Publikation Soziale Bewegungen / Organisierung Mit Grün aus der Krise?

Zur 30. Ordentlichen Bundesdelegiertenkonferenz der Grünen vom 8. bis zum 10. Mai 2009 in Berlin. Von Jochen Weichold

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Autor

Jochen Weichold,

Erschienen

Mai 2009

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„Grün aus der Krise“ stand auf dem Cover der „Wirtschaftswoche“, das Jürgen Trittin triumphierend hochhielt. „Wie Ökotechnik die deutsche Industrie revolutioniert und eine Million neue Jobs schafft“, las der Spitzenkandidat der Grünen zur Bundestagswahl im September mit Genugtuung vor. Das sei fast wörtlich aus dem Wahlprogramm-Entwurf der Grünen abgeschrieben, meinte er: „Darauf baut die Wirtschaft also jetzt ihre Hoffnung!“

Das war Wasser auf die Mühlen der Grünen, und Trittin konnte sich des Beifalls der Delegierten sicher sein, die sich in der Arena des Berliner Velodroms zu ihrer 30. Ordentlichen Bundesdelegiertenkonferenz (BDK) versammelt hatten. Im Zentrum dieses Parteitags von Bündnis 90/Die Grünen Anfang Mai 2009 standen die Diskussion und die Abstimmung über genau diesen Programm-Entwurf der Öko-Partei für die Bundestagswahl im September 2009.

Zudem ging es um den Wahlaufruf mit der Definition des Wahlziels und der Frage, wie und mit wem das Wahlprogramm politisch umgesetzt werden könnte. „Grün dreht das. Klima – Arbeit – Gerechtigkeit – Freiheit“ lautete das Motto des Parteitages in Anlehnung an ein erfolgreiches Lied von Herbert Grönemeyer. Mit dem Einspielen von Videos zum Europawahlkampf und gesetzten Reden der Spitzenkandidaten der Grünen zu dieser Wahl, Rebecca Harms und Reinhard Bütikofer, versuchte die Parteitagsregie, immer wieder daran zu erinnern, dass drei Monate vor der Bundestagswahl die Wahl zum Europäischen Parlament als wichtiger Markstein auf dem Weg zum 27. September 2009 stattfindet.

Die Politische Rede des Bundesvorstands nutzte Parteichef Cem Özdemir, um die Große Koalition heftig zu attackieren. Die Bundesregierung habe „keine auch nur annähernd überzeugende Antwort“ auf die Klima-Krise, die Wirtschafts-Krise und die globale Gerechtigkeits-Krise. Engagiert plädierte der Parteivorsitzende für einen grünen Neuen Gesellschaftsvertrag mit einem Grünen New Deal als Kern: „Nur damit kommen wir stärker aus dieser Krise heraus, als wir hingeschlittert sind.“ Mit dem Blick auf US-Präsident Barack Obama, UNO-Generalsekretär Ban Ki-moon oder Kaliforniens Gouverneur Arnold Schwarzenegger sah Özdemir „starke Mitstreiter an unserer Seite“, die verstanden hätten, dass es jetzt darum gehe, das Rad der Geschichte in eine zukunftsfähige Richtung zu drehen. „Wir heißen sie willkommen, auch wenn wir in manchen Punkten sicherlich nicht immer einer Meinung sind: Die Richtung stimmt!“

Özdemir warb engagiert bei den ca. 700 Delegierten für die Geschlossenheit der grünen Partei. Grün sei die einzig richtige Antwort auf die Fragen unserer Zeit. Klimaschutz, eine ökologische und solidarische Wirtschaftspolitik, gerechte Bildung und Teilhabe für alle, eine Stärkung der Demokratie und gesellschaftlichen Zusammenlebens in einer stärker miteinander vernetzten Welt – nichts davon könne losgelöst voneinander behandelt werden: „Unser Programm ist getragen von der starken Verbindung mit unseren Werten. Klima, Arbeit, Gerechtigkeit und Freiheit sind die Eckpfeiler unserer Politik.“

Parteichefin Claudia Roth warnte bei der Begründung des Bundestagswahlprogramms: „Wenn wir nicht dramatisch umsteuern, dann wird die Klima-Krise zur Weltkatastrophe des 21. Jahrhunderts, in einer Welt, in der jetzt schon eine Milliarde Menschen vom Hungertod bedroht sind.“ Es sei Irrsinn, die Wirtschafts- gegen die Klima-Krise auszuspielen. Es gelte vielmehr, die drei großen globalen Krisen im Zusammenhang zu sehen: „Wirtschaft und Klima und Hunger“.

