten und Käfer angebracht. Diese Nachricht ist kein Scherz. Sie ist Realität in der Türkei des 21. Jahrhunderts. (Quelle: http://turkeypurge.com)
Zahlen zu Festnahmen kurdischer Bürgermeister
Eine interessante Grafik mit einigen Fakten: Bei den landesweiten Kommunalwahlen 2014 gewann die kurdische Linkspartei DBP (die Teil der HDP ist) 106 Provinz-, Bezirks- und Gemeinderathäuser. 33% dieser Rathäuser werden mittlerweile von Zwangsverwaltern von Ankaras Gnaden regiert, die kurdischen Bürgermeister sind abgesetzt. 45 Ko-Bürgermeister befinden sich in Haft, gegen 7 weitere liegen Haftbefehle vor. 38 Bürgermeister (darunter befinden sich vor allem die inhaftierten) wurden von ihren Ämtern abgesetzt. 43 wurden inhaftiert und nach einigen Tagen wieder freigelassen, also waren oder sind bereits fast 90 Ko-Bürgermeister in Haft (gewesen). Von den derzeit immer noch Inhaftierten sind 49% Frauen und 51% Männer. Alleine diese Zahl zeigt die weitreichende Gleichberechtigung der Geschlechter innerhalb der kurdischen Freiheitsbewegung.
Insgesamt von den Statthaltern betroffen sind Gegenden mit 6,6 Millionen Einwohnern Nordkurdistans. (Quelle: http://bianet.org/bianet)
Zensur von Demirtaş-Brief
Auf der Fraktionssitzung der HDP im türkischen Parlament am 29.11.16 sollte ein Brief des in Untersuchungshaft befindlichen HDP-Ko-Vorsitzenden Selahattin Demirtaş verlesen werden. Dies war nur schwer möglich, da er in großen Teilen von den Gefängnisbehörden zensiert worden ist (siehe Bild). Trotzdem hier nun einige Bruchstücke seiner Worte:
«Wir sind standhaft, voller Elan und uns geht es gut. (…) Wir werden weiterhin mit großem Eifer und hoher Moral unseren Kampf innerhalb dieser vier Wände fortführen und weiterhin mit unserer stärksten Stimme zum Frieden aufrufen.»
Der HDP-Sprecher Ayhan Bilgen sagte auf der gleichen Sitzung, dass es auf der Welt nur zwei Staaten gebe, die Abgeordnete wegen ihrer Meinungen und Gedanken ins Gefängnis sperren würden: Israel und die Türkei. Er ergänzte, dass sie den zensierten Brief von Demirtaş an den Parlamentssprecher weiterleiten werden, damit dieser ihn in einem «Demokratie»-Museum ausstellen könne. (Quelle: https://twitter.com/HDPgenelmerkezi)
«Das einzige was ich will, ist gesund werden» (Güneş Erzurumluoğlu)
Güneş Erzurumluoğlu wurde beim Suruc-Anschlag am 20.07.15 schwer verletzt und ist seitdem zu 98% behindert (wenn man diesen Kategorisierungen wirklich folgen will). Der Staat erkennt sie nicht als Terror-Opfer an und gewährt deshalb keine Hilfe. Um ihre Behandlungskosten bezahlen zu können, haben Genossen von Güneş deshalb eine Spendenkampagne initiiert. Der Gouverneur von Kocaeli, dem Distrikt wo die Kampagne starten sollte, hat nun gegen die Initiatoren einen 1500 TL-Strafebefehl erlassen, wegen unerlaubtem Spendensammeln. Skandalöserweise hat die Polizeidirektion von Kocaeli dem Gouverneur einen Brief geschrieben, in dem sie davor warnt, dass die Spendenkampagne dafür genutzt wird, Geld für terroristische Organisationen zu sammeln. Daraufhin ist der Gouverneur eingeschritten, hat die Kampagne verboten und eine Geldbuße verhängt.
Die Freunde und Genossen von Güneş geben aber nicht auf. Sie haben nun eine Online-Spendenkampagne gestartet (https://www.generosity.com). Bisher sind etwas mehr als 11.000 Dollar gesammelt worden. Das reicht noch lange nicht aus, da sich Güneş in Basel behandeln lassen muss, um endlich wieder ein menschenwürdiges Leben führen zu können. Bei dem Anschlag in Suruc an der Grenze zu Rojava im Juli letzten Jahres starben 34 Jugendliche. Mehr als 75 wurden zum Teil schwer verletzt. Güneş ist eine von ihnen. Wir sollten sie nicht vergessen.
(Quelle: http://www.diken.com.tr)
Ein «dornenfreier Rosengarten» für die AKP
Der inhaftierte bekannte Politiker und Ko-Bürgermeister von Mardin, Ahmet Türk (74 Jahre), hat sich aus dem Gefängnis zu Wort gemeldet und folgendes gesagt:
«Mein ganzes politisches Leben lang habe ich den Frieden und die Brüderlichkeit verteidigt. Diesen Kampf werde ich auch im Gefängnis fortsetzen. Die AKP führt derzeit vor dem «Präsidial»-Referendum eine Wegbereinigung durch. Ihr Ziel ist es, Politiker und Schriftsteller zu inhaftieren und sich somit einen dornenfreien Rosengarten zu erschaffen. Das Volk sieht was geschieht und wird sich dementsprechend verhalten.» (Quelle: http://www.gazeteduvar.com.tr)
Antrag zur Aufklärung von Mord an Rechtsanwalt Elci abgelehnt
Vor einem Jahr wurde der bekannte kurdische Rechtsanwalt Tahir Elci in Diyarbakir auf offener Straße erschossen. Die Täter sind bis heute nicht gefasst. Ein Antrag des inhaftierten HDP- Fraktionsvorsitzenden Idris Baluken zur Aufklärung der Umstände des Mordes wurde nun von den beiden Parlamentsfraktionen der AKP und MHP abgelehnt. Die Witwe des Anwalts, Türkan Elci, hatte bereits zuvor gesagt, dass vom ersten Tag des Todes an klar war, dass dieser Mord nicht aufgeklärt werden wird und in die Reihen von tausenden Fällen von «Faili meçhul» (= Unbekannter Täter) eingehen wird.
Gegen den oben erwähnten Baluken wurde am 29.11.16 übrigens ein Prozess begonnen, bei dem die Staatsanwaltschaft in Bingöl erschwerte lebenslange Haft sowie 15 weitere Jahre Gefängnis für den HDP-Abgeordneten fordert. Die Vorwürfe sind die gegenüber HDP-Abgeordneten Üblichen: «Terror-Propaganda, Mitgliedschaft in einer Terror-Organisation» etc. pp. Zugleich wurde am selben Tag zudem noch sein Berater, Hasan Kılıç, von der Polizei festgenommen.
(Quellen: http://www.diken.com.tr und http://ilerihaber.org)
«Leb wohl, du Traum unserer Jugend»
Die beiden inhaftierten Ko-Vorsitzenden und Parlamentsabgeordneten der HDP, Figen Yüksekdag und Selahattin Demirtaş, haben beide Nachrichten zum Tod von Fidel Castro aus ihren Gefängnissen veröffentlicht. So schrieb Yüksekdag: «Er hat wieder einmal das Unmögliche vollbracht und sogar nach seinem Tod die weltweit unterdrückten Völker um die menschlich-revolutionären Werte herum versammelt. Ja, wir glauben an diese Werte und wir glauben an die Wunder, die diese Werte erschaffen. (…) Lebe wohl, du Traum unserer Jugend, du unsere alte Platane.»
Demirtaş schrieb in einer eigenen Nachricht folgende Worte über Fidel: «Den Weg, den er mit Che Guevara und seinen Freunden gemeinsam begonnen hat zu gehen, ist zu einer Quelle der Moral und Inspiration für alle unterdrückten Völker weltweit und ihre gesellschaftlichen Kämpfe geworden. Wir sprechen unser Beileid dem kubanischen Volke und all denen, die für die gleichen Ideale und Werte wie Fidel Castro kämpfen, sowie seinen GenossInnen aus. Wir werden seiner in Ehren gedenken.»
(Quelle: http://www.diken.com.tr)
Unternehmer gegen Ausnahmezustand
Eine interessante Äußerung gibt es am 01.12.16 vom Verband des eher westlich orientierten Kapitals, TÜSIAD (Verein der türkischen Industriellen und Unternehmer). Die Vorsitzende des Verbands, Cansen Başaran Symes, sagte: «Einige Praxen des Ausnahmezustands OHAL, vor allem in Anatolien, haben negative Auswirkungen auf das wirtschaftliche Leben. Wir erwarten, dass der OHAL und die damit verbundene Regierung per Dekrete mit Gesetzeswirkung sofort beendet werden. Wir wollen, dass der Boden für eine gesellschaftliche Versöhnung bereitet wird und vereinigende Äußerungen getätigt werden.» Solche Statements von Unternehmerverbänden könnten bedeuten, dass es innerhalb gewisser türkischer Kapitalfraktionen unruhig wird. Das mögliche Einfrieren der EU-Beitrittsverhandlungen, der bodenlose Sturz der Lira-Währung, die türkische Kriegspolitik in Syrien, das Ausbleiben von Millionen Touristen und der Bürgerkrieg mit der PKK sind mittlerweile auch Faktoren, die die türkische Wirtschaft massiv negativ beeinflussen. Allerdings ist TÜSIAD ein Kapitalverband, der sich eher Richtung Europa und Westen orientiert. Andere Unternehmerverbände, vor allem der AKP nahestehende, haben sich noch nicht geäußert. (Quelle: http://www.birgun.net)
