Historisch-kritisches Wörterbuch des Marxismus

Publikation HKWM Engelsismus

Ist der Marxismus eher das Werk von Friedrich Engels als von Karl Marx? Was ist Engels' Beitrag zum Marxismus, abgesehen von den Mythen, die sich um seine Person gebildet haben? Inwieweit hat Engels' populäre Darstellung des historischen Materialismus auch zu dessen Abdriften in den Positivismus geführt?

Information

Reihe

HKWM

Autor

Sven-Eric Liedman,

Erschienen

Oktober 2024

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Das Historisch-kritische Wörterbuch des Marxismus (HKWM) ist ein marxistisches Lexikon, das nach seiner Fertigstellung 15 Bände und über 1.500 Einträge umfassen wird. Von den bisher erschienenen neun Bänden in deutscher Sprache sind seit 2017 zwei Bände in chinesischer Sprache herausgegeben worden. Im Frühjahr 2019 hat die Rosa-Luxemburg-Stiftung gemeinsam mit dem HKWM-Team die «Internationalisierung» des Lexikons auf Englisch und Spanisch vorangetrieben, um eine neue Generation marxistischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus der ganzen Welt für das Projekt zu gewinnen und seine Leserschaft und Reichweite zu vergrößern. Der unten stehende Eintrag ist Teil einer Auswahl dieser Übersetzungen, die auf unserer Website zur Verfügung gestellt werden. 

Weitere Informationen über das Projekt und andere übersetzte Lexikon-Einträge finden sich in unserem HKWM-Dossier.

A: fikr ingilz. – E: engelsianism. – F: engelsianisme. – R: ėngel’sizm. – S: engelsianismo. – C: Engesi zhuyi    恩格斯 主义

In gewisser Hinsicht ist das, was man seit etwa 1890 allgemein als »Marxismus« bezeichnet hat, mehr eine Schöpfung von Friedrich Engels als von Karl Marx, so dass Arnold Künzli sagen konnte, der Ausdruck »E« wäre eigentlich treffender (Hirsch 1968, 95). Die Schriften, die von den Sozialisten allgemein studiert wurden, waren der Anti-Dühring und seine Kurzfassung Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft viel mehr als Das Kapital. Es ist Engels und nicht Marx, der eine Weltanschauung, angeblich marxistisch, entwickelt hat. Für die Arbeiterführer und sozialistischen Theoretiker war Engels in den ersten Jahren der II. Internationale die unbestrittene Autorität, eben das Orakel, das man in allen theoretischen und politisch-strategischen Angelegenheiten um Rat fragen konnte. Es ist also notwendig, den E im Marxismus kenntlich zu machen. »Ist es doch eine offene Frage« wie Heinz Maus festgestellt hat, »ob Engels' populäre Darstellung des historischen Materialismus, die die Theorie breiten Kreisen erst erschloss, sie nicht auch, unbeabsichtigt gewiss, an den herrschenden Positivismus annäherte und damit Bernsteins Revision des Marxismus ebenso wie dem Austromarxismus und dem Diamat, dem Positivismus sowjetischer Observanz, den Weg bereitete: der sei's ethisch, sei's szientifisch verbrämten Anpassung ans just Bestehende.« (1981, 367)

Der orthodox marxistisch-leninistische Mythos sieht Marx und Engels als geistige Zwillinge, die aus praktischen Gründen verschiedene Arbeitsaufgaben auf sich nahmen. Es war demzufolge Engels, der der große Popularisator der gemeinsamen Lehre wurde, als Marx sich schon mit der Aufgabe der Ausarbeitung der grundlegenden Theorie im Kapital beschäftigte. Oft hat man dabei auf eine Äußerung von Engels hingewiesen, wo dieser erklärt: »Infolge der Teilung der Arbeit, die zwischen Marx und mir bestand, fiel es mir zu, unsere Ansichten in der periodischen Presse, also namentlich im Kampf mit gegnerischen Ansichten, zu vertreten, damit Marx für die Ausarbeitung seines großen Hauptwerkes Zeit behielt. Ich kam dadurch in die Lage, unsere Anschauungsweise meist in polemischer Formel, im Gegensatz zu anderen Anschauungsweisen, darzustellen.« (MEW 21, 328)

