Das Historisch-kritische Wörterbuch des Marxismus (HKWM) ist ein marxistisches Lexikon, das nach seiner Fertigstellung 15 Bände und über 1.500 Einträge umfassen wird. Von den bisher erschienenen neun Bänden in deutscher Sprache sind seit 2017 zwei Bände in chinesischer Sprache herausgegeben worden. Im Frühjahr 2019 hat die Rosa-Luxemburg-Stiftung gemeinsam mit dem HKWM-Team die «Internationalisierung» des Lexikons auf Englisch und Spanisch vorangetrieben, um eine neue Generation marxistischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus der ganzen Welt für das Projekt zu gewinnen und seine Leserschaft und Reichweite zu vergrößern. Der unten stehende Eintrag ist Teil einer Auswahl dieser Übersetzungen, die auf unserer Website zur Verfügung gestellt werden.
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A: siyāsat al-huwīya. – E: identity politics. – F: politique d'identité. – R: politika identifilracii. – S: política identitaria. – C: tongyixing zhengce 同一性政策
Im Kontext der Neuen sozialen Bewegungen wurden Formen der politischen Auseinandersetzung geprägt, die individuelle und kollektive I.en zur Grundlage und zum Gegenstand politischer Aushandlungsprozesse machen. Die häufig durch Ablehnung etablierter (etatistischer/klassengebundener) Politikformen motivierte IP ist in vielfältigen Varianten um die Kategorien Ethnie und Geschlecht bzw. Sexualität zentriert. Impulse gingen von der antikolonialen Bewegung, der schwarzen Befreiungsbewegung in den USA sowie den Frauen-, Schwulen- und Lesbenbewegungen aus. Erste kritische Auseinandersetzungen erfolgten innerhalb der Frauenbewegung in den 1970er Jahren durch schwarze Feministinnen. Bedeutung gewann das Konzept auch in der Diskussion um die Organisation ethnischer und kultureller Minderheiten (Multikulturalismus). Neuere Debatten lassen den Versuch erkennen, IP im Spannungsfeld von ‘Anerkennung und Umverteilung’ zu verorten und ihr Verhältnis zu ‘Differenz’ genauer zu bestimmen. Im Kampf um Hegemoniegewinnung, Widerstand und Befreiung nimmt IP eine ambivalente Position ein: Wo zunächst die Erweiterung eines reduktionistischen Politikverständnisses auf dem Programm stand und der Gegensatz von Interessen- und IP aufgehoben werden sollte, kam es nicht selten zur Aufteilung und Zersplitterung der Bewegungen, was ihre Integration im Rahmen eines ‘pluralen’ staatlich-zivilgesellschaftlichen Machtsystems erheblich erleichtert.
1. Beginnend mit den anti-kolonialen Befreiungsbewegungen in der Mitte des 20. Jh. und dem Aufstieg der Neuen sozialen Bewegungen in den Zentren seit den späten 1960er Jahren hat IP in den politischen Auseinandersetzungen wachsendes Gewicht erhalten. Eric Hobsbawm führt ihr Auftauchen auf den Niedergang des Nationalstaates und der an Klassengegensätzen orientierten Parteien und Bewegungen sowie auf die ‘kulturelle Revolution’ im Zuge der gesellschaftlichen Transformation nach dem Zweiten Weltkrieg zurück (1996, 40). Eli Zaretsky zufolge handelt es um ein »post-68er Phänomen«, das - auf der Grundlage eines global sich wandelnden Kapitalismus mit einer Neuaufteilung von öffentlicher und privater Sphäre – aus dem Scheitern der »Neuen Linken« hervorgegangen ist (1994, 198). Für Craig Calhoun dagegen ist IP kein neues Phänomen, sondern seit Jahrhunderten zentraler Bestandteil des alltäglichen Lebens und der Politik in der Moderne (1994, 23). Wichtig für die begriffliche Fassung der neuen Politikform war die Entfaltung des I-Begriffs in den Sozialwissenschaften seit den 1950er Jahren (Gleason 1983). Während bei den traditionellen Politikformen eine gemeinsame kulturelle und/oder soziale Grundlage nicht als notwendig angesehen wird, wird sie bei der IP zum Ausgangspunkt politischen Handelns. Geschichtlich zum Tragen gekommen ist die Bezugnahme auf solche (vermeintlich) ‘primären’ (etwa ethnischen, religiösen oder nationalen) Gemeinsamkeiten als Folge von Erschütterungen und Zerstörungen traditionaler Formen kollektiver Zugehörigkeit, bes. der als unverbrüchlich wahrgenommenen Einheit des Nationalstaates, der sozialen Milieus und Klassen – in einem Moment, als »Gemeinschaften im soziologischen Sinn im realen Leben kaum noch zu finden waren« (Hobsbawm 1996, 40). Schließlich hat die kapitalistische Krise der 1970er Jahre einen Transformationsprozess eingeleitet, der zur beschleunigten Öffnung neuer globaler Waren- und Finanzmärkte führte, zur Aushöhlung der bisherigen Formen staatlicher Souveränität, zu gravierenden Umbrüchen innerhalb der Arbeitswelt und zu starken Migrationsbewegungen (v.a. der Arbeitsmigration; vgl. Hall 1994, 48f). Derartige Entwicklungen haben die Kontingenz menschlicher Existenz dramatisch gesteigert. Zygmunt Bauman zufolge nimmt das »Bedürfnis« nach Klärung individueller und kollektiver Zugehörigkeit zu, während zugleich die bislang dominanten »I-Generatoren« – die territorial gebundene Nation und der Nationalstaat (die ‘Geschlecht’ und ‘Tradition’ zu integrieren vermochten) – ihre Funktion verloren haben (1992, 692). Die »neuen« I.en seien im Unterschied dazu weitgehend unabhängig von einer spezifisch territorialen Verankerung (ebd.). Dennoch ist dies kein einheitlicher Prozess, vielmehr spielt sich gerade in der Kultur der »globalen Postmoderne« der Kampf mit einer »älteren, streitbaren, übergreifenderen, einheitlicheren und homogeneren« Konzeption von I ab (Hall 1994, 57).
2. Im Rahmen von IP werden Ansprüche auf Um- bzw. Neuverteilung von Ressourcen im weitesten Sinne (ökonomische, politische, soziale, kulturelle) gestellt. Ausgangspunkt ist der Ruf nach Anerkennung einer differenten Lebensweise, zugunsten deren Entfaltung Umverteilungsmotive abgeleitet werden (vgl. Fraser 2000, 109ff). Es ist die wahrgenommene Abwertung der ‘eigenen’ Gruppenzugehörigkeit, an der sich gesellschaftliche und politische Auseinandersetzungen und Kämpfe entzünden. Im Unterschied zu den an universalistischen Prinzipien orientierten Sozialbewegungen im Übergang vom 19. zum 20. Jh. – v.a. der Arbeiter- und der Frauenbewegung –, die Ansprüche auf Veränderungen der gesamten Gesellschaft formulierten, werden in der IP partikulare Interessen in den Vordergrund gestellt: IP ist »not for everybody, but for the members of a specific group only« (Hobsbawm 1996, 43). Mit der initialen Formulierung einer gemeinsamen I, die eine Positionierung innerhalb der bestehenden Kräfteverhältnisse ausdrückt, ist die Abgrenzung von anderen Gruppen verbunden: »Jede Bewegung appellierte an die soziale I ihrer Unterstützerinnen und Unterstützer: Der Feminismus an die Frauen, Sexualpolitik an Schwule und Lesben, Kämpfe gegen Rassismus an die Schwarzen usw. [...] – eine I pro Bewegung.« (Hall 1994, 198) Die Vorrangstellung der eigenen Interessen wird durch ein ‘emanzipatorisches Defizit’ legimitiert, dem die jeweilige Gruppe infolge einer Geschichte anhaltender Unterdrückung und Abwertung unterworfen sei.
3. IP artikuliert sich in Abgrenzung sowohl von marxistischen Traditionen der Gesellschaftsanalyse als auch von nationalstaatlich orientierten liberalen Politikmodellen. Auf der Basis sozialer und/oder kultureller Abgrenzungen werden Unterscheidungen akzentuiert, die nicht aus den vermeintlich für die Politik grundlegenden sozialen Formen – der Klasse als ökonomischem oder der Nation als politischem Herrschaftsverhältnis - abgeleitet werden können, sondern »auf Grundlage einer ‘Politisierung des Gesellschaftlichen und des Privaten’ entstanden« sind und auf »transversale Formen von Unterdrückung« verweisen (Buci-Glucksmann 1982, 46). Mitunter, etwa bei ‘Rasse’- oder ‘Geschlechts’-Konstruktionen, handelt es sich um Unterscheidungen, die (mehr oder weniger untergründig) schon für die Struktur moderner Gesellschaften zentral waren (Balibar/Wallerstein 1990, Kap. 2 u. 3; Geisen 1996), nun aber von den (ethnischen etc.) Minderheiten neu aufgegriffen und ‘positiv’ gewendet werden (z.B. im Multikulturalismus, Black Panther und Black Consciousness Movement).
Eine I kann nicht beliebig konstruiert werden, vielmehr müssen bestimmte Elemente vorhanden sein, auf die, zwischen Fremdzuschreibung und für die Gruppe bedeutsamer Selbstzuschreibung changierend, Bezug genommen werden kann. Wie Erving Goffman (1963/1975, Kap. 1) gezeigt hat, erfolgen solche Zuschreibungen aufgrund von tatsächlichen oder konstruierten Abweichungen von sozialen Normen und haben durchaus ambivalente Wirkung, da sie sowohl auf die »beschädigte I« aufmerksam machen als auch deren Existenz verstetigen (individuell und kollektiv). Mit der von Machteffekten durchzogenen diskursiven Konstruktion vollzieht sich ein Einschluss von ‘Merkmalsträgern’ in die I-Gemeinschaft, der einerseits oft erst ein Bewusstsein gemeinsamer politischer Ziele schafft, andererseits sich den Einzelnen gegenüber zwanghaft geltend macht, sofern er andere als die von der dominanten I geforderten Partizipationen ausschließt. Stuart Hall betont die Widersprüchlichkeit, die sich hinter scheinbarer Naturwüchsigkeit verbirgt: »Precisely because identities are constructed within, not outside, discourse, we need to understand them as produced in specific historical and institutional sites within specific discursive formations and practices, by specific enunciative strategies. Moreover, they emerge within the play of specific modalities of power, and thus are more the product of the marking of difference and exclusion, than they are the sign of an identical, naturally-constituted unity« (1996, 4).
Welche Dynamik die Konstruktion von ‘Zwangsgemeinschaften’ gewinnen kann, lässt sich u.a. am Beispiel der Bürgerkriege im ehemaligen Jugoslawien zeigen, wo unter gewaltbestimmten Verhältnissen mittels identitätspolitischer Mobilisierung neue ethnische Gemeinschaften entstanden sind. Eli Zaretsky unterscheidet entsprechend zwischen Bewegungen mit universalistischen Orientierungen im politischen Bereich, die jedoch auf kulturellen Unterscheidungen bestehen (etwa im Multikulturalismus), und Bewegungen, die eine vollständige Selbstbestimmung in einem separaten Staat anstreben (1994, 199).
4. Ansätze zur theoretischen Fundierung von IP im Kontext von Widerstand und Emanzipation finden sich bei den Theoretikern der anti-kolonialen Befreiungsbewegungen, bes. bei Frantz Fanon. Gegen die totale Negation der kolonialen Ausbeutung, die »totalitären Charakter« annimmt und aus dem Kolonisierten eine Art »Quintessenz des Bösen« macht, ihn »entmenschlicht« und »vertiert« (1961/1981, 34f; vgl. Memmi 1957), fordert er die Ausbildung selbstbewusster Formen »nationaler Kultur«, die sich unter Rückgewinnung alter, entwerteter Traditionen im Befreiungskampf kristallisieren (175f). Die Entwicklung einer eigenen kulturellen I und ihre gesellschaftliche Positionierung – »mich als Schwarzer durchzusetzen« (1952/1985, 83) – ist für Fanon unerlässlich, um eine Widerstandsperspektive zu entwickeln.
Hannah Arendt konstatiert – wie schon Jean-Paul Sartre in seinen Überlegungen zur Judenfrage (1946/1994, 74) – die »Unausweichlichkeit« sozialer Zuschreibungsprozesse unter Gewaltverhältnissen: »‘Wenn man als Jude angegriffen ist, muss man sich als Jude verteidigen.’ Nicht als Deutscher oder als Bürger der Welt oder der Menschenrechte oder so.« (1964/1996, 57) In der Frage der Gewalt wendet sie sich indes scharf gegen Fanon, der deren »integrierende« Wirkung betont: jeder mache sich im Aufstand »zum gewalttätigen Glied der großen Kette, der großen gewalttätigen Organisation [...], die als Reaktion auf die primäre Gewalt des Kolonialisten aufgestanden ist«; der bewaffnete Kampf wirft das Volk »in eine einzige Richtung ohne Gegenströmung« (1961/1981, 76). Für Arendt ist Gewalt lediglich ein Mittel zur Selbstverteidigung. Im Unterschied zur Macht, die der menschlichen Fähigkeit entspreche, »nicht nur zu handeln oder etwas zu tun, sondern sich mit anderen zusammenzuschließen und im Einvernehmen mit ihnen zu handeln« (1970/1995, 45), sei Gewalt »durch ihren instrumentalen Charakter gekennzeichnet« (47). Sie könne keine Gemeinsamkeiten und dauerhaften Beziehungen aufbauen, sondern zersetze die Politik selbst. Sofern IP auf vorgängigen (vielfach naturalisierten oder biologisierten) Gemeinsamkeiten und nicht auf gemeinsamen Vereinbarungen beruht, steht Arendt ihr kritisch gegenüber; wird allerdings einer sozialen Gruppe eine bestimmte I von außen (gewaltsam) zugeschrieben und werden ihre Mitglieder aufgrund dieser I angegriffen, sieht sie darin eine legitime Form der Verteidigung.
5. IP hat seit ihrem ersten Auftreten in den Neuen sozialen Bewegungen zu Formen von Institutionalisierung und Verrechtlichung geführt. Dies bes. in den USA, wo Ende der 1960er Jahre im Rahmen von »affirmative action« rechtliche Maßnahmen gegen ethnische, rassistische und sexistische Diskriminierungen eingeleitet wurden (vgl. Davis/Graham 1995, 245f). Diese fügen sich in die bestehende liberale Rechts- und Gesellschaftsordnung ein, begünstigt durch die US-Verfassungstradition und die Bürgerrechts-Urteile der 1950er Jahre (vgl. Hobsbawm 1996, 39). Vor dem Hintergrund der liberalen Aneignung von IP fällt Bell Hooks Bilanz der schwarzen US-Bürgerrechtsbewegung kritisch aus; sie konstatiert eine Verengung der ursprünglichen Zielsetzungen: »Ein Gutteil der Bürgerrechtsreform bestärkte die Menschen in ihrer Überzeugung, der Grad schwarzer Befreiung sei daran abzulesen, inwieweit Schwarze den gleichen Zugang zu den materiellen Möglichkeiten und Privilegien erlangten, die Weißen offenstanden – Arbeit, Wohnung, Schulen usw.« (1996, 56)
In Europa haben einige Länder mittels Antidiskriminierungsgesetzen versucht, die soziale Gleichberechtigung ethnischer Minderheiten voranzutreiben, u.a. die Niederlande und Großbritannien. Zur Gleichstellung von Männern und Frauen wurden vielfach Förderprogramme für Frauen eingerichtet, die (z.T. auf dem Wege der Quotierung) bestehende Mechanismen der Diskriminierung durchbrechen sollten. Auf diese Weise kann die Realisierung von (Teil-)Zielen der IP die Gesellschaft stabilisieren und die Integration marginalisierter Gruppen stärken. Deren positive Diskriminierung bedeutet oft aber auch, dass sich exklusive Formen der IP ausbilden, die zu weiterer gesellschaftlicher Segmentierung führen und bestehende Diskriminierungen vertiefen; z.T. schlagen affirmative Maßnahmen auch auf die Betroffenen selbst zurück, wie Nancy Fraser für die USA am Beispiel der stereotypen Figur der schwarzen Sozialhilfeempfängerin beschreibt, deren Sonderbehandlung gerade als Beweis des ihr ‘eigentümlichen‹ »Mangelhaften und Unersättlichen« genommen wird (2001, 58ff).
6. Eine kritische Auseinandersetzung mit IP erfolgte v.a. innerhalb der feministischen Bewegung. Ausgangspunkt war die Kritik schwarzer Feministinnen am ‘I-Postulat’ der Frauenbewegung: Demnach problematisierten feministische Gesellschaftsanalysen die Rolle von Frauen innerhalb patriarchaler Gesellschaften implizit vom Standpunkt ‘weißer’, heterosexueller Mittelschichtsfrauen und verlören darüber die Formen von Ausbeutung und Unterdrückung, denen Frauen aus anderen gesellschaftlichen Schichten unterworfen sind, sowie ihre Probleme, Forderungen und Ziele aus dem Blick oder bewerteten sie als nachrangig (vgl. Maurer 1996, 76f). Problematisiert wurde dabei auch im Sinne der These von der »Triple Oppression« (Meulenbelt 1988), ob die Unterdrückung als Frau tatsächlich gegenüber der als Angehörige einer Klasse oder Rasse im Vordergrund stehe. Doch auch »Theorien multipler I.en« können, wie Sabine Hark entgegnet, »das traditionelle, metaphysische Verständnis von I als Einheit« nicht in Frage stellen, »da das Subjekt nun zwar aus verschiedenen I.en besteht, diese jedoch immer noch als Einheiten (von ‘Rasse’, Klasse, Sexualität) gedacht werden« (1999, 58). Innerhalb von Politikmodellen, die vorgeben, Gruppen ‘angemessen’ darstellen und vertreten zu können, bleibe der Umgang mit Differenz stets problematisch, da immer die Gleichheit der Mitglieder und nicht ihre Unterschiede im Mittelpunkt stünden. »Repräsentationslogisch operierende IP ist mithin notwendig darauf gegründet, die Differenz zu verleugnen, die immer schon im Selben vorhanden ist.« (Ebd.) Als prinzipielle Kritik solcher Modelle ist die »Queer Theory« entstanden (vgl. Jagose 2001; Weed/Schor 1997), die davon ausgeht, dass die Vorstellung von Dauerhaftigkeit und Kohärenz selbst dekonstruiert werden muss und Ambivalenz und Kontingenz zum eigentlichen Inhalt von ‘I’ werden. – Vergleichbare Konzepte ‘dezentrierter’ I.en wurden in den Cultural Studies entwickelt und in der Multikulturalismusdebatte (vgl. Taylor 1993; Rex 1997) verhandelt, wobei bes. das Konzept der ‘Hybridität’ Bedeutung erlangte (Hall 1994, 206f; Bhabha 1996, 58). Homi K. Bhabha etwa macht auf die unaufhörliche Verflechtung in andere symbolische Systeme als Signum kultureller Differenz aufmerksam, wodurch eine »Logik der Intervention und Interpretation« in Gang gesetzt werde, die keine »einheitlichen oder individuellen Formen von I« kennt: »The frontiers of cultural difference are always belated or secondary in the sense that their hybridity is never simply a question of the admixture of pre-given identities or essences.« (1990, 3130
7. Im Kontext von Widerstand und Befreiung macht sich die Ambivalenz von IP bemerkbar. Emanzipatorischen Charakter entfaltet sie bes. als Reaktion auf Ausgrenzung, auf kulturelle Dominanz oder politische Unterdrückung, wie das Beispiel der anti-kolonialen Befreiungsbewegungen zeigt. Die subjektive Lage kann hier im Zuge der Befreiung der sozialen Gruppe, der das Individuum mittels Zuschreibung zugeordnet ist, zum Gegenstand und Ausgangspunkt für solidarisches Handeln werden.
In der Reaktion auf Zuschreibungsprozesse liegt aber auch die Gefahr der Essenzialisierung und fundamentalistischen Abschottung, denn IP ist i.d.R. auf biologische bzw. naturalisierte Kategorien bezogen, letztlich den Körper und seine (vermeintlichen) ‘Attribute’, wie etwa im Fall von ‘Geschlecht’; aber auch kulturelle Unterscheidungen, wie sie Multikulturalismus und Ethnizität zugrunde liegen, werden häufig als ‘Mentalität’ oder ‘Charakter’ den Körpern eingeschrieben. Rechte Sozialbewegungen, deren Ab- und Ausgrenzungsstrategien sich auf biologische, nationale und kulturelle Merkmale beziehen, haben darin eines ihrer zentralen Strukturelemente. Auch sie stellen Formen der IP dar, reklamieren allerdings kein emanzipatorisches Defizit für die einzelnen Mitglieder ihrer Bewegung, sondern für diese (die ‘Gemeinschaft’) selbst – für eine ‘selbstgenügsame’ und unhinterfragbare ‘organische’ Einheit, der sich die Einzelnen unterzuordnen haben. Bes. in der neueren Theorieentwicklung innerhalb der so genannten Neuen Rechten (z.B. de Benoist 2001, 237) finden sich verstärkt Muster von auf IP beruhenden Anerkennungsformen (Ethnopluralismus). – IP ist damit stets der Gefahr ausgesetzt, Anknüpfungspunkte für »biopolitische« Konzeptionen (vgl. Foucault 1992; Magiros 1995) zu bieten.
Insgesamt verbleibt die über IP vollzogene Integration marginalisierter sozialer Gruppen weitgehend auf der Ebene der kulturellen Repräsentation und führt kaum zur grundlegenden Aufhebung politischer, ökonomischer und sozialer Marginalisierung. Die »bloße positive Umdeutung einer stigmatisierten I« lässt nicht nur »das Beherrschungsprinzip dahinter unangetastet«, sondern gibt mithin »den Zusammenhang zur Befreiung aller auf« (Koppert 1996, 120). Gerade im Kontext kapitalistischer Konkurrenzgesellschaften wächst so die Gefahr unhinterfragbarer Gemeinschaftspolitiken auf Grundlage kohärenter I.en. Wenn »die Artikulation kohärenter I zu ihrem [der IP] eigenen Politikgehalt wird, dann nimmt die
Überwachung von I.en die Stelle einer Politik ein, in der die I dynamisch im Dienst eines größeren kulturellen Kampfs für die Neuartikulation und Ermächtigung von Gruppen steht, eines Kampfes, der versucht, die Dynamik der Verwerfung und des Ausschlusses zu überwinden, mit der ‘kohärente Subjekte’ geschaffen werden« (Butler 1997, 168). Die stets gegenwärtige Gefahr der Übernahme (gewaltsam) zugeschriebener I-Modelle und der Erstarrung darin kann nur vermieden werden, wenn es gelingt, im Bewusstsein der Veränderlichkeit von I.en politische Gemeinsamkeiten zu formulieren, die sich gegen gesellschaftliche Ausschließung richten und zur konkreten Veränderung sozialer und politischer Verhältnisse beitragen.
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Thomas Geisen
→ Anerkennung, Antikolonialismus, Befreiung, Black Marxism, Emanzipation, Ethnie/Ethnizität, Frauenbewegung, Fundamentalismus, Gemeinschaft, Geschlecht, Gewalt, Identität, Independent Living, Klassenreduktionismus, kollektives Handeln, Konformismus, Kontingenz, Kulturalismus, Lesbenbewegung, Macht, Migration, Minderheiten, Multikulturalismus, Nation, nationale Identität, Nationalstaat, Neue Linke, Neue Rechte, neue soziale Bewegungen, Politik außerhalb des Staates, privat/ gesellschaftlich, Queer Theory, Quotierung, Rasse und Klasse, Schwulenbewegung, Selbstbestimmung, Selbstorganisation, Sexualität, soziale Bewegungen, Universalismus, Unterdrückung