Es sei höchste Zeit für einen Politikwechsel. Die vergangenen vier Jahre Große Koalition seien verlorene Zeit gewesen ohne eine einzige wegweisende Reform, Stillstand und Lähmung inmitten eines Epochenumbruchs. Die Krisen und Probleme der Gegenwart hätten viel zu tun mit einer Wirtschaftsweise, die schnellen Profit über alles stellt, und mit einer Politik, die das befördert. Der Neoliberalismus der letzten Jahre und Jahrzehnte habe den alten Gesellschaftsvertrag ausgehöhlt, der selbst nur zu oft ein ungedeckter Scheck gewesen sei. So dürfe es nicht weitergehen. „Deswegen schlagen wir einen neuen, einen grünen Gesellschaftsvertrag vor“, erklärte die Parteivorsitzende.

Roth plädierte in ihrer Rede für mehr Gerechtigkeit in diesem Land. Dazu gehörten ein Mindestlohn, der ein Leben in Würde ermöglicht, eine deutliche Erhöhung der ALG-II-Regelsätze, die Beendigung der Lohnungleichheit zwischen Männern und Frauen, Bildungschancen, die nicht vom Geldbeutel der Eltern abhängen, ein „gutes und gerechtes Gesundheitssystem“ statt einer Zwei-Wartezimmer-Medizin, eine Bürgerversicherung und eine Vermögensabgabe. Sie versprach, mit dem Grünen New Deal, mit einem Investitionsprogramm in Klima, Bildung und soziale Gerechtigkeit, eine Million neuer und zukunftsfähiger Arbeitsplätze zu schaffen.

Der Spitzenkandidat der Grünen zur Bundestagswahl, Jürgen Trittin, diagnostizierte in seiner Rede zur Begründung des ersten Kapitels des Bundestagswahlprogramms „Anders Wirtschaften – Ein Grüner New Deal für neue Arbeit und Innovation“: „Wirtschaftskrise, Klimawandel, Hunger – diese drei Krisen haben eine gemeinsame Ursache: Ungeregeltes Gewinnstreben – Profitgier.“ Dauerhaft eine Eigenkapitalrendite von 25 Prozent zu erzielen, gehe nicht ohne Ausbeutung von Rohstoffen und von Menschen, von Kindern, von Frauen in der Dritten Welt, gehe nicht ohne Verlagerung der Kosten auf die Allgemeinheit. „Ein Wirtschaftssystem, das auf Spekulation, auf der Ausbeutung von Mensch und Natur aufgebaut ist, ein solches System wird solche Krisen immer wieder produzieren.“ Es sei ein Witz der Geschichte, dass nun Globalisierungskritiker, dass Gewerkschafter, dass Umweltaktivisten daran gehen müssten, den Kapitalismus vor dem Selbstmord zu retten. Die Große Koalition jedenfalls sei den Herausforderungen nicht gewachsen, agiere ziellos in der Krise und offenbare statt wirtschaftspolitischer Kompetenz blanken Dilettantismus.

Die dramatische Entwicklung, die Finanz-, Wirtschafts- und Klima-Krise nun in atemberaubendem Tempo nehmen würden, so Trittin, verlange gleichzeitig schnelles und langfristig orientiertes Handeln. Der stellvertretende Fraktionschef der Grünen im Bundestag forderte eine strategische Wirtschaftspolitik, die darauf abzielt, den ökologischen Umbau, der in der Automobil-, Chemie- und Elektroindustrie sowie im Maschinenbau teilweise bereits im Gange sei, radikal zu beschleunigen und die Rahmenbedingungen so zu setzen, dass diese Industrien Forschung, Entwicklung und Produktion darauf ausrichten könnten. Strategische Wirtschaftspolitik der Grünen bedeute, diese industriellen Kernbranchen Deutschlands nicht als Gegner, sondern als Partner zu betrachten – ungewohnte Worte für nicht wenige grüne Ohren. Insgesamt sprach sich Trittin für eine Koalition der ökologischen Modernisierung, der sozialen Gerechtigkeit und der Bürgerrechte aus, die sich den globalen Herausforderungen stellt.