Es gab Gründe für diese Verteilung der Aufgaben. Marx war tiefer und schöpferischer als Engels; für Engels war es auch kein Zufall, dass es Marx und nicht er war, der die grundlegenden Entdeckungen des Kapitals machte. Marx konnte sich jahrelang in einem Problem oder in einem empirischen Material vertiefen, während Engels sich schneller in einem neuen Studiengebiet orientieren konnte. Es war Engels, der zuerst die neue Nationalökonomie kritisch bearbeitete; seine Umrisse zu einer Kritik der Nationalökonomie erschienen 1844 und wurden für Marx ein Ausgangspunkt seiner eigenen Kritik der politischen Ökonomie. Engels gehörte auch mit seiner einflussreichen und in vieler Hinsicht hervorragenden Untersuchung Die Lage der arbeitenden Klassen in England (1845) zu den Pionieren der empirischen Soziologie. Hier vereinigt er scharfe Beobachtungen mit detaillierter Klassenanalyse und großzügigen, nicht selten allzu großzügigen Schlussfolgerungen. Seine intellektuelle und wissenschaftliche Kapazität wird durch dieses Jugendwerk bewiesen.

Früher als Marx sah Engels auch die Bedeutung der modernen Naturwissenschaften für Geschichtstheorien. Politisch wie strategisch war er ein rascher und guter Beurteiler. Marx schreibt ihm am 4. Juli 1864: »Du weißt, dass alles 1. bei mir spät kommt, und 2. ich immer in Deinen Fußstapfen nachfolge.« (MEW 30, 418) Die marxsche Langsamkeit bedeutete jedoch auch größere Sicherheit und wissenschaftliche Originalität. Wenn er endlich zum Ende einer Forschungsarbeit gekommen war, war das Resultat immer bemerkenswert. Engels dagegen mischte nicht selten geniale Gedanken mit Plattheiten. Marx mit seiner Langsamkeit war ihm dabei kein guter Kritiker.

Marx komponiert seine Werke – vor allem Das Kapital – in einer sinnreichen, wirklich dialektischen Weise. Engels dagegen benutzt immer eine einfache Komposition in seinen Schriften, in der die Themen in einer allgemein verständlichen Weise aufeinander folgen. Er war immer ein guter Pädagoge und Popularisator, aber er konnte oder wollte sich nicht jahrelang mit ein und demselben Problem beschäftigen. Vereinfachungen waren ihm nicht fremd, und darum waren auch seine Schriften - anders als die von Marx - Vorbilder für diejenigen »Handbücher des Marxismus« bzw. des ML, die eine so negative Rolle in der Arbeiterbewegung und in den real­sozialistischen Ländern gespielt haben. Weit entfernt davon, geistige Zwillinge zu sein, waren also Marx und Engels zwei deutlich verschiedene Typen von Denkern und Verfassern.

Man muss unmittelbar hinzufügen, dass Engels auch eine tiefe Einsicht in die grundlegenden marxschen Auffassungen besaß. In der Literatur hat sich dem Mythos von den beiden geistigen Zwillingen ein anderer Mythos entgegengesetzt, der des tragischen Irrtums (»tragic deception«, Norman Levine) von Engels in Bezug auf die marxsche Auffassung. Nach dieser Version hat Engels alle grundlegenden Konzepte von Marx durch und durch missverstanden, was jedoch nicht zutrifft. Unter »materialistischer Geschichtsauffassung« verstanden beide etwas ganz Ähnliches; beide haben ja auch das Programm einer solchen in DI gemeinsam entworfen. Was Engels über die Einschränkungen dieser Auffassung in seinen Altersbriefen sagt, stimmt mit dem, was Marx – ohne dass Engels etwas davon wusste – vor allem in der Einleitung zu den Grundrissen geschrieben hat, überein. Dass die Basis nur in letzter Instanz bestimmend sei (an Bloch 21./22. Sept. 1890; MEW 37, 462) ist mit Marx' Äußerungen über das komplizierte Verhältnis zwischen Produktion, Distribution, Austausch und Konsumtion - wo der Produktion eben diese Rolle zugeschrieben wird ganz vereinbar.

