Pressemeldung | Die drei großen K

Clemens Burrichter über Deutsch-Deutsches, Forschungspolitik und eine Infektion (Neues Deutschland, 14.3.2006)

Prof. Clemens Burrichter, langjähriger Direktor des Instituts für Gesellschaft und Wissenschaft an der Universität Erlangen, ist Mitherausgeber des von der Rosa-Luxemburg-Stiftung Berlin geförderten Handbuchs »Deutsche Zeitgeschichte von 1945 bis 2000«
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ND: Sie sind Mitherausgeber eines Handbuchs, in dem – was nicht selbstverständlich ist – die Geschichte beider deutscher Staaten parallel erzählt wird. Und in dieser Ausführlichkeit auch einmalig.
Burrichter: Wir dachten, es ist höchste Zeit, 15 Jahre nach der staatlichen Einheit, die Geschichte der Bundesrepublik und der DDR sachlich, fair und gleichberechtigt darzustellen. Und dabei nicht nur die politische Entwicklung, sondern alle gesellschaftlichen Bereiche: Wirtschaft, Kunst und Kultur, die Medien, die Wissenschaften, Sport, Kirchen, Frauen, Familie, Jugend etc. Durch die gemeinsame Betrachtung der beiden deutschen Gesellschaften werden nicht nur die Unterschiede, sondern auch Gemeinsamkeiten deutlich. Und man ist überrascht, wie viel Gemeinsames es doch gab und gibt in Deutschland-West und Deutschland-Ost.

Kann man die BRD und DDR Parallel-Gesellschaften nennen? Überwogen letztlich nicht doch die Unterschiede zweier konträrer Gesellschaftssysteme?
Der Begriff Parallelgesellschaft ist meiner Ansicht nach nicht treffend. Wohl aber haben sich beide deutsche Nachkriegsgesellschaften stets aufeinander bezogen. Es gab unterschiedliche Dimensionen in ihrer Beziehung zueinander. Wir haben in Erlangen schon Ende der 70er Jahre von den drei großen K gesprochen: Konflikt, Konkurrenz, Kooperation. Natürlich war der Antagonismus groß. Und wie vergleicht man zwei unterschiedliche Systeme miteinander? Wenn ich Äpfel und Birnen vergleiche, dann kann ich nur sagen: Das wiegt 500 Gramm ... Man braucht also das sogenannte tertium comperationis, ein drittes Gleiches. Und eine Analogie beider deutscher Gesellschaften war beispielsweise, dass sowohl die Bundesrepublik als auch die DDR mit Beginn der 80er Jahre Technologiegesellschaften wurden, die mit all den Problemen konfrontiert waren, die unsere Gesellschaft heute noch mit sich herumschleppt: Atomtechnologie, Bio- und Gentechnologie und Informationstechnologien. Sie haben die Gesellschaft geprägt. Dass der Entwicklungsstand unterschiedlich war, spielt keine Rolle. Es war eine analoge Herausforderung.

Das Handbuch beginnt 1945 ...
... dem Jahr, das für beide deutsche Staaten ein entscheidendes Bezugsjahr war, wobei beide sehr unterschiedliche Antworten auf die NS-Vergangenheit gegeben haben. Bei uns ist die Aufarbeitung der Verbrechen des NS-Regimes sehr zögerlich angelaufen, erst durch die Studentenrevolte in den 60er Jahren überhaupt begonnen worden und auch dann noch sehr selektiv. In der DDR war die Auseinandersetzung mit dem »Dritten Reich« und dem Faschismus ausgeprägter und konsequenter, wenn auch in eine gewisse ideologische Richtung gedrängt, um nicht zu sagen: verfremdet.

Zweite und abschließende Zäsur Ihres Handbuches ist das Jahr 2000. Da war doch schon der eine Gegenstand Ihrer Untersuchung seit Jahren nicht mehr existent?
Wir wollten eigentlich mit dem Jahr 1990 aufhören, aber waren dann der Meinung, dass es nötig ist, auch die Folgen der Vereinigung zu reflektieren. Und in gewisser Weise hat die DDR über das Jahr 1990 hinaus weiter gewirkt.

Hätten Sie sich eine andere Art der Vereinigung gewünscht?
Was mein Metier, Wissenschaft und Forschung, betrifft, auf jeden Fall. Ich hatte auf Fusion gehofft statt Abwicklung und Einverleibung. Auf einer Konferenz 1990 in Bonn habe ich beschrieben, wie diese Fusion bei allen inhaltlichen Unterschieden und Komplikationen ablaufen, wie die Wissenschaftspotenziale beider Staaten sich zusammenfügen könnten. Ohne Evaluierungskommission, ohne Richtersprüche. Im täglichen Wissenschaftsgeschäft hätte sich herausgestellt: Wer war ein Dünnbrettbohrer, wer hat qualifiziert geforscht?

Wäre auch eine Fusion der politischen und sozialen Systeme machbar gewesen?
Der politischen Systeme: Nein. Ausgeschlossen, da war der Antagonismus zu gravierend. Im sozialen Bereich wäre dies vorstellbar und vielleicht auch wünschenswert gewesen.

Sie haben sich zu Zeiten deutscher Zweistaatlichkeit oft mit DDR-Wissenschaftlern getroffen. Wie war da die Atmosphäre?
Gut. Diese Treffen waren wichtig. Wir hatten ja den Wettstreit der Systeme. Das Credo unseres Instituts war: Trotz und wegen der Konkurrenz Konflikte durch Kooperation abzufedern.

Die drei großen K.
Ja. Wir waren immer bemüht, den deutsch-deutschen Wissenschaftsdialog aufrecht zu erhalten oder, wenn er abgebrochen ist, aus welchen Gründen auch immer, wieder in Gang zu bringen. Jedes Jahr kamen DDR-Wissenschaftler zu unseren Werkstattgesprächen nach Erlangen. Und wir wurden in die Prenzlauer Promenade in Berlin, in die Akademie eingeladen.

Haben Sie als DDR-Forscher auch politikberatend gewirkt?
Klar, wir haben schon für bestimmte Phasen der Deutschlandpolitik eine Art »brain storming« geleistet, für das Ministerium für Gesamtdeutsche- oder Innerdeutsche Beziehungen, aber auch für das Wissenschaftsministerium. Der Wissenschaftsvertrag zwischen der Bundesrepublik und der DDR 1971 ist durch unsere Studien unterfüttert worden. Wobei unsere Intentionen weiter gesteckt waren. Der von Herrn Riesenhuber und Herrn Weiz unterzeichnete Vertrag konzentrierte sich wesentlich auf die Naturwissenschaften.

Wurde Ihnen nie vorgeworfen, »Kuscheldialog« mit den Ost-Wissenschaftlern zu betreiben?
Ich habe bei unseren Konferenzen vor allem den deutsch-deutschen Aspekt einzubringen versucht. Natürlich haben meine westlichen Kollegen, wenn ich etwa darauf bestand, auch Wissenschaftler aus Moskau oder Warschau einzuladen, mitunter gemurrt: »Du immer mit deinen Ossis.« Das hat sie zum Teil genervt.

Nach 1990 stürzten sich alle möglichen Leute auf die Geschichte der DDR, auch die, die sich vordem nie für sie interessiert haben. Es gab gutes Geld. Kam bei Ihnen da Neid auf, der Sie jahrelang weniger Aufmerksamkeit erfuhren?
Beneidet habe ich niemanden. Als ungünstig empfand ich aber, dass – wohl bedingt durch diese Vereinigungseuphorie – die Förderungspolitik eher nach dem Gießkannenprinzip verfuhr. Jetzt ist diese Begeisterung verflogen, alles ist etwas nüchterner, das Interesse an DDR-Forschung ist deutlich abgeklungen und wird zunehmend eingeschränkt. Das ist bedauerlich.

Wie ist Ihr Urteil über den Zustand der Forschung in der heutigen Bundesrepublik?
Die Forschungspolitik des Bundes ist umzingelt von einer mächtigen konservativen Wissenschaftslobby. Die hat es zwar schon immer in der Geschichte der Bundesrepublik gegeben, aber mit dem Neoliberalismus wurde Forschungspolitik der marktradikalen, wettbewerbsorientierten Technologiegesellschaft unterworfen. Das Resultat ist eine Entfremdung und Entfernung der Forschung von der Gesellschaft als Ganzem, Ignorierung der Wissensbedürfnisse unserer Übergangsgesellschaft mit ihren fundamentalen Orientierungsdefiziten und eine zunehmende Ökonomisierung der Forschung. Dominantes Ziel ist der »Wirtschaftsstandort Deutschland« und nicht auch der »Lebensstandort Deutschland«.

Und wie ist dem abzuhelfen?
Ich sehe keine Alternative. Der Argumentation der Etablierten, man müsste den »Sachzwängen« folgen, wird kein linkes Gesellschaftskonzept entgegengehalten. Es wird im so genannten linken Spektrum seit Jahren räsoniert, aber ohne konkrete Ergebnisse.

Wieso sagen Sie: im so genannten linken Spektrum?
Weil jeder Diskussionsteilnehmer eigene Vorstellungen davon hat, was »linke« Politik ist.

Was verstehen Sie darunter?
Das Streben nach einem demokratischen Sozialismus. Und dessen drei Grundpfeiler sind: Freiheit, Gleichheit, Solidarität.

Wie kommt es, dass einem westdeutschen DDR-Forscher das Herz links schlägt? Ist da während Ihrer Studien zur DDR etwas abgefärbt?
Es bleibt wohl nicht aus, dass man als Forscher auch objektinfiziert wird. Jedenfalls entdeckte ich, je intensiver ich mich mit der DDR befasste, neben den totalitären Seiten auch interessante gesellschaftstheoretische Aspekte.