Historisch-kritisches Wörterbuch des Marxismus

Publikation HKWM Diktatur des Proletariats

Es erscheint wichtiger, die Fehler offenzulegen, wenn man das Vertrauen wiedergewinnen will, das durch die jahrzehntelange Identifikation mit dem Stalin-Kult verlorenging.

Information

Reihe

HKWM

Autor

Theodor Bergmann,

Erschienen

September 2021

Zugehörige Dateien

Eine Barrikade während der Pariser Kommune, 18. März 1871. Musée Carnavalet PH4142-172

Das Historisch-kritische Wörterbuch des Marxismus (HKWM) ist ein marxistisches Lexikon, das nach seiner Fertigstellung 15 Bände und über 1.500 Einträge umfassen wird. Von den bisher erschienenen neun Bänden in deutscher Sprache sind seit 2017 zwei Bände in chinesischer Sprache herausgegeben worden. Im Frühjahr 2019 hat die Rosa-Luxemburg-Stiftung gemeinsam mit dem HKWM-Team die «Internationalisierung» des Lexikons auf Englisch und Spanisch vorangetrieben, um eine neue Generation marxistischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus der ganzen Welt für das Projekt zu gewinnen und seine Leserschaft und Reichweite zu vergrößern. Der unten stehende Eintrag ist Teil einer Auswahl dieser Übersetzungen, die auf unserer Website zur Verfügung gestellt werden. 

Weitere Informationen über das Projekt und andere übersetzte Lexikon-Einträge finden sich in unserem HKWM-Dossier.

A: dīktātūrīya brūlītārīya. – F: dictature du prolétariat. – E: Dictatorship of the Proletariat. - R: diktatura proletariata. – S: dictadura deI proletariado. – C: wuchan jieji zhuanzheng 无产阶级专政

Nach Wolfgang Leonhard hat der »wahrscheinlich 1837 von Auguste Blanqui« geprägte Begriff »erst durch K. Marx und F. Engels seine politische Bedeutung erlangt« (1966, 86). Man muß ergänzen: durch Lenins Rezeption der marxistischen Klassiker in SR und schließlich durch den Gebrauch dieses Terms, der ein Mißbrauch war, den der Stalinismus und die post- stalinistischen Staatsparteien davon machten. Der Eurokommunismus wird in den 1970er Jahren mit der Redeweise von der DdP unter heftigen Auseinandersetzungen brechen.

1. Marx erklärt 1850 in den Klassenkämpfen »die Klassendiktatur des Proletariats« zum »notwendigen Durchgangspunkt zur Abschaffung der Klassenunterschiede überhaupt« (MEW 7, 89). 1852 beansprucht er im Brief an Weydemeyer, entdeckt zu haben, »daß der Klassenkampf notwendig zur DdP führt« und daß »diese Diktatur selbst nur den Übergang zur Aufhebung aller Klassen und zu einer klassenlosen Gesellschaft bildet« (MEW 28, 508).

Engels schließt 1891, am 20. Jahrestag der Pariser Kommune, die Einleitung zu MarxBürgerkrieg in Frankreich mit den Worten: »Der deutsche Philister ist neuerdings wieder in heilsamen Schrecken geraten bei dem Wort: DdP. Nun gut, ihr Herren, wollt Ihr wissen, wie diese Diktatur aussieht? Seht euch die Pariser Kommune an. Das war die DdP.« (MEW 17,625; 22, 199) - Marx selbst benutzt in seiner Broschüre den Begriff nicht - er spricht von der »Regierung der Arbeiterklasse« (MEW 17, 342) -, arbeitet aber seine wesentlichen Merkmale heraus, die Engels 1891 so zusammenfaßt: Beseitigung der alten Staatsmaschinerie, Abschaffung des stehendes Heeres, Bewaffnung des Volkes, Zusammenfassung von Legislative und Exekutive, Wahl und jederzeitige Abwählbarkeit aller Verwalter, Richter, Lehrer, Bezahlung aller öffentlich Bediensteten nach dem Arbeiterlohn, gebundenes (imperatives) Mandat aller in Vertretungskörper gewählten Delegierten. Erst in Gotha (1875) bezeichnet Marx die politische Übergangsperiode von der kapitalistischen zur kommunistischen Gesellschaft als »revolutionäre DdP« (MEW 19,28). In seimer Kritik des sozialdemokratischen Programmentwurfs 1891 sagt Engels, daß »unsre Partei und die Arbeiterklasse nur zur Herrschaft kommen kann unter der Form der demokratischen Republik. Diese ist sogar die spezifische Form für die DdP« (MEW 22, 235). Zugleich wendet er sich gegen die kolossale Illusion, »als könne man dort [in Deutschland] auf gemütlich-friedlichem Weg die Republik einrichten, und nicht nur die Republik, sondern die kommunistische Gesellschaft« (ebd.). Da er den Staat als »Maschine zur Unterdrückung einer Klasse durch eine andre« faßt (199), versteht er folgerichtig auch den Staat des siegreichen Proletariats als »im besten Fall ein Übel«, »dessen schlimmste Seiten [...] sofort möglichst zu beschneiden [sind], bis ein in neuen, freien Gesellschaftszuständen herangewachsenes Geschlecht imstande sein wird, den ganzen Staatsplunder von sich abzutun« (ebd.). Diese Vorstellung ist bereits in EngelsUrsprung und im AD entwickelt. Die Vorstellung vom späteren Absterben des Staates in einer klassenlosen Gesellschaft ist hier in nuce enthalten.

Die Pariser Kommune, beschränkt auf einen relativ kleinen Raum, wurde nach kurzer Zeit von den internationalistisch vereinten französischen und deutschen Kapitalisten und Militärs geschlagen und mit blutiger Rache liquidiert. Der nächste revolutionäre Versuch der Arbeiter war die russische Revolution von 1905; der erste erfolgreiche Versuch von größerer Dauer war die russische Oktoberrevolution von 1917. Die Bedingungen waren völlig anders als in Paris: nationale Dimension der Revolution im flächengrößten Staat der Erde, ein zahlenmäßig geringes Industrie- Proletariat ohne Schulbildung und ohne demokratische Organisationserfahrung, eine umfassende, multinationale Front konterrevolutionärer Regierungen zur Vernichtung der Revolution, geringe Entwicklung der Produktivkräfte, also objektive Unreife für die Revolution.

Lenin analysiert das Problem im August/September 1917, also vor der Oktoberrevolution, in SR. Dabei definiert er die DdP als »Demokratie für die riesige Mehrheit des Volkes und gewaltsame Niederhaltung der Ausbeuter [...], d.h. ihr Ausschluß von der Demokratie - diese Modifizierung erfährt die Demokratie beim Übergang vom Kapitalismus zum Kommunismus« (LW 25, 476). Bemerkenswerterweise spricht er schon hier davon, daß ein besonderer Apparat dafür nicht notwendig sein würde, sondern es genüge »die einfache Organisation der bewaffneten Massen (in der Art der Sowjets der Arbeiter- und Soldatendeputierten [...])« (477). Auch in weiteren Abschnitten dieser Schrift eilt Lenin der Entwicklung weit voraus und schildert eine Zukunftsgesellschaft basisdemokratischer Prägung, deren Gegenteil sich in der Stalin-Ära entwickelte.

Rosa Luxemburg meldet in ihrem Fragment zur russischen Revolution (GW 4,332-65) prinzipielle Bedenken gegen die Leninschen Organisationsprinzipien an. Luxemburg begrüßt zwar die Oktoberrevolution, befürchtet aber die Deformation der DdP und fordert, sozialistische Demokratie »nicht erst im gelobten Lande«, nicht als »fertiges Weihnachtsgeschenk für das brave Volk«, beginnen zu lassen: »Sozialistische Demokratie beginnt zugleich mit dem Abbau der Klassenherrschaft und dem Aufbau des Sozialismus. Sie beginnt mit dem Moment der Machteroberung durch die sozialistische Partei. Sie ist nichts anderes als DdP.« (363)

2. Der Sieg der Oktoberrevolution vertieft und verfestigt die Spaltung der internationalen Arbeiterbewegung. Kautsky wird zum Gegner der russischen Revolution, lehnt nunmehr in Die Diktatur des Proletariats (1918) die gewaltsame Revolution und die DdP ab. Die Kritik richtet sich zuerst gegen die offensichtlich undemokratischen Maßnahmen - im Sinne der formalen bürgerlichen Demokratie -, mit denen die Bolschewiki ihre Herrschaft zu sichern versuchten und sicherten. Sie dient zuerst der Verteidigung der nun gebannten Menschewiki und Sozialrevolutionäre, weitet sich dann aber zu einer Frontstellung gegen die russische Revolution aus. - Lenin reagiert darauf mit der Broschüre Die proletarische Revolution und der Renegat Kautsky (LW 28, 225-327), in der es heißt: »Der Bolschewismus hat die Idee der ‘DdP’ in der ganzen Welt popularisiert, [... ] dann in alle Sprachen der Welt übertragen und an dem Beispiel der Sowjetmacht gezeigt, daß die Arbeiter und die armen Bauern sogar eines rückständigen Landes [...] ein ganzes Jahr lang imstande waren [...], eine ungleich höhere und breitere Demokratie als alle früheren Demokratien zu schaffen und [...] die praktische Verwirklichung des Sozialismus in Angriff zu nehmen.« (293)

Lenins harte und ausführliche Polemik erklärt sich zum Teil daraus, daß Kautsky früher eine etwas radikalere Position vertreten hatte; so spricht er 1909 im Weg zur Macht noch von revolutionären Kämpfen des Proletariats, wobei er allerdings der physischen Gewalt (von seiten der bislang Unterdrückten) keine bedeutende Rolle zuteilt, sowie von der DdP, über die zu entscheiden man jedoch getrost der Zukunft überlassen könne (172). Wenig später bekennt ersieh zum bestehenden parlamentarischen System: »Und das Ziel unseres politischen Kampfes bleibt das gleiche, das es bisher gewesen ist: Eroberung der Staatsgewalt durch Gewinnung der Mehrheit im Parlament und Erhebung des Parlaments zum Herrn der Regierung. Nicht aber Zerstörung der Staatsgewalt.« (1912,732)

Anton Pannekoek widerspricht dieser Linie entschieden, hält die parlamentarische Eroberung der Macht für eine Illusion. Für ihn werden Machtkämpfe als Massenaktionen ausgefochten, in denen sich das Proletariat seiner Bedeutung und Macht bewußt wird und eigene Machtorgane schafft: »Die Organisation der Mehrheit hat dann ihre Überlegenheit dadurch erwiesen, daß sie die Organisation der herrschenden Minderheit vernichtet hat.« (1912,548)

Der Austromarxist Max Adler versucht 1919 einen Kompromiß und hält eine DdP auch in parlamentarischen Formen für möglich. In einer späteren Studie (1922) bestimmt er dies genauer, indem er zwischen »politischer Demokratie [...], die eigentlich gar keine Demokratie ist und daher überwunden werden muß, wenn man Demokratie will«, und sozialer (voller) Demokratie unterscheidet. Mit diesem nicht immer bewußten Doppelsinn des Demokratiebegriffs löst er den scheinbaren Widerspruch bei Marx und Engels auf, die die Pariser Kommune, die nach Adler »tatsächlich eine Demokratie war, als ein Beispiel der DdP hinstellten« (127). Er wendet sich jedoch kritisch gegen die in Sowjetrußland angewandten undemokratischen Methoden der DdP. - Otto Bauer (1920) nimmt eine ähnlich kritische Haltung ein, erklärt allerdings die Abweichungen von den Regeln der Demokratie in Rußland mit dem Überwiegen der Bauernschaft, der kulturellen und ökonomischen Rückständigkeit des Landes: »Der despotische Sozialismus ist das Produkt der russischen Kulturlosigkeit.« (1920, 64)

Schon zwischen den Revolutionen von 1905 und 1917 spricht Trotzki von der DdP in Rußland. 1923 erklärt und rechtfertigt er die Repressalien und den roten Terror als notwendige Gegenwehr einer Revolution gegen die bisher herrschende Klasse, die sich mit ihrer Entmachtung nicht abfindet, sondern auf ihre Rückkehr an die Macht hofft und hinarbeitet; er sieht den Terror also als eine vorübergehende Maßnahme gegen die Bourgeoisie an: »Der Terror ist machtlos [...], wenn er von der Reaktion gegen eine historisch aufsteigende Klasse angewandt wird. Aber gegen eine reaktionäre Klasse in Anwendung gebracht, die nicht den Schauplatz verlassen will, kann der Terror sehr wirksam sein. Die Abschreckung ist ein machtvolles Mittel der Politik, der internationalen wie der inneren. Der Krieg ist ebenso wie auch die Revolution auf Abschreckung begründet. Der allgemeinen Regel nach vernichtet der siegreiche Krieg nur einen unbedeutenden Teil der besiegten Armee, die übrigen schreckt er ab und bricht so ihren Willen. Ebenso wirkt die Revolution: sie tötet Einzelne und schreckt Tausende ab.« (1923, 64) In den Sowjets sieht Trotzki dann Organe der Demokratie, die viel umfassender und unmittelbarer als Arbeiterpartei und Gewerkschaften die Massen vertreten und zugleich mobilisieren. Nach der militärischen, ökonomischen und politischen Konsolidierung könne die DdP eingeschränkt, abgebaut, durch mehr Demokratie ersetzt werden.