In der Auffassung von der materialistischen Methode gibt es dagegen gewisse typische Verschiedenheiten. So sagt Marx in einer wichtigen Fußnote in KI: »Es ist in der Tat viel leichter, durch Analyse den irdischen Kern der religiösen Nebelbildungen zu finden, als umgekehrt, aus den jedesmaligen Lebensverhältnissen ihre verhimmelten Formen zu entwickeln. Die letztere ist die einzig materialistische und daher wissenschaftliche Methode.« (MEW 23, 393) Hier setzt Marx offenbar nur eine Richtung von ›unten‹ nach ›oben‹ voraus. Engels dagegen unternimmt auch Analysen ›von oben‹, z.B. wenn er die verschiedenen Rechtsverhältnisse behandelt. Programmatisch schreibt er am 14. Juli 1893 an Mehring, dass Marx und er »das Hauptgewicht auf die Ableitung der politischen, rechtlichen und sonstigen ideologischen Vorstellungen und durch diese Vorstellungen vermittelten Handlungen aus den ökonomischen Grundtatsachen gelegt haben und legen müssen. Dabei haben wir die formelle Seite über der inhaltlichen vernachlässigt: die Art und Weise, wie diese Vorstellungen etc. zustande kommen.« (MEW 39, 96) Es handelt sich hier um zwei teilweise verschiedene Strategien. Hier kann man nicht unbedingt sagen, dass Marx ›tiefer‹ und Engels ›oberflächlicher‹ sei. Was Engels in Aussicht stellt, ist von einer materialistisch aufgefassten strukturalistisch-semiotischen Analyse nicht prinzipiell verschieden. Marx scheint dagegen keine originäre Textanalyse vorzunehmen.

Dass Engels' Einsichten in Marx' grundlegende ökonomische Theorien sehr tief waren, wird schon dadurch bestätigt, dass er auf ausgezeichnete Weise den zweiten und – was viel schwieriger war – den dritten Band des Kapitals vollenden konnte. Seine Zusammenfassungen der grundlegenden Gedanken dieser Theorie sind immer klar und prägnant, freilich auch ›geschlossener‹ und damit weniger reich an Ideen als die von Marx.

Einer weit verbreiteten Ansicht gemäß war Engels' Auffassung der gesellschaftlichen Entwicklung mehr naturalistisch geprägt als die von Marx. Während Marx oft z.B. von einer zukünftigen Zerstörung des Staatsapparates spricht, zieht Engels es vor, diesen Prozess in Analogie zu einem Naturprozess zu beschreiben. Engels' Revolutionsbegriff war mehr von den evolutionistischen Gedankengängen des 19. Jh. geprägt. Andererseits ist Engels sich der aktiven Seite des Gesellschaftsprozesses wohl bewusst. Viel wichtiger für die Beurteilung von Engels sind seine Bestrebungen, eine allgemeine Dialektik einschließlich einer Dialektik der Natur zu entwickeln. Einerseits sucht er dabei das Verhältnis zwischen den marxschen und anderen wissenschaftlichen Theorien der Gegenwart zu bestimmen. Andererseits beabsichtigt er, eine materialistische Ontologie, eine Weltanschauung, in der die materialistische Geschichtsauffassung als eine Nabe funktioniert, zu entwickeln.

Das Energieprinzip, die darwinsche Selektionstheorie und andere epochemachenden neuen Kon­zeptionen des 19. Jh. haben dabei sein Interesse geweckt. Spätestens seit Ende der 1850er Jahre, als der hervorragende Chemiker Carl Schorlemmer sein Freund und Berater wird, verfolgt er ziemlich genau die Entwicklung in den Naturwissenschaften wie sie sich in populären Zeitschriften (Nature) und Büchern verfolgen lassen. Erst 1873 wird ihm klar, dass er eine allgemeine Dialektik entwickeln will. Die wichtigsten Resultate dieser Bestrebungen sind AD (1878) mit der Kurzfassung Utopie (urspr. frz., 1880), vor allem aber DNeine Sammlung von Notizen, Exzerpten, vollständigen Buchkapiteln und Aphorismen, die, abgesehen von einigen späteren Notizen, in der Periode 1873 bis 1882 entstanden, doch erst 1925 unter dem zutreffenderen Titel Dialektik und Natur erschienen sind.

Für Engels war die Ausarbeitung einer allgemeinen Dialektik von sehr großer Bedeutung. Marx war freundschaftlich ermutigend, aber nicht eigentlich engagiert. Für Engels handelte es sich um die Entwicklung einer Gesamtkonzeption; es war eine grandiose Absicht, deren Verwirklichung weit über die Grenze des Möglichen hinaus ging. Das unvollendete Resultat der Bemühungen ist weit entfernt von einer Einheitlichkeit; es gibt verschiedene Tendenzen, vor allem eine positivistische im Sinne Comtes und Spencers, eine vulgär-hegelianische und eine nicht-reduktivmaterialistische. Engels' Positivismus drückt sich vor allem in den Bestrebungen aus, allgemeingültige Gesetze aller Wirklichkeitsgebiete aufzustellen, zudem in der Verabsolutierung der Wissenschaft selbst. Den Einfluss Hegels sieht man z.B. in seinen Ideen von Denkgesetzen, die der realen Entwicklung entsprechen, während dagegen die dritte Tendenz mehr mit den allgemeinen Gedankengängen der marxschen Theorie in Übereinstimmung steht und interessanter ist. Will man Engels wohlwollend beurteilen, kann man sagen, dass diese dritte Tendenz seiner eigentlichen Intention entspricht. Er sagt ganz klar, dass das Lebendige zum Leblosen, die Menschen zu den Affen, die Gedanken zu den Hirnprozessen, der Überbau zur Basis, die späteren geschichtlichen Epochen zu den vorhergehenden nicht in einem Verhältnis der Reduktion stehen. Damit ist der Ausgangspunkt einer nicht sehr bestimmten, gleichwohl fruchtbaren Anschauung skizziert.

Dazu muss man hinzufügen, dass erstens seine Schriften weit mehr enthalten und zweitens der Gebrauch, den man von AD und der DN in der SU und dann in der ganzen ‘realsozialistischen’ Welt gemacht hat, meistens in eine andere Richtung ging. Dort ging es vor allem darum, einen vermeintlich marxistischen wissenschaftlich-sozialistischen Katechismus zu entwickeln, dessen vorrangige Aufgabe es war, ein fertiges Schema, das auf allen menschlichen und wissenschaftlichen Gebieten anwendbar war, zu liefern. Dafür war Engels natürlich nicht persönlich verantwortlich, doch kommen seine Schriften einem solchen Gebrauch entgegen.

Eine Hauptrolle spielten dabei die sog. drei dialektischen Gesetze, die in den Schriften von Engels eine dramatische Rolle spielen. Diese Konzeption ist ganz undialektisch. Ihr Ursprung ist überraschend; er liegt im Kapital, in dem Marx bezüglich des Übergangs vom Handwerk zur Manufaktur sagt: »Hier, wie in der Naturwissenschaft, bewährt sich die Richtigkeit des von Hegel in seiner ‘Logik’ entdeckten Gesetzes, dass bloß quantitative Veränderungen an einem gewissen Punkt in qualitative Unterschiede umschlagen.« (MEW 23, 323) Diese Äußerung, die übrigens nicht ganz korrekt ist, da Hegel in diesem Zusammenhang nicht von einem »Gesetz« gesprochen hat, wird, wie auch eine Stelle, wo Marx von einer Negation der Negation spricht (MEW 23, 791), heftig von Eugen Dühring angegriffen. Aufgefordert von Wilhelm Liebknecht u.a., nimmt Engels es widerwillig an, Marx gegen den Angriff zu verteidigen. Erst jetzt taucht der Begriff eines dialektischen Gesetzes in seinen Notizen und Aufzeichnungen auf. Er spielt mit verschiedenen Möglichkeiten. In AD (MEW 20) spricht er eigentlich nur von zwei Gesetzen (den beiden, die Dühring angegriffen hat: Umschlag von Quantität in Qualität, 111ff, und Negation der Negation, 120ff). In einem anderen dieser Entwürfe, der in die Dialektik der Natur eingegangen ist, spricht er von drei solchen Gesetzen (MEW 20, 348); dieser wird in den 1920er Jahren als maßgebend bezeichnet, und so bekommen die stalinistischen Handbücher ihre drei Gesetze, welche als Kern des dialektischen Materialismus angesehen werden. Für Engels dagegen waren sie so wenig wichtig, dass er, als er in LF seine Lehre zusammenfasst, von keinerlei dialektischen Gesetzen spricht. Der Begriff ist bei ihm wieder verschwunden.