Auch Trittins Partnerin im Spitzen-Duo der Öko-Partei zur Bundestagswahl, Renate Künast, kritisierte die Große Koalition und warf Bundeskanzlerin Merkel vor, sie betreibe Lobby-Politik für die Autoindustrie und die Energiekonzerne. Sie betonte bei der Begründung des Energie-Kapitels des Bundestagswahlprogramms: „Wir brauchen Visionen in der Politik.“ Die Probleme von heute könne man nicht lösen mit dem Denken von gestern. Die Fraktionschefin der Grünen im Bundestag sprach sich für neue Strukturen im Energiebereich (anstelle der heutigen vier Energiemonopole) aus, forderte die schnellere Abschaltung alter, unsicherer Atom-Mailer und erklärte, die Zukunft liege bei den Erneuerbaren Energien.

Wie schon auf den beiden vorangegangenen BDK in Erfurt und in Dortmund grenzten sich Die Grünen scharf von den anderen Parteien ab. Sie hätten die Zeichen der Zeit nicht verstanden und in der Wirtschaftskrise allesamt versagt, behauptete Cem Özdemir und sprach ihnen jegliche Wirtschaftskompetenz ab. Während der Kompass der anderen Parteien (falls sie überhaupt einen hätten) in die Vergangenheit weisen würde, zeige der Kompass der Grünen „nicht nur nach morgen, sondern auch nach übermorgen“. Jürgen Trittin polemisierte, um aus der derzeitigen Krise zu kommen, helfe nur Grün, müsse man Ahnung haben von ökologischer Wirtschaftspolitik. Da seien die anderen Parteien allenfalls „grün hinter den Ohren“.

Claudia Roth warf der CDU vor, sie treibe „richtungslos im sozialen Eismeer“. Sie geißelte die neoliberalen Konzepte von FDP und CDU: „Wer glaubt, die Lösung sei immer weniger Steuern für Besserverdienende – und darum in der Konsequenz immer weniger Sozialstaat – dem sagen wir: genau das war die Ideologie der Thatchers, Reagans und Bushs, und das ist die Ideologie der Westerwelle-FDP, dem parlamentarischen Arm der Heuschrecken, und der neoliberalen Leipziger Beschlüsse der CDU unter Angela Merkel.“ Genau diese Ideologie sei heute bankrott und so pleite wie die deregulierten Zockerbanken.

Parteichef Özdemir sagte, die SPD habe in der Großen Koalition bewiesen, „dass die Sozialdemokratie alleine keinen grünen Kompass hat“. Ihre ökonomische Modernisierung sei nicht glaubwürdig. Trittin höhnte, der sozialdemokratische Vizekanzler meine, wirtschaftspolitische Kompetenz bestünde darin, einen Ausverkauf von Autos zu organisieren, und der sozialdemokratische Bundesfinanzminister habe im Falle der Hypo Real Estate mittlerweile über 80 Milliarden Euro in einer Bank versenkt, die vielleicht noch 250 Millionen Euro wert sei. Der Jung-Grüne Arvid Bell bekannte: „Ich bin froh, dass wir der SPD nicht mehr in jede Sackgasse hinterherlaufen.“

Auch an der LINKEN ließ man auf der BDK kein gutes Haar. Cem Özdemir hielt der Partei vor, sie wisse „mit der Relevanz eines ergreisten Debattierclubs [...], was sie nicht will und wofür sie bestimmt niemals Verantwortung übernehmen will“. Und Claudia Roth assistierte: „Große Forderungen stellen, sich aber der Verantwortung verweigern – das ist nicht links.“ Renate Künast fragte, wie man sich internationalistisch nennen könne, wenn man gleichzeitig versuche, die wirtschaftlichen und sozialen Probleme wie früher im nationalstaatlichen Rahmen zu lösen. Ein Delegierter sah die Partei gar zurückgezogen in der linken Schmoll-Ecke. Ein anderer machte die Reformer in der LINKEN auf dem Rückzug aus, die Fundamentalisten hingegen auf dem Vormarsch. Sylvia Löhrmann, die Fraktionsvorsitzende der Grünen im Landtag von Nordrhein-Westfalen, bezeichnete FDP und LINKE als die beiden Extremisten in der deutschen Parteienlandschaft: „Die FDP setzt immer die Freiheit des Marktes absolut, DIE LINKE setzt einzig auf den Staat.“ Es komme aber darauf an, Staat und Markt vernünftig miteinander zu verbinden.