Stalin hat der marxistischen Theorie in der Frage der DdP keine neuen Gedanken hinzugefügt. 1926 definiert er sie so: »Die DdP ist ein Klassenbündnis des Proletariats und der werktätigen Massen der Bauernschaft zum Sturze des Kapitals, zum endgültigen Sieg des Sozialismus unter der Bedingung, daß die führende Kraft in diesem Bündnis das Proletariat ist« (FL, 145). Als Generalsekretär der KPdSU hat er mit seiner Führungsgruppe nach der Liquidierung der Bourgeoisie und der Großgrundbesitzer als Klasse die Machtmittel des Staates und der Partei gegen seine wirklichen oder möglichen politischen Gegner in den Führungsorganen von Armee, Staatsverwaltung, Wirtschaft, Partei, Zentralkomitee eingesetzt und diese erfahrenen Kommunisten größtenteils physisch liquidiert. Die theoretische Verbrämung liefert die unbewiesene Behauptung, nach dem Sieg des Sozialismus verschärfe sich der Klassenkampf; er erklärt seine opponierenden Parteigenossen zu Agenten des Kapitalismus, des deutschen Faschismus usw. - Die Methoden der Stalin-Ära in der SU wurden von den dort Herrschenden mit DdP gleichgesetzt.

3. Aus ganz anderen Erfahrungen und Erwägungen bekannten sich die kommunistischen Parteien der kapitalistischen Länder zur DdP. Das friedliche Hineinwachsen in den Sozialismus, der reformistische Weg, hatte sich als Irrweg erwiesen. Mit Hilfe der SPD war die Novemberrevolution 1918 behindert worden und schließlich zur Restauration der militärisch geschlagenen Kapitalistenklasse verkommen. Bürgerliche Demokratie erwies sich zwar als günstigster Kampfboden für die Arbeiterklasse, jedoch keineswegs als unüberwindlicher Schutzwall gegen den Faschismus in seiner brutalsten Form. Die bürgerlich-parlamentarische Demokratie verwirklichte sich in keinem hochindustriellen Land in der idealtypischen Form, die die Sozialdemokraten zur Grundlage ihrer Strategie gemacht hatten. Am allgemeinen und gleichen Wahlrecht vorbei setzten sich die herrschenden sozialen Kräfte in folgender Form durch: die »Wirtschaftsführung« mit ihren Lobbies im vorparlamentarischen Raum, Militär, Staatsbürokratie (Justiz, Polizei, Geheimdienst), Presse und Medien, schließlich ein Wahlrecht und eine Wahlkreiseinteilung, die den Stimmen der städtischen Arbeiterschaft ein geringeres Gewicht zusprachen. Die Partei, die die Interessen der (werktätigen) Mehrheit formulierte, konnte nur selten die parlamentarische Mehrheit erringen. Die Bourgeoisie erwies sich in den meisten Ländern als nicht bereit zu gesellschaftlichen Reformen und als unfähig, deren Notwendigkeit zu erkennen und zu akzeptieren. Eher versuchte sie, in Krisenlagen Reformen rückgängig zu machen. Zu diesen Erfahrungen kam die zuerst uneingeschränkte Bewunderung der Linken für den Sieg und die Selbstbehauptung der russischen Revolution. Allerdings waren die Vorstellungen, wie die DdP zu realisieren sei, durchaus verschieden und von der sowjetischen Realität unterschieden.

Vor allem bei deutschen Marxisten wirkte Rosa Luxemburgs vorausahnende Kritik nach, und sie suchten nach spezifischen Formen der DdP, die die allgemeingültigen Lehren der russischen Revolution mit der langen demokratischen Erfahrung der deutschen Arbeiterbewegung zu einer Synthese verbinden sollten. So nennt die Plattform der KPD-Opposition u.a. folgende, »bereits heute voraussehbare besondere Züge für eine deutsche sozialistische Räterepublik: [...] Die aktive Beteiligung der gesamten werktätigen Bevölkerung an der Regierung und Verwaltung des Rätestaates wird vermöge der langen Schule und Selbstverwaltung der proletarischen Massenorganisationen sofort verwirklicht werden. Dies schließt ein die größte Beschränkung der rätestaatlichen Bürokratie und ihre weitestgehende Kontrolle durch die werktätige Bevölkerung. Das Ziel der vollen Beseitigung einer staatlichen Bürokratie wird daher in Deutschland schnell erreicht werden können. Die proletarische Diktatur verwirklicht die proletarische Demokratie, d.h. die Demokratie der ungeheuren Mehrheit der Bevölkerung. Die proletarische Diktatur kennt zum Unterschied von der bürgerlichen Demokratie keinen von der Volksmasse getrennten und sie unterdrückenden Staatsapparat. Der Staatsapparat der proletarischen Diktatur beruht auf der Selbstbetätigung der Volksmassen und ihrer Organisationen. Die Räte vereinigen vollziehende, gesetzgebende und richterliche Gewalt. Sie sind eine arbeitende Körperschaft Die gewählten Vertreter sind jederzeit abberufbar. Der Staatsdiener wird nach den Sätzen der Arbeiterlöhne bezahlt.« (1930, 30)

Die offiziellen kommunistischen Parteien außerhalb der Sowjetunion waren faktisch bis zum 20. Parteitag der KPdSU 1956 bereit, die Herrschaftsformen und -methoden der Stalin-Ära mit der DdP gleichzusetzen und sich weitestgehend mit diesen zu identifizieren. Dies allerdings führte in zahlreichen Krisensituationen zu organisierten Abspaltungen, Ausschlüssen, individuellen Austritten (spanischer Bürgerkrieg, Moskauer Prozesse, Stalin-Hitler-Pakt).

Stalin und die von seiner Gruppe beherrschte Kominternführung modifizierten ihr Bekenntnis zur DdP nach den jeweiligen Bedürfnissen der sowjetischen Außenpolitik, die in zunehmendem Maße die Strategie der Komintern bestimmten. So wurde in China in den 1920er Jahren, in Spanien in den 30er Jahren auf die Verwirklichung der DdP explizit verzichtet. In den 1945 von der Roten Armee eroberten Ländern Ost-, Südost- und Zentraleuropas wurden »Volksdemokratien« installiert und mit fadenscheinigen Tricks die kommunistische Herrschaft und die soziale Transformation verschleiert.

4. Dem engen Schulterschluß und der vorbehaltlosen Identifikation der kommunistischen Parteien mit der KPdSU bis 1953 folgte nach 1956 eine schrittweise Lockerung der engen Bindungen und schließlich der Verzicht auf die DdP in den Ziel- und Strategieprogrammen zahlreicher Parteien. Damit sollte nach außen eine Distanzierung vom sowjetischen Modell des Sozialismus demonstriert werden. Aber auch die Taktik wurde wesentlich verändert und dem Reformismus angenähert: Teilnahme an den bürgerlichen, Z.T. von der Besatzung eingesetzten und kontrollierten Regierungen in Italien, Frankreich, den drei deutschen Westzonen, Versuch des historischen Kompromisses mit den Christdemokraten Italiens.

E.Kardelj, Theoretiker der jugoslawischen Kommunisten, die durch Bürgerkrieg und militärischen Sieg an die Macht gekommen waren, lehnte in einer Rede in Oslo am 8. Oktober 1954 implizit »für eine ganze Reihe von Ländern« den revolutionären Weg zur Macht ab. W.Harich meinte, »daß der westeuropäische Sozialismus den Kapitalismus in friedlicher Weise ablösen wird« (zit. n. Hillmann 1967, 191). Luciano Gruppi, längere Zeit verantwortlich für die Ideologie im ZK der KP Italiens, lehnte es 1964 ab, Lenins Konzeptionen vom Staat und der DdP als unantastbar und allgemeingültig anzuerkennen. P. Togliatti (1967) bekannte sich ausdrücklich zu einem Parteitagsdokument der KPI, in dem die Rede davon ist, daß »sich der Arbeiterklasse und dem Volk die ge- schichdiche Aufgabe stellt, den Aufbau des Sozialismus vorzunehmen und dabei einen neuen Weg zu bese hrei ten, der sich von der Methode der Errichtung der DdP unterscheidet« (374). Noch als Chefredakteur der theoretischen Zeitschrift der KPÖ wollte Franz Marek 1966 die Konzeption der DdP nicht mehr anwenden, weil sie »nach den Enthüllungen über die Verbrechen zu Stalins Zeit« diskreditiert sei und »auch von den jungen Menschen mit Terrorherrschaft und Polizeiwillkür identifiziert« werde. Die Programme westeuropäischer kommunistischer Parteien haben nach und nach das Bekenntnis zur DdP fallen lassen, besonders deutlich die KP Schwedens, die sich unter der Führung von C.H. Hermansson in Linkspartei umbenannt hat, als sie 1967 ihr neues Programm publizierte.

Diese Neuorientierung geht für Marxisten der alten Schule, zumal mit den deutschen historischen Erfahrungen, zu weit. Es erscheint wichtiger, die Fehler offenzulegen, wenn man das Vertrauen wiedergewinnen will, das durch die jahrzehntelange Identifikation mit dem Stalin-Kults verlorenging. Der Zusammenbruch der sozialistischen Staaten in Europa und die Zerstörung der SU 1989/90 bestätigen eher die Kritik von Rosa Luxemburg als die des Revisionismus.

Bibliographie: M.Adler, Demokratie und Rätesystem, Wien 1919; ders., Die Staatsauffassung des Marxismus, Wien 1922, Darmstadt 1964; O.Bauer, Bolschewismus und Sozialdemokratie, Wien 1920 (wieder in: WA 4,223-357) U.Bermbach und ENuscheler (Hg.), Sozialistischer Pluralismus, Hamburg 1973; »Eine sozialistische Alternative - Programmentwurf der KP Schwedens«, in: Ostprobleme 14,14.7.1967, 396ff; L.Gruppi, »Die Thesen Lenins und Engels’ über den Staat«, in: Ostprobleme, 1964, 662-66; G.Hillmann, Selbstkritik des Kommunismus. Texte der Oppositionen, Reinbek 1967; K.Kautsky,»Die neue Taktik«, in: NZ, 1912, XXX, II, 654-64, 688-98, 723-33; ders., Die Diktatur des Proletariats, Wien 1918; ders., Der Weg zur Macht. Politische Betrachtungen über das Hineinwachsen in die Revolution, Berlin 1920; ders., Die proletarische Revolution und ihr Programm, Stuttgart 21922; W. Leonhard, »Diktatur des Proletariats«, in: MiS, Grundbegriffe, 1, 1966, 86-103; F. Marek, »Probleme der kommunistischen Parteien Westeuropas«, in: Weg und Ziel, 11.11.1965, Wien; A.Pannekoek, »Massenaktion und Revolution«, in: NZ, 1912, XXX, II, 541-50,585-93, 609-16; P.Togliatti, »Für eine demokratische Regierung der werktätigen Klassen«, in: ders., Reden und Schrften, hgg. v. C.Pozzoli, Frankfurt/M 1967, 124-34, zit. n. Bermbach/Nuscheler, 368-77; L.Trotzki, Die Grundlagen der Revolution, Hamburg 1923; Was will die KPD-Opposition? Berlin31930.

Theodor Bergmann

→ Absterben des Staates, Arbeiter-/Bauernstaat, Austromarxismus, Bürgerkrieg, bürgerliche Revolution, Demokratie, Demokratie/Diktatur des Proletariats, demokratischer Sozialismus, despotischer Sozialismus, dritter Weg, Erziehungsdiktatur, Gewalt, historischer Kompromiß, Kautskyanismus, Legalität, Novemberrevolution, Pariser Kommune, Parlamentarismus, Rätekommunismus, Revolution in einem Land, russische Revolution, sozialdemokratische Sowjetkritik, Staatsmacht, Staatsterrorismus, Stalinismus, Volksdemokratie, Volksfeind