Seiner Hauptambitionen ungeachtet ist der Einfluss von Engels' materialistisch-dialektischen Be­strebungen hauptsächlich negativ. Ungeachtet dessen sind positive und interessante Einschläge der engelsschen Schriften festzuhalten; sie enthalten gute Heilmittel gegen allerhand Idealismus und Aberglaube.

Heilsamer aber auch vergänglicher war seine Bedeutung für die jungen sozialistischen Massen­bewegungen der 1890er Jahre. Als die führenden Sozialdemokraten ihn um Rat baten, warnte er konsequent vor putschistischen Abenteuerlichkeiten, aber auch vor abnehmendem oder wachsendem Radikalismus. Die Wahlerfolge besonders der SPD erfüllten ihn mit wachsendem Optimismus. Mehrmals äußerte er die Meinung, die Arbeiterpartei würde wegen der bloßen Mehrheit der Arbeiter die Majorität des Parlaments erobern und dann eine sozialistische Gesell­schaft aufbauen können. Hundert Jahre später ist es einfach, ihn des mangelnden Verständnisses der gesellschaftlichen Dialektik zu beschuldigen. Doch tun derartige Anschuldigungen gerade das, was sie Engels vorwerfen: sie vollführen einfache Extrapolationen aus gegenwärtigen Entwicklungsvorgängen.

Merkwürdiger scheint dagegen Engels' Auffassung, »die Armee, früher das preußischste Element des Landes«, werde »gegen 1900«, weil aus einer Mehrzahl von Arbeitern bestehend, »in ihrer Majorität sozialistisch sein« (MEW 22, 240). Engels war ja ein hervorragender Experte der Militärmacht und des Krieges, noch heute auch von konservativen und liberalen Militärtheoretikern hoch geschätzt. In sozialistischen Kreisen wurde er »der General« genannt. Er verfolgte die kriegerischen Vorgänge der Gegenwart mit großer Aufmerksamkeit, und seine Schlussfolgerungen waren fast immer treffend. Andererseits war er, wie übrigens auch Marx, in der »Kriegslogik« des clausewitzschen Diktums befangen, der Krieg sei die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln. Für ihn wie für die große Mehrzahl der Marxisten bedeutete dies, dass die Revolution wie der Klassenkampf überhaupt ein kriegerisches Geschäft war. Der offene, blutige Kampf war das notwendige Mittel, um das Endziel, die friedliche kommunistische Gesellschaft, zu erreichen. Wenn nicht, müssen die Sozialisten die Armee von innen erobern; auch in diesem Fall ist die Bewältigung der Kriegsmaschine notwendig, um den Sozialismus realisieren zu können. Eine überwältigende Erfahrung besagt dagegen seither, dass die militärischen Mittel immer dazu tendieren, das ganze sozialistische Projekt zu beherrschen; jenseits eines Kommandostaates mit militärischer Disziplin verschwindet die klassenlose Gesellschaft wie eine unerreichbare Utopie.