Hausarrest für kurdische Frauenaktivistin
Sara Aktaş, kurdische Politikerin, die im Vorstand des kürzlich verbotenen «Kongress der Freien Frauen» (KJA) aktiv war, wurde kürzlich von der Polizei am Istanbuler Sabiha Gökcen-Flughafen mit dem üblichen Vorwurf «Mitglied und Anführerin einer bewaffneten terroristischen Organisaton» zu sein, festgenommen. Die AKP-Medien, die mittlerweile mehr als 90% der kompletten Medienlandschaft ausmachen, brachen in Freudentaumel aus. Die Überschriften der Zeitungen überboten sich in ihrer Hetze gegen die Frau. Der Tenor: Die Türkei-Verantwortliche der PKK sei nun dingfest gemacht, damit hätte die «Terrororganisation» einen herben Schlag erlitten (Belege zu den jeweiligen Schlagzeilen: https://twitter.com/OzgurrGundem). Dass sie eine zivile Aktivistin ist, die bereits mehr als 20 Jahre ihres Lebens hinter Gittern verbracht hat, wollten die Medien nicht wahrnehmen. Nach vier Tagen Haft wurde sie nun dem Haftrichter vorgeführt. Dieser ordnete ihre Freilassung an. Bis zu ihrem Prozess steht sie aber unter Hausarrest. Was werden die Zeitungen jetzt dazu schreiben? (Quelle: http://www.demokrathaber.org)
Extralegale Tötungen
Außergerichtliche Tötungen in der Türkei werden immer häufiger. In der Nacht von Samstag auf Sonntag, den 4.12.16 wurden in Viransehir bei Urfa vier Menschen in einem Haus von Spezialeinheiten der Polizei erschossen. Diese behauptete zuerst es handelte sich um PKKler. Jetzt kommt durch Aussagen von Nachbarn heraus, dass es sich bei mindestens zwei der Ermordeten um Menschen gehandelt hat, die im Viertel wohnten. Einer sei der Hausbesitzer der gestürmten Unterkunft, ein anderer Erol Özgezer, der im Viertel lange Jahre als Elektriker gearbeitet hat. Brutalste Bilder der Getöteten wurden heute von Twitter-Accounts, die den türkischen Sicherheitskräften nahe stehen veröffentlicht. Sie belegen, dass die Getöteten unbewaffnet waren. (Quelle: http://sendika12.org/2016/12)
Social Media-Nutzer leben gefährlich
Die Nachrichtenseite Turkey Untold berichtet, dass seit dem Putschversuch am 15.07.16 insgesamt 1213 Nutzer von Social Media wegen «Propaganda»-Vorwürfen verurteilt und inhaftiert worden sind. (Quelle: https://twitter.com/TurkeyUntold)
Derzeit überbietet sich die türkische Staatsanwaltschaft in ihren Haftdauerforderungen für kurdische und linke inhaftierte Politiker. Hier drei Beispiele:
- Selahattin Demirtaş, der HDP-Ko-Vorsitzende und Parlamentsabgeordnete dürfte die Rangliste der höchsten Haftforderungen anführen. Insgesamt hat er mehr als 100 Strafverfahren am Hals, zusammengenommen fordert die Staatsanwaltschaft zwei Mal lebenslänglich und zusätzliche 486 Jahre Haft für ihn. Das Strafmaß steigt bei ihm praktisch täglich. (Quelle: http://www.birgun.net )
- Gülten Kisanak, inhaftierte Ko-Bürgermeisterin von Diyarbakir, erwarten 230 Jahre Haft, wenn es nach der türkischen Staatsanwaltschaft ginge (Quelle: http://www.ntv.com.tr/turkiye). Ihr wird unter anderem in 41 Fällen «Propaganda für eine terroristitsche Organisation» vorgeworfen.
- Für Sebahat Tuncel, inhaftierte Ko-Vorsitzende der DBP (Demokratische Partei der Regionen), verlangt die Staatsanwaltschaft 150 Haft. Auch hier wurden, wie in den beiden Fällen zuvor, die Anklageschrift(en) vom Gericht zugelassen. (Quelle: www.gazeteduvar.com.tr/politika)
Dies sind nur drei Beispiele von tausenden, die deutlich machen, dass die inhaftierten kurdischen und linken Politiker eigentlich Geiseln der AKP-Regierung sind. Die von der Staatsanwaltschaft benannten Gründe für die Strafverfolgung sind eigentlich immer dieselben. Sie unterscheiden sich höchstens in Nuancen. Meist ist es «Mitgliedschaft in einer terroristischen Organisation» und Propaganda für diese.
Unterdessen werden auch die Anwälte der Inhaftierten immer häufiger Ziel von Verfolgung. Am Freitag wurde z.B. die Anwältin der inhaftierten HDP-Ko-Vorsitzenden, Figen Yüksekdag, Sevda Çelik Özbingöl in Urfa zusammen mit einem weiteren Kollegen festgenommen. (Quelle: http://demokrasi2.com/2016)
Mehr Einzelheiten aus dem Nachrichtenüberblick lesen Sie im Blog von Kerem Schamberger.
Der nächste Wochenüberblick erscheint hier am 14.12.2016.