Publikation Staat / Demokratie - Kultur / Medien - International / Transnational - Europa Ein Stein des Anstoßes. Gespräch über das heutige Estland

Bericht und Interview zur Situation der russischsprachigen Menschen in Estland. Von Holger Politt

Information

Reihe

Online-Publ.

Autor

Holger Politt,

Erschienen

Januar 2009

Bestellhinweis

Nur online verfügbar

Die Lage der russischsprachigen Bevölkerungsgruppe in Estland ist bei vielen, die von außen auf die Vorgänge der kleinen Republik am Finnischen Meerbusen schauen, ein Stein des Anstoßes. Solange der Besucher die Tallinner Innenstadt nicht verlässt, könnte er den Eindruck mitnehmen, alles sei in bester Ordnung. Touristen aus Finnland und Skandinavien, von den britischen Inseln und aus Deutschland scheinen sich pudelwohl zu fühlen, genießen die estnische Gastfreundschaft und geizen nicht mit Barem. Erst wenn er den Innenstadtring in Richtung der Trabantensiedlungen verlässt, wird dem Besucher begreiflich, dass er sich in einer in großen Teilen russischsprachigen Stadt befindet. Obwohl knapp 40% der Einwohner der estnischen Hauptstadt von Hause aus Russisch sprechen, führt die Sprache Puschkins im öffentlichen Straßenbild noch immer eine untergeordnete Rolle. Zählte man die Schriftzeichen, gebührte dem Englischen wohl eher die Palme des zweiten Siegers, denn es ist – strenges Sprachgesetz hin oder her -  auch in Estland die vorherrschende Sprache der Werbebranche. Kein Geheimnis und keine Frage also, dass auch die Rosa Luxemburg Stiftung bei ihrem Engagement in Sachen politischer Bildung vor Ort mit derartigen Fragen konfrontiert wird. Auch deshalb sei an dieser Stelle ein Gespräch empfohlen, welches Ende November 2008 in Tallinn geführt wurde und dessen Wortlaut in der linksgerichteten polnischen Wochenzeitung „Przegląd“ mittlerweile veröffentlicht wurde.

Jewgeni Golikow (Jg. 1946) ist heute Hochschullehrer an einer Privathochschule, war nach der Unabhängigkeitserklärung Estlands 1991/92 Tallins erster Botschafter an der Moskwa, ist ein glaubwürdiger Kenner der komplizierten Beziehungen zwischen den beiden großen Bevölkerungsteilen in Estland. Als ich am 9. Mai 2008, am Gedenktag für den Sieg im Großen Vaterländischen Krieg, in Tallinn neben ihm am Denkmal des Rotarmisten stand, sagte er mir, wie froh er sei, an diesem Tag und an dieser Stelle mit einem Deutschen zusammen stehen zu können, der ein anderes Deutschland verkörpere, als jenes, gegen welches seine Großeltern- und Elterngeneration kämpfen mussten. Für ihn sei es keine Frage, mit einer deutschen Stiftung, die den Namen Rosa Luxemburgs trägt, zusammenzuarbeiten.

Krzysztof Pilawski (Jg. 1958) – ein ausgezeichneter Kenner Russlands und der Sowjetunion - zählt zu den bekanntesten linksgerichteten polnischen Publizisten und arbeitet seit Jahren eng mit der Rosa Luxemburg Stiftung zusammen. Im November 2008 auf Einladung der Stiftung in Tallinn weilend, packte ihn das journalistische Interesse, als er bemerkte, wie in den besten Buchhandlungen ein dicker Bildband als Bestseller angepriesen wird, in dem auf Estnisch und Englisch zu lesen steht, dass jene estnischen Soldaten, die an der Seite der Hitlertruppen gegen die Sowjetunion kämpften, die Helden der heutigen estnischen Unabhängigkeit seien, hätten sie doch gegen den Kommunismus gekämpft, wenn auch auf der unterlegenen Seite.

Ende Januar 2009 werden Jewgeni Golikow und Krzysztof Pilawski in Warschau an einem polnisch-estnischen Seminar teilnehmen, auf dem gesellschaftliche Konsequenzen von Erinnerungspolitik beleuchtet werden, die von ihrer inhaltlichen Anlage her die Spaltung der Gesellschaft in einen moralisch besseren und einen moralisch gesehen weniger guten Teil billigend in Kauf nimmt.

Ich will hinzufügen, dass Jewgeni Golikow, Krzyzstof Pilawski und der Verfasser dieser einleitenden Zeilen sehr wohl Sinn und Wert der staatlichen Unabhängigkeit Estlands zu würdigen wissen. Diesem kleinen Land und allen seinen Bürgern – gleich, ob heute Staatsbürger oder nicht - gebührt gerade in Rücksicht auf die komplizierte und nicht immer leicht zu verstehende jüngere Geschichte eine gedeihliche Zukunft im Rahmen der Europäischen Union und an der Grenze zum benachbarten Russland.

„Ich dachte, uns verbänden gemeinsame Ziele“

Jewgeni Golikow (Tallinn) im Gespräch mit Krzysztof Pilawski (Warschau). Aus der Wochenzeitung „Przegląd“ (Nr. 51/2008). Übersetzung aus dem Polnischen.

Wann kamen Sie nach Estland?

Im Jahre 1958, also vor einem halben Jahrhundert. Mein Vater war Armeeoffizier und erhielt einen neuen Einsatzbefehl für eine Luftwaffeneinheit in Tartu. Ich war damals 12 Jahre alt.

Die Mehrheit der Einwohner Tartus waren Esten. Fühlten sie sich wie zu Hause?

Anfangs wohnten wir in einer Wohnsiedlung für Militärangehörige, aber nach einem Jahr erhielten meine Eltern eine Wohnung im Stadtzentrum. Ringsherum nur Esten. Dass wir mit einer anderen Sprache redeten, war für mich nichts Ungewöhnliches. Meine Mutter ist Ukrainerin und ich lernte, noch bevor ich zur Schule ging, nach einer ukrainischen Fibel Lesen und Schreiben. Es fiel mir nicht schwer, Kontakte mit estnischen Gleichaltrigen herzustellen. Wir spielten gemeinsam auf dem Hof, trainierten im Sportklub. Ich fühlte, dass wir Spieler derselben Mannschaft sind.

In welche Schule sind sie gegangen?

In die damals einzige russischsprachige Schule in Tartu, die noch an die zaristische Zeit erinnerte. Es gab wenig Russen in der Stadt. Darunter waren auch Vertreter der weißen Emigration, die sich noch an die Zeit der Ersten Republik (1918-1940) erinnerten. Nach der Schule kam ich an die dortige Universität, die einstmals der Polen-König Stefan Bartory gründen ließ. Das war eine Hochschule mit einer starken demokratischen und freiheitlichen Tradition. An die Universität in Tartu kamen in den 1950er Jahren Gelehrte, die wegen ihrer „kosmopolitischen“ Herkunft aus Moskau und Leningrad vertrieben wurden. Unter ihnen war der weltberühmte Kultursemiotiker Jurij Lotman. Deshalb sprach man auch von dem „Tartuer Geist“. Die Universität in Tartu bildete die Intelligenz aus, die jetzt beim Aufbau der Zweiten Republik, also des heutigen estnischen Staates, eine Schlüsselrolle spielt.

Viele estnische Politiker aus dem Regierungslager verkünden, dass die Erinnerung an die Soldaten, die in der Zeit des Krieges von 1918-1920 mit den Bolschewiki kämpften, später diesen Kampf in der Zeit des Zweiten Weltkriegs an der Seite der Hitlerarmee und der Finnischen Armee sowie als Einheiten der „Waldbrüder“ fortsetzten, zu den Gründungsmythen der heutigen Republik gehört. Sie hingegen unterstreichen ganz andere Faktoren: Die Politik der UdSSR und die Perestroika. Beginnen wir mit der ersten Sache. Laut der in ihrem Land üblichen Auslegung war Estland bis 1991 okkupiert. Okkupation aber lässt sich nur schwerlich mit Unabhängigkeit zusammenbringen!

Im Jahre 1940, als die Rote Armee in Estland einmarschierte, hatten wir es tatsächlich mit einer Okkupation zu tun. Es sollte jedoch daran erinnert werden, dass nicht nur Esten Opfer von Massenrepressionen wurden, sondern auch viele Russen, jene, die eine „falsche Klassenherkunft“ hatten. Nach dem Tode Stalins setzte der Prozess der Estnisierung Estlands, die Entwicklung einer örtlichen Elite ein.

Als ich an der Wende der 1960er und 1970er Jahre an Universität in Tartu studierte, studierten von insgesamt 3.500 Studenten lediglich 500 an Instituten, in denen Russisch Vorlesungssprache war. Bei den humanistischen Disziplinen war Russisch nur im Bereich der russischen Philologie Vorlesungssprache. Estland führte in der UdSSR die Pro-Kopf-Statistik in Hinsicht der Leserzahlen und des Theaterbesuchs an. In der letzten Disziplin waren wir womöglich sogar die Weltmeister. Dieser Prozess der Entwicklung der Intelligenz half, den estnischen Geist zu bewahren. Die estnische schöpferische Intelligenz spielte in der Sowjetzeit eine außerordentlich wichtige Rolle im Prozess der Bewahrung der nationalen Identität. Es sollte daran erinnert werden, dass noch zu Zeiten der Ersten Republik die überwiegende Mehrheit der Esten in kleinen Städten und auf dem Lande lebte. Die Esten waren bis in unser Jahrhundert hinein ein Bauernvolk. In den Städten nahmen Vertreter anderer Nationalitäten die Schlüsselstellungen ein – vor allem Deutsche, aber auch Juden und Russen.

Der Okkupant orientierte also im Grundsatz auf die Nationalwerdung des okkupierten Volkes. Aus welchem Grund waren die Behörden der UdSSR an der Entwicklung der estnischen Intelligenz und an dem Prozess interessiert, den sie „Estnisierung Estlands“ nannten?

So an der Schwelle der 1960er Jahre begannen die UdSSR-Behörden eine Strategie zu verwirklichen, die später als Politik des „Wurzelfassens“ bezeichnet wurde. Deren Ziel war die Schwächung der Unzufriedenheit der Einwohner der nationalen Republiken mit Moskau. Im Rahmen der Politik des „Wurzelfassens“ wurde die Leitung in den Republiken an Vertreter der örtlichen Eliten übergeben. Ganz klar, dass die wichtigsten Angelegenheiten, die Estland betrafen, weiterhin im Kreml entschieden wurden, doch in den Leitungsstrukturen auf Republikebene bei Partei, Verwaltung und Wirtschaftsführung entsprach das Verhältnis von Esten zu Russen dem von zwei zu eins. Grundpfeiler der estnischen Elite war die Intelligenz, insbesondere die schöpferische Intelligenz. Das gesellschaftliche Ansehen eines Schriftstellers, Journalisten, Schauspielers oder Regisseurs war in Sowjetestland sehr hoch. Auf die Meinung dieser Personen wurde gehört. Wenn ein Vertreter der estnischen Republikverwaltung einen Beitrag veröffentlichte, so hatte das kaum Einfluss auf die Einstellung der Bürger. Meldete sich jedoch ein bekannter Schriftsteller zu Wort, so las ihn die ganze Republik. Die moralische Autorität der führenden geistigen Köpfe war in Estland besonders hoch. Heute ist es, nebenbei gesagt, genau umgekehrt. Die wichtigste Rolle bei der Bildung der heutigen Republik spielten Leute, die in der Zeit der Sowjetmacht geboren wurden, die ihre Ausbildung in sowjetischen Schulen erhielten und ihren Berufsweg in sowjetischen Institutionen begannen, nicht selten zur Machtelite gehörten. So leitete z. B. Siim Kallas, der im unabhängigen Estland dann Ministerpräsident und Minister geworden war, der heute als EU-Kommissar Estlands wichtigster Beamter bei der EU ist, vordem als Chefredakteur die wichtigste Parteizeitung in der Republik und die örtlichen Gewerkschaften. Tallinns Oberbürgermeister Edgar Savisaar war Chef der obersten Planungsbehörde in der Republik. Es gibt viele ähnlicher Beispiele. In der Periode der relativen Stabilisierung Ende der 1950er und Anfang der 1960er Jahre erneuerten die Esten nicht nur das in der Zeit des Krieges und der stalinschen Repressionen verlorene nationale Potential, sondern sie vermehrten es und schufen die Voraussetzungen für den Wiederaufbau eines selbständigen Staates.

Die okkupierten Esten regierten bereits in der UdSSR die Okkupanten, also die Russen?

Nach dem Krieg waren Soldaten die erste Gruppe von Russen oder, weiter gefasst, von russischsprachigen Menschen, die nach Estland kamen. Ein Teil von ihnen blieb nach der Demobilisierung hier. Doch das war eine relativ kleine Gruppe. Die russischsprachigen Menschen kamen massenweise Anfang der 1960er Jahre mit der Entwicklung der Großindustrie nach Estland. In der Republik mangelte es an Arbeitskräften und so warb man um diese in anderen Regionen der UdSSR. Es kamen vor allem schwach ausgebildete Menschen aus der Provinz. Sie wurden Arbeiter in den Industriebetrieben, die für sie Wohnblöcke erbauten. Es entstanden so eigene Gebiete, in denen die zugezogenen russischsprachigen Menschen arbeiteten, wohnten und ihre Freizeit verlebten. Die Kinder gingen in russischsprachige Kindergärten und Schulen. So wie ihre Eltern erlernten sie kein Estnisch. Der Prozess der Trennung von Esten und russischsprachigen Menschen begann bereits in der Sowjetzeit.

Hatten die russischsprachigen Menschen keine eigene Elite?

Die UdSSR-Behörden legten der Herausbildung russischsprachiger intellektueller Strukturen keinen besonderen Wert bei. Ich denke, sie taten es gewollt nicht. Im Ergebnis konnten russischsprachige Kinder in Tartu z. B. nicht Philosophie, Recht oder Geschichte studieren, denn Vorlesungssprache war, wie gesagt, Estnisch. Die Politik des Wurzelfassens machte der russischsprachigen Bevölkerung den Weg in die Machtelite keineswegs leichter. Alle wussten, dass die Kenntnis der estnischen Sprache in Estland Voraussetzung ist, um Karriere in Partei und Verwaltung machen zu können. Ich sagte bereits, dass in den Leitungsstrukturen auf zwei Esten ein russischsprachiger Vertreter kam. Zwei Drittel der Arbeiter waren jedoch russischsprachig. Die Teilung verfestigte sich – die Russen waren Arbeiter, die Esten Beamte, Gelehrte, Künstler. Das Sowjetsystem machte die Esten zu einem Volk der Manager, erhob das estnische Volk zu einer Mittelklasse. Die Russen in Estland wurden bereits in der Sowjetzeit zu Bürgern zweiter Klasse: Sie waren schlechter ausgebildet, schlechter bezahlt, standen in der gesellschaftlichen Stufenleiter niedriger.

Und dennoch sprach sich im Unabhängigkeitsreferendum von 1990 eine Mehrheit der russischsprachigen Menschen für die Unabhängigkeit Estlands aus.

Ein Ergebnis der Perestroika, die durch eine breite demokratische Bewegung begleitet wurde. Im Zuge der Perestroika entstand im April 1988 die Volksfront Estlands, die durch einen bedeutenden Teil der Russen unterstützt wurde. Ich selbst war an der Entstehung der Front beteiligt, da ich meinte, uns verbänden gemeinsame Ziele - der Kampf mit dem bürokratischen Sowjetsystem und die Demokratisierung der Gesellschaft. Demokratie schien damals das wichtigste zu sein. Wir waren überzeugt, dass mit ihr auch die Nationalitätenkonflikte zu lösen sein werden.

Womit rechnete die russischsprachige Bevölkerung, als sie für die Unabhängigkeit stimmte?

Wir meinten, uns auf diese Weise vom Osten losreißen und nach Europa gelangen zu können. Außerdem hatten wir, wie sich zeigte, naive Überzeugungen, dass unsere Probleme dadurch gelöst werden würden. Die Tatsache, dass bei dem Referendum 1990 eine Mehrheit der russischsprachigen Menschen sich für die Unabhängigkeit Estlands entschied, war ausschlaggebend für den Ausgang des Referendums und ein Schlag für den Kreml.

Weshalb nutzen die estnischen Regierungen diese Tatsachen, von denen sie sprachen, nicht, um Brücken zwischen Esten und russischsprachigen Menschen, denen stattdessen Hindernisse in den Weg gestellt werden, zu bauen? Die Staatsbürgerschafts- und Sprachgesetze sind diskriminierend. Viele Passagiere des Flugzeugs, mit dem ich nach Tallinn kam, hielten bei der Abfertigung blaue Pässe in den Händen, die sie für den Betrachter unschwer als staatenlose Bürger Estlands erkennbar machten.

Die Idee der Demokratie, die uns in der Perestroika-Zeit verband, wurde nach der Schaffung der Unabhängigkeit schnell ersetzt durch die nationale Idee. Der Aufbau einer demokratischen Gesellschaft ist entschieden schwieriger als das Handeln nach dem alten Grundsatz des Teilens und Herrschens. Die gegenwärtigen radikalen nationalen Kräfte betrachten die gesamte Sowjetzeit als Okkupation. Das Wort Okkupation wurde zum wichtigsten Begriff im politischen Wörterbuch Estlands. Die Auffassung, es sei Okkupation gewesen, ist bei vielen Politikern und Historikern vorhanden, die sie zudem großen Teilen der Gesellschaft aufzwingen konnten.

Was sind die praktischen Dimensionen der offiziellen estnischen Erinnerungspolitik?

Als erstes flößt sie den Menschen die Überzeugung ein, dass die Esten moralisch überlegen, besser als die russischsprachigen Menschen seien. Zweitens führte das herrschende Recht sowie die praktizierte Politik dazu, dass unter den Ministern, ihren Stellvertretern und Abteilungsleitern in den Ministerien heute keine einzige Person sich befindet, deren Muttersprache Russisch wäre. Sogar in der Stadt Narva an der estnisch-russischen Grenze, in denen 95% der Einwohner Russen sind, sind der Bürgermeister und der Polizeichef Esten. Von den insgesamt 1,4 Millionen Einwohnern Estlands sind 400.000 sogenannte Nicht-Esten. 120.000 von ihnen haben noch immer keine Staatsbürgerschaft. Meiner Meinung nach ist das auch ein Beweis ihrer Loyalität gegenüber dem estnischen Staat, denn ohne Schwierigkeiten könnten sie die russische Staatsbürgerschaft erhalten. Sie wollen jedoch die estnische Staatsbürgerschaft. Doch ich beobachte, dass nach dem Skandal mit dem Denkmal des Bronzesoldaten das Interesse am Erhalt der russischen Staatsbürgerschaft gestiegen ist.

Womit wir bei den estnisch-russischen Beziehungen wären.

Die Regierungen Estlands versuchen nicht nur, sich sehr aktiv der realen russischen Politik entgegenzustellen, sie versuchen zudem, Russland als ideologischen Hauptfeind Estlands darzustellen, der – ohne Rücksichtnahme auf anderes – für immer der Feind bleiben werde, da die Wurzeln der russischen Kultur imperial seien und Russland demzufolge Estland immer gefährden werde. Als Beweis dafür gilt die Okkupation. Deshalb wird überhaupt vergessen gemacht, dass Russland der erste Staat war, der am 24. August 1991 die Unabhängigkeit Estlands anerkannte. Heute gilt Island als dieses erste Land. Als Mitglied der Leitung der Demokratischen Plattform in der KPdSU war ich Ende der 1980er, Anfang der 1990er Jahre das Verbindungsglied der russischen und estnischen Machteliten. Ich erinnere mich an die gegenüber Estland wohlwollende Haltung der Regierung Russlands mit Boris Jelzin an der Spitze.

Russland scheint heute ein größerer Feind Estlands zu sein als Hitlerdeutschland. Mit Verwunderung las und betrachtete ich einen voluminösen Bild-Text-Band, welcher2008 durch Mart Laar herausgegeben wurde und welcher nur schwerlich anders denn als Propaganda für den Faschismus bezeichnet werden kann. Das sieht fast wie eine Provokation aus. An Stelle der Kreml-Herren, die solche dienstbeflissenen Feinde recht gerne sehen, wäre ich zufrieden – schaut mal, die Esten, das sind doch erst richtige Faschisten!

Ich denke, unser ehemaliger Ministerpräsident weiß genau, was er tut. Umso mehr, da er unter den Politikern der Europäischen Union einflussreiche Freunde hat und regelmäßig prestigeträchtige ausländische Auszeichnungen entgegennimmt. Laar ist eher ein Pragmatiker denn ein Nationalist. Vielleicht entstand das Buch unter dem Einfluss der Weltwirtschaftskrise, die Estland sehr schmerzhaft trifft. Eine solche Situation ist günstig für radikale nationale, sogar faschistoide Strömungen, übrigens nicht nur in Estland. Ich schließe nicht aus, dass dieses Buch so eine Art heimliche Umfrage sein könnte, von der auf die Zustimmung der Einwohner Estlands zu ähnlichen Entwicklungen oder Ereignissen geschlossen werden soll.

Und wie werden die Ergebnisse dieser Umfrage aussehen?

Ich war immer der Ansicht, dass es in der Kultur des estnischen Volkes keine Tradition des Militarismus oder Faschismus gibt. Ja, es ist wahr, dass zehntausende Esten an der Seite Hitlers kämpften, aber auf der gleichen Seite kämpften auch 1,5 Millionen Russen. Ich denke, die Esten taten es nicht aus Liebe zu Hitler, vielmehr protestierten sie gegen den sowjetischen Totalitarismus. Doch die Tatsache, dass dieser Kampf der Esten heute positiv bewertet wird und aus ihnen Helden gemacht werden, ist erschreckend, denn sie waren im Bunde mit dem absolut Bösen und das Gutheißen ihrer Entscheidung bedeutet zugleich die Zustimmung zu diesem absolut Bösen. Ich habe kürzlich den Film „Der Pianist“ von Roman Polański gesehen und ich habe das absolut Böse gesehen. Natürlich tat mir der deutsche Offizier leid, der Władysław Szpilman rettete und hinterher in sowjetischer Kriegsgefangenschaft starb. Doch eine Rehabilitierung der Idee des Faschismus darf es nicht geben.

Das Kreuz, welches auf dem Sockel des geplanten Freiheitsdenkmals für 1918 in Tallinn angebracht werden soll, erinnert an das Eiserne Kreuz. Stößt sich niemand daran?

Darüber wurde in der Presse geschrieben, aber in Estland werden die Entscheidungen durch jene getroffen, die jeweils an der Macht sind. Sie ließen keine ernsthafte Diskussion in dieser Sache zu, Meinungen der Opposition und von Intellektuellen wurden nicht berücksichtigt. Nach den bei uns herrschenden Geflogenheiten werden derartige Entscheidungen durch die Regierenden in ein patriotisches Gewand gepackt. Wer dagegen auftritt, ist also kein Patriot mehr. So auch bei dieser Sache.



Holger Politt leitet das RLS-Auslandsbüro in Warschau.