Die Aufgabe, Engelsismus von Marxismus zu unterscheiden, ist nicht unmittelbar einfach. Um dem Begriff Engelsismus überhaupt einen Sinn zu geben, muss man von der vermeintlich marxistischen Tradition das und nur das isolieren, was unzweifelhaft nicht auf Marx, sondern auf Engels zurückzuführen ist. Vieles, was in der Literatur darüber gesagt wird, ist falsch. Es war nicht Engels (und auch nicht Hegel), sondern Marx, der zuerst den Begriff eines »dialektischen Gesetzes« einführte. Bei Marx wie bei Engels gibt es Einschläge von übertriebenem Wissenschaftsglauben, Naturalismus und Positivismus im Sinne des mittleren 19. Jh.; zugegebenermaßen sind diese Einschläge bei Engels viel stärker. Einen wichtigen Unterschied gibt es jedoch: bei Engels, nicht bei Marx, finden wir das Bestreben, allumfassende Theorien, philosophische Systeme oder Weltanschauungen zu konstruieren. Oder direkter ausgedrückt: es ist Engels und nicht Marx, der in den Marxismus die verhängnisvolle Tendenz einführt, die besagt, dass der Marxismus als Marxismus (und der Marxist als Marxist) Antworten auf alle möglichen und unmöglichen Fragen hat oder haben soll. Diese im Grunde unsinnigen Ansprüche setzen sich nicht nur in Handbüchern des Marxismus durch. Dort sind sie sicherlich zentral: Ein Handbuch des ML gibt im Prinzip Antworten auf alle Fragen; es ist eine Enzyklopädie, und diese Enzyklopädie konnte einmal neue naturwissenschaftliche Theorien wie die Relativitätstheorie oder die moderne Genetik eine Zeit lang von der SU und ihrem Einflussbereich ausschließen. Marxismus als Antwortenautomat haben wir noch später und auch im westlichen Marxismus erfahren. In der Linkswelle der 1960er und 70er Jahre gab es wieder und wieder Richtungen und Einzelpersonen, die von einem ‘konsequenten Marxismus‹ gesprochen haben und die damit eine über alle Gebiete des Lebens und des Wissens gehende Konsequenz meinten. Darum musste es eine und nur eine marxistische Literaturauffassung oder Rechtstheorie usw. geben. Diese Denkart kam auch auf der politischen Ebene vor: Eine politische Partei muss sicherlich Meinungen über viele Fragen haben, aber hier handelte es sich um Anweisungen über ›echten Marxismus’ in allen erdenklichen Alltags- und weltpolitischen Fragen. In Ländern, wo diese Art von Marxismus nicht herrschend war, waren diese Bestrebungen oft nur lächerlich; in den ‘staatsmonopolistischen’ Sozialismen wurden sie bedrohend und oft vernichtend für persönliche Freiheit und Integrität und für gesunde politische, soziale und geistige Entwicklung.

Man muss zugestehen, dass es in Engels' Bestrebungen in dieser Richtung doch zwei positive Einschläge gab, nämlich einerseits das inständige Ringen um das theoretische und ontologische Fundament der marxschen Kernkonzeptionen und andererseits das Bestreben, dieselben Konzeptionen zu popularisieren, d.h. sie für das große Publikum zugänglich zu machen. Es ist jedoch möglich, diese wichtigen Aufgaben ohne die absolutistischen Ansprüche zu erfüllen. In der postkommunistischen Situation ist die vermeintliche Allwissenheit des Engelsismus keine Gefahr. Alle, die sich in der marxschen Tradition verstehen, müssen darauf achten, dem schlimmsten Engelsismus nicht noch einmal zu verfallen. Dagegen haben sie allen Grund, dem Besten, was Engels geleistet hat, ihre ungeteilte kritische Aufmerksamkeit zu schenken.

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Sven-Eric Liedman

→ Abbau des Staates, Absterben des Staates, Anwendung, Basis, befehlsadministratives System, bestimmte Negation, Darwinismus, Dialektik, Enzyklopädie, Evolutionismus, Freiheit, Gesetz, Ideologie, Lehrbuchmarxismus, Klassenreduktionismus, Krieg, Marxismus-Leninismus, Militär, Naturdialektik, Naturwissenschaft, Negation der Negation, Ontologie, Postkommunismus, Realer Sozialismus, Revisionismus, Revolution, Semiotik, staatsmonopolistischer Sozialismus, Stalinismus, Wechselwirkung, Weltanschauung, westlicher Marxismus