Zum Entwurf des Bundestagswahlprogramms gab es (auch für grüne Verhältnisse) rekordverdächtige 1.241 Änderungsanträge. In den Antragsteller-Treffen konnten jedoch zumeist Kompromisse gefunden werden. Während eine Reihe von Antragstellern ihre Anträge zurückzogen, wurden viele andere Anträge übernommen, oder sie gingen modifiziert in den Beschlusstext ein.

Dennoch musste über rund zwanzig Anträge diskutiert und abgestimmt werden, in denen es vor allem um sozialpolitische Fragen ging. Hier übten Die Grünen einen Balanceakt zwischen einem Mehr an Sozialem und der notwendigen Akzeptanz von Beschlüssen zur Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns oder zur Erhöhung des Arbeitslosengeldes II in der Bevölkerung. Mehrere Delegierte meinten, einen Überbietungswettbewerb mit der LINKEN, wer den höchsten Mindestlohn und den höchsten ALG-II-Satz fordere, sei für Die Grünen ohnehin nicht zu gewinnen. Eine Position, die die Mehrheit des Parteitags durchaus teilte – auch mit dem Blick auf die Glaubwürdigkeit der Partei.

In der Summe wurde allerdings eine Reihe von Anträgen angenommen, die das Wahlprogramm gegenüber dem ursprünglichen Entwurf zumindest in der Sozialpolitik noch ein Stück weiter nach links rückten und die (wenn sie denn in praktische Politik umgesetzt würden) die Lage bedürftiger Bevölkerungsschichten zum Teil deutlich verbessern würden:

  • Während der vom Bundesvorstand unterbreitete Programm-Entwurf die Frage der Höhe des geforderten gesetzlichen Mindestlohns offen lassen wollte, forderte ein Antrag der nordrhein-westfälischen Sozialpolitikerin Barbara Steffens u.a., eine Untergrenze von 7,50 Euro im Wahlprogramm festzuschreiben. In einer schriftlichen Abstimmung wurde der Antrag äußerst knapp mit 305 zu 300 Stimmen bei 20 Enthaltungen angenommen. Damit konnten sich die Antragsgegner, die die Festlegung der Höhe des Mindestlohns einer Kommission der Sozialverbände überlassen wollten, nicht durchsetzen.
  • Mit 327 zu 279 Stimmen bei 23 Enthaltungen konnte sich ein Antrag durchsetzen, die Anrechnung des Partnereinkommens beim Arbeitslosengeld II abzuschaffen (statt diese Anrechnung lediglich zu reduzieren, wie im Entwurf des Bundesvorstandes vorgesehen).
  • Eine deutliche Mehrheit fand ein Antrag, im Interesse der Gesundheitsprävention Praxisgebühr und Medikamentenzuzahlungen abzuschaffen, weil sie für arme Menschen große Hürden darstellten und deshalb in nicht wenigen Fällen zur Verschleppung notwendiger Behandlungen führten.
  • Hinsichtlich der Ausgestaltung der Bürgerversicherung in der Rente wurde ein Antrag beschlossen, der vorsieht, dass sich Menschen mit hohem Einkommen in solidarischer Weise an der Finanzierung der Rentenversicherung beteiligen sollen. Die bisherige Beitragsbemessungsgrenze solle daher erhöht werden, ohne dass die Ansprüche in gleichem Maße steigen. Dadurch würde der Beitragssatz für die Rentenversicherung sinken, kleine und mittlere Einkommen würden entlastet und die Finanzierungsbasis der Rentenversicherung verbreitert. Die Alternative dazu sah lediglich vor, die Pflichtmitgliedschaft in der Gesetzlichen Rentenversicherung schrittweise auf alle erwerbstätigen BürgerInnen zu erweitern und den Schutz vor Altersarmut aus Steuergeldern zu finanzieren.
  • Abgelehnt wurde ein Antrag auf Einführung einer Kinderkarte, auf der ein elektronisches Guthaben zur Nutzung kommunaler Kultur- und Sportangebote gespeichert sein sollte. Die Antragsgegner identifizierten die Kinderkarte als reines Mittelschichtsangebot, das bei den wirklich bedürftigen Familien nicht ankomme. Sie wollten die für die Kinderkarte erforderlichen Mittel lieber in die Bildungsinfrastruktur investieren.
  • In einem komplizierten Verfahren konnten sich am Ende jene durchsetzen, die eine eigenständige und bedingungslose Kindergrundsicherung für alle Kinder vorgeschlagen hatten, die die Eltern versteuern müssen. Die Kindergrundsicherung soll das soziokulturelle Existenzminimum und Freibeträge für Erziehung und Betreuung umfassen, sofern diese Leistungen nicht öffentlich kostenfrei bereitgestellt werden. Zur Finanzierung soll das Ehegattensplitting auf einen verfassungsrechtlich vertretbaren Mindestbetrag abgeschmolzen werden. Dies bringe mehr Gerechtigkeit für alle, so die Befürworter.

Neben einigen eher abseitigen Anträgen (wie dem, das aktive Wahlalter faktisch auf 12 Jahre abzusenken, dem, eine Pflichtberatung bei der Eheschließung einzuführen, oder dem eines Familienvertrages für Patchwork-Familien) wurden Anträge auf ein Recht auf Berufsausbildung, auf ein Recht auf Bildungsförderung und auf Einführung des Kumulierens und Panaschierens bei Bundestagswahlen ebenso abgelehnt wie solche, den Grundfreibetrag bei der Einkommenssteuer von derzeit 8.004 statt auf 8.500 auf 10.000 Euro anzuheben und den Einkommenssteuertarif linear ansteigend zu gestalten. Auch ein Antrag, die Sanktionen beim Arbeitslosengeld II abzuschaffen, fand keine Mehrheit. Hier bleibt es bei dem Sanktions-Moratorium, das der Programm-Entwurf für die Zeit der Wirtschaftskrise beinhaltete.

Nicht durchsetzen konnte sich zudem ein Antrag, der natürliche Monopole im Bereich der Netzinfrastrukturen zur Gänze im Besitz der Allgemeinheit belassen oder dorthin überführen wollte. Es blieb bei der Formulierung: „Natürliche Monopole im Bereich der Netzinfrastrukturen müssen zumindest im Teilbesitz der Allgemeinheit bleiben oder – etwa im Bereich der Stromnetze – überführt werden.“

Auch ein Antrag von attac-Mitbegründer Sven Giegold, Robert Zion, Julia Seeliger u.a., der im Kontext der Neuregelung der Erbschafts- und Schenkungssteuer für die Streichung des Satzes „Für Betriebsvermögen wollen wir einen deutlich höheren Freibetrag, damit kleine und mittlere Betriebe verschont werden.“ plädierte, wurde abgelehnt. Die Gruppe um Giegold hatte argumentiert, dass diese Formulierung im Widerspruch zum Ziel der Erhöhung der Einnahmen aus dieser Gerechtigkeitssteuer stehe. Die jetzigen Freibeträge seien aus Gerechtigkeitsgründen angemessen und gefährdeten keine Betriebsübergaben. Die Grünen sollten daher nicht bei Vermögenden und leistungslosen Einkommen (Erbe) „deutliche“ Steuersenkungen und damit Einnahmeausfälle versprechen. Die Bundestagsabgeordnete Christine Scheel hatte für die Antragsgegner argumentiert: „Wir wollen, dass die Unternehmensnachfolge auch funktioniert.“

Obwohl es der Parteilinken nicht gelang, die Abschaffung der Sanktionen gegen Langzeitarbeitslose und eine Erhöhung des Arbeitslosengeldes II über die ohnehin geplanten 420 Euro hinaus sowie eine Reihe weiterer Anliegen durchzusetzen, zeigten sich ihre Vertreter mit den Ergebnissen des Parteitages durchaus zufrieden. Sie können den gesetzlichen Mindestlohn von 7,50 Euro pro Stunde, die Abschaffung der Anrechnung des Partnereinkommens bei Hartz IV, die oben dargestellte Regelung bei der Ausgestaltung der Bürgerversicherung und die Abschaffung von Medikamentenzuzahlung und Praxisgebühr auf ihre Fahnen schreiben.

Insgesamt konzentrierten sich die Abstimmungen und die spannenden Kontroversen dazu auf die erste Hälfte des Wahlprogramm-Entwurfs. In der zweiten Hälfte gab es nur noch wenige, unspektakuläre Abstimmungen, da alle anderen Streitpunkte in den Treffen der Antragsteller beigelegt worden waren. Der Preis dafür war, dass sich die Debatte am Samstagnachmittag und -abend nur noch müde dahinschleppte. Selbst Werner Schulz, der sonst, wenn er ein Mikrofon in die Hand bekommt, zu großer rhetorischer Form aufläuft, wirkte eher erschöpft. Lediglich die Protesteinlage der Bürgerinitiative gegen den Weiterbau der Stadtautobahn A 100 in Berlin sorgte mit einem Sketch gegen den Autobahnbau in der Bundesrepublik generell kurzzeitig für Aufmerksamkeit und erinnerte Die Grünen an ihre Wurzeln in den sozialen Bewegungen.

In ihrem in der Schlussabstimmung schließlich einstimmig angenommenen Bundestagswahlprogramm versprechen Die Grünen, in den nächsten vier Jahren mit „grünen Investitionen“ in Klima, Bildung und Gerechtigkeit in Höhe von 80 Milliarden Euro eine Million neue, zukunftsfähige Jobs in Deutschland zu schaffen. Neben dem ökonomischen Schwerpunkt, der bewusst an die Spitze des Programms gerückt wurde, spielen soziale Fragen eine wichtige Rolle. So will die Partei einen gesetzlichen Mindestlohn durchsetzen, Geringverdiener bei den Sozialabgaben entlasten und Mini-Jobs abschaffen. Neben der Erhöhung des Arbeitslosengeldes II und der Einführung einer Kindergrundsicherung soll eine teilsteuerfinanzierte „Garantierente“ eingeführt werden, die Geringverdiener im Alter besser absichern soll. Zur Finanzierung dieses Sozialprogramms wollen Die Grünen den Spitzensatz bei der Einkommenssteuer auf 45 Prozent anheben, große Erbschaften stärker besteuern und eine zeitlich befristete Vermögensabgabe für Spitzenverdiener einführen, damit die Nutznießer der neoliberalen Ideologie die Folgen der Finanzmarkt- und Wirtschaftskrise stärker schultern. Geplant sind eine europäische Finanzumsatzsteuer und eine Regulierung der Finanzmärkte.

Auf umweltpolitischem Gebiet strebt die Öko-Partei die Aufnahme des Klimaschutzes als Staatsziel an. Der CO2-Ausstoß soll bis 2020 um 40 Prozent gesenkt werden. Bis 2030 sollen Strom und bis 2040 Energie komplett aus erneuerbaren Quellen produziert werden. Bis 2020 soll der CO2-Grenzwert für Neuwagen auf 80 Gramm pro Kilometer sinken. Auf Autobahnen soll künftig ein Tempolimit von 120 km pro Stunde gelten, auf Landstraßen von 80 km pro Stunde. Die Grünen wollen den Atomausstieg fortsetzen und lehnen den Bau neuer klimaschädlicher Kohlekraftwerke ab. Den Standort Gorleben stufen sie als ungeeignet für ein atomares Endlager ein.

Die Schrägstrich-Partei stellt fest, dass der „Aufbau Ost“ nicht als Nachbau West zu machen sei. Sie will die Mittel aus dem Solidarpakt vorrangig für Forschung und Bildung verwenden und die Investitionszulage in eine Innovationszulage umwandeln. Sehr große wirtschaftliche Entwicklungspotentiale sehen Die Grünen für Ostdeutschland in den teilweise noch jungen und forschungsintