Die Wahlen zur 5. Staatsduma markierten einen neuen Abschnitt in der Entwicklung des modernen russischen Parlamentarismus. Erstmals wurden die 450 Abgeordneten ausschließlich über Parteilisten gewählt. Die Tatsache, dass Präsident Putin die Liste der Partei „Einiges Russland“ (ER) anführte, war von entscheidender Bedeutung für Verlauf und Ausgang des Wahlkampfes: Sie machte die Parlamentwahlen faktisch zu einer Abstimmung über den informellen Parteiführer von ER. Die Wahlkampfdebatten der anderen zehn an den Wahlen beteiligten Parteien traten angesichts des aktiven Auftretens der Spitzenpartei nachhaltig in den Hintergrund. Die „Machtpartei“ war erstmals in allen Regionen siegreich und erhielt überall mit Ausnahme des Autonomen Gebietes der Nenzen über 50 Prozent der Stimmen.
Die offiziellen Wahlergebnisse führten de fakto zu keiner wesentlichen Veränderung der parlamentarischen Kräftebalance. Obwohl niemand im Vorfeld der Wahlen am Sieg von ER gezweifelt hatte, betrug die Wahlbeteiligung 64 Prozent (2003 – lediglich 55 Prozent).
Die ebenfalls neu eingeführte 7-Prozent-Hürde nahmen 4 Parteien: „Einiges Russland“ mit 64,3 Prozent aller Stimmen (45 Millionen Stimmen), die Kommunistische Partei der Russischen Föderation mit 11,6 Prozent (Näheres zum Abschneiden der KP siehe Anhang), die Liberal-Demokratische Partei Wladimir Schirinowskis mit 8,2 Prozent sowie die erstmals in der Duma vertretene Partei „Gerechtes Russland“ (SR) mit 7, 7 Prozent.
Für die KPRF stimmten über 8 Millionen Wähler (2003 – 7,6 Millionen oder 12,6 Prozent). Mit anderen Worten: die Unterstützung verringerte sich um ein Prozent bei gleichzeitiger Zunahme der absoluten Wählerschaft um eine halbe Million Stimmen. Die Fraktion der Kommunisten in der 5. Duma vergrößerte sich um 10 Abgeordnete. Für die LDPR stimmten über 5 Millionen Wähler (in der Vergangenheit rund 7 Millionen), das Ergebnis von SR bewegte sich im Bereich dessen, was eine ihrer Vorgänger-Parteien – „Rodina“ – 2003 bekam, d.h. das Ergebnis enttäuschte formal jene Hoffnungen, die am Vorfeld der Wahlen an die Fusion von „Rodina“ mit der Lebens- und Rentnerpartei geknüpft worden waren. Die regionalen Listen von SR führten Politiker an, die nahezu aus allen Parteien kamen; die besten Ergebnisse erzielten dabei populäre Regionalpoliker. „Jabloko“ erzielte nur in Moskau, St. Petersburg und Karelien Achtungserfolge (mehr als 3 Prozent). Die „Union der Rechten Kräfte“ (SPS) schaffte es nirgendwo, mehr als 3 Prozent zu erzielen (mit 2,8 Prozent erreichte sie ihr bestes Ergebnis in Moskau). Der „Agrarpartei“ gelang es nur im Burjatischen Autonomiegebiet, mehr als 7 Prozent auf sich zu vereinen. Die Partei „Zivilgesellschaftliche Kraft“ (GS) erzielte ihr bestes Ergebnis im Gebiet Swerdlowsk, wo sie ursprünglich als russische Netzwerk-Partei zur Förderung des kleinen und mittleren Unternehmertums entstanden war. Die linken Splitterparteien „Patrioten Russlands“ und „Partei der sozialen Gerechtigkeit“ errangen zusammen 1,1 Prozent der Stimmen.
Ihr bestes Ergebnis erzielten ER in Tschetschenien (99,6 %), die Kommunisten in Tambow (19 %), die liberalen Demokraten in Magadan (15,4 %), SR in Astrachan (20,2 %) und St. Petersburg (15,3 %). Moskau und St. Petersburg gehörten zu den Regionen mit dem geringsten Stimmenanteil für die „Machtpartei“. Im Wahllokal der Moskauer Staatlichen Universität konnte die KPRF sogar einen Sieg verbuchen. Sie übertraf das Ergebnis von ER um ein Prozent. Insgesamt erreichten die Kommunisten in Moskau 13 Prozent, knapp doppelt soviel wie in der Vergangenheit. Die Insassen des im Zusammenhang mit dem Putsch Anfang der 90er Jahre bekannt gewordenen Moskauer Untersuchungsgefängnisses „Matrosenstille“ unterstützten mehrheitlich die Partei Schirinowskis, während fast 80 Prozent der Auslandsrussen für ER stimmten.
Auch in der 5. Staatsduma bleibt die 4-Parteien-Struktur erhalten, gleichwohl ohne klassischen neoliberalen Flügel. Die Platzverteilung gestaltet sich wie folgt: ER – 315 Plätze (wobei fast ein Drittel jener gewählten Abgeordneten, die die regionalen Listen angeführt hatten, die sogenannten Lokomotiven – insbesondere Gouverneure, Bürgermeistern und Minister – ihre Mandate weniger bekannten Parteifreunden überließen), mit anderen Worten: eine solide Verfassungsmehrheit – für viele das zentrale Anliegen der „Machtpartei“ in den zurückliegenden Wahlen. Die beiden anderen Pro-Putin-Partein SR und LDPR bekommen 38 bzw. 40 Plätze. Als einzige Oppositionspartei zieht die KPRF mit 57 Abgeordneten in die neue Duma ein.
Nach Einschätzung vieler Beobachter haben die Wahlen nicht wesentlich zur Stärkung der politischen Parteien beigetragen. Aufgrund der Personifizierung der Wahlen hat ER vom positiven Image Putins erheblich profitiert. Gleichzeitig wird angemerkt, dass für Putin im Zuge der Duma-Wahlen fünf Millionen Bürger weniger als bei den Präsidentschaftswahlen 2004 gestimmt haben, wobei das Elektorat von SR und LDPR insgesamt das Staatsoberhaupt unterstützen. Nach Meinung des einflussreichen Journalisten Witali Tretjakow orientiert sich das parteipolitische System Russlands nicht an den klassischen Eckpunkten Liberalismus und Konservatismus bzw. Sozialismus und Liberalismus, sondern entwickelt sich in Anlehnung an nationale russische Formeln bzw. jenseits aller Regeln. Alle vier in der Duma vertretenen Parteien sind etatistisch; sämtliche anti-etatistischen Gruppierungen stießen bei den Wählern auf Ablehnung. Gleichzeitig unterliegen alle Parteien einem fortschreitenden Erosionsprozess, der im liberalen, prowestlichen Spektrum stärker voranschreitet, als im patriotisch-nationalistischen.
Die gesellschaftlich bedeutende Trennlinie zwischen Russlands Parlamentsparteien ist die zwischen Kommunismus und Antikommunismus. Während die KPRF und „Gerechtes Russland“ als prokommunistisch oder prosowjetisch im Sinne von sowjet-sozialistisch empfunden werden, (wobei sich SR gern als Kraft einer „vierten Art von Sozialismus“ - nach dem klassischen marxistischen, sowjetischen und „westlichen“ Sozialismus – sieht), gelten ER und LDPR als antikommunistisch. Mit den Worten Tretjakows: „74 Jahre Sowjetmacht sind eine gigantische und vieldeutige Periode der nationalen Geschichte, die auszulöschen niemandem gelingen wird, weshalb das Problem des „Sowjetismus vs Antisowjetismus“ auch weiterhin eine aktuelle psychologische, politische und historische Dominante unserer gesellschaftlichen Metaphysik und unseres gesellschaftlichen Verhaltens bleiben dürfte.“ (Moskowskije Nowosti, Nr.48, 7.-13. Dezember 2007)
Ungeachtet des überwältigenden Sieges von ER hat es Putin vorgezogen, seine Distanz zur Partei und seinen nichtformellen Status innerhalb der Partei beizubehalten. So erschien er nicht im Wahlkampfstab der Sieger und inszenierte die Nominierung seines „Nachfolgers“ Medwedjew als gemeinsamen Akt von ER, SR sowie der Agrarpartei und GS, die beide kläglich an der 7-Prozent-Hürde gescheitert waren. Der Präsident erwies sich als faktischer Sieger der Wahlen, was nicht unbedingt auf ER zutrifft. Nach Expertenmeinung lässt sich nur auf diese Weise jenes offensichtliche Paradoxon erklären, wonach ER nur durch massive direkte präsidiale Unterstützung die angestrebte absolute Mehrheit sicherstellen konnte.
Die Dezemberwahlen von 2007 waren die ersten Parlamentswahlen in der postsowjetischen Geschichte Russlands ohne eindeutige Legitimierung durch den Westen. Ihre Qualifizierung als unfaire und nicht den demokratischen Standards entsprechende Wahlen durch die meisten Massenmedien sowie Teile des politischen Establishments in den westlichen Hauptstädten deckte sich praktisch mit der heftigen Wahlkritik seitens der KPRF, der SPS, „Jabloko“ sowie der außerparlamentarischen Oppositionsbewegung „Anderes Russland“. Folgende Vorbehalte machten die Kommunisten am 15. Dezember auf ihrem Parteitag deutlich: beschränkter Zugang zu den elektronischen Massenmedien für oppositionelle Kandidaten, erzwungener Urnengang insbesondere für Angestellte des öffentlichen Dienstes, Wahlzettelmanipulationen zugunsten der „Machtpartei“, Wähleragitation am Wahltag und Wählernötigung vor allem im ländlichen Raum sowie einer Reihe nationaler Republiken, von wo Wahlergebnisse von über 90 Prozent vermeldet wurden. So erhielt die ER-Liste in Mordowien über 93 Prozent der Stimmen bei einer Wahlbeteiligung von über 94 Prozent. Entscheidenden Anteil am Erfolg von ER hatte die aktive Parteinahme der meisten Gouverneure. Durch den Präsidenten der Möglichkeit beraubt direkt gewählt zu werden, sahen sie in dieser aktiven Parteinahme ein wichtiges Mittel zur Festigung der eigenen Machtposition.
Die KPRF erklärte ihre Absicht, eventuell zusammen mit der SPS und „Jabloko“ die Wahlergebnisse gerichtlich anzufechten. Letztere bezeichnete Parteivorsitzender Sjuganow unmittelbar nach ihrer Verkündung als Gewaltakt gegen das Land und Verhöhnung des gesunden Menschenverstandes. Nach einiger Überlegung entschieden sich die Kommunisten jedoch gegen radikale Schritte, etwa die geschlossene Niederlegung ihrer Mandate. Ende Januar beginnt offiziell der Präsidentschaftswahlkampf, der den Wahlzyklus 2007-2008 zum Abschluss bringen wird.
Anhang
Zum Abschneiden der KPRF bei den Duma-Wahlen 2007
In ihren Wahlanalysen verweisen die Kommunisten auf die überwiegend urbane Verankerung ihrer Wählerschaft. Die Wähler der KPRF konzentrieren sich in den großen Städten: den beiden Hauptstadtregionen Moskau/Moskauer Gebiet und St. Petersburg sowie in einer Reihe regionaler Ballungszentren wie Omsk, Nowosibirsk, Krasnojarsk und Woronesch. Die Unterstützung für die KP ist nicht länger regional bestimmt, ist nicht Ergebnis von Teilhabe oder Nichtteilhabe ihrer Vertreter an den Machtstrukturen, sondern der massiv wachsenden sozialen Heterogenisierung der russischen Gesellschaft und der Formierung sozialer Gruppierungen mit latenter Protesthaltung.
Ausdruck ausgewogenerer regionaler Unterstützung für die KPRF sind die positiven Entwicklungen im Nordwesten sowie den nördlichen Regionen Zentralrusslands, d.h. in jenen Gebieten, in denen in den 90er Jahren die Kommunisten minimalen Einfluss ausübten. Überdurchschnittliche Ergebnisse wurden in den Gebieten Kaliningrad, Twer, Kostroma, Kirow und Jaroslawl sowie im Autonomen Gebieten der Nenzen erzielt. Beispiele für eine positive Dynamik sind das Gebiet Murmansk mit einem Zuwachs von 3,7 Prozent, das Gebiet Archangelsk mit 3,6 Prozent sowie Karelien mit 2,8 Prozent. Verbesserungen gab es ebenfalls im Leningrader und Wologodsker Gebiet sowie in der Republik Komi.
Erfolgreich schnitt die KPRF auch in den Regionen des Urals ab, wo die Kommunisten traditionell einen schweren Stand hatten. Positive Tendenzen sind vor allem in den moskaunahen Regionen auszumachen, den Gebieten Smolensk, Kaluga, Rjasan, Wladimir, Twer, Jaroslawl und Kostroma. Eine der Ursachen dafür dürfte die erneute Unterstützung der Kommunisten durch ehemalige „Rodina“-Wähler sein.
Problematisch gestaltet sich die Situation der KPRF in den nationalen Republiken. Dies betrifft 7 von 13 Regionen, in den die KP weniger als 7 Prozent der Stimmen erzielte. Noch Mitte der 90er Jahre erreichten die Kommnisten dort Spitzenergebnisse. Im südlichen Teil Russlands sowie im Wolga-Gebiet und Nord-Kaukasus setzt sich im Wesentlichen die Auflösung des ehemals „roten Gürtels“ zugunsten des „Einigen Russlands“ fort. Was den Osten des Landes anbelangt, so hat sich dieser für die Kommunisten längst zu einer Problemzone entwickelt, was die jüngsten Wahlergebnisse erneut bestätigt haben.
Von den 57 in die neue Duma gewählten KP-Abgeordneten haben 30 bereits in der letzten Duma gearbeitet, wurden 19 neugewählt und kehrten 8 nach Unterbrechung zurück. In der Fraktion sind 4 Frauen vertreten. 5 der neuen Abgeordneten sind jünger als 40 Jahre, während das Durchschnittsalter aller erstgewählten KP-Parlamentarier 47 Jahre beträgt.
Nach Meinung des der KP nahestehenden Zentrums zur Erforschung der politischen Kultur Russlands ging es den Wahlstrategen der Partei ursprünglich um den Erhalt des Kernwählerpotenzials, ein richtiger Ansatz, betrage dieses doch immerhin 7 bis 8 Prozent der Gesamtwählerschaft bzw. 11 bis 12 Prozent der Wählerschaft bei mittlerer Wahlbeteiligung. Allerdings habe sich mit der Aufstellung Putins als Spitzenkandidat von „Einiges Russland“ die Situation schlagartig verändert: unter Verweis auf den Plebiszit-Charakter der Wahlen sei es der „Machtpartei“ gelungen, einen Großteil der bis dato passiven Wählerschaft zu aktivieren, was wiederum prinzipiell neue Herangehensweisen der Kommunisten erfordert hätte...
Ungeachtet des massiven administrativen Drucks und der totalen massenmedialen Dominanz der „Machtpartei“ sei es der KPRF erneut gelungen, ihr Elektorat bei der Stange zu halten. Gleichwohl könne nicht darüber hinweggesehen werden, dass es die Partei wiederum nicht vermocht hat, im Umgang mit dem Gesamtelektorat einen Durchbruch zu erzielen, indem sie sich für potentielle Sympathisanten interessant macht. Insbesondere diesem Faktor jedoch werde im Zuge des beginnenden Präsidentschaftwahlkampfes entscheidende Bedeutung zukommen, gelte es doch, jene Teile des ER-Elektorats zu binden, die sich durch den Abgang Putins gezwungen sehen, wahlpolitisch neue Wege zu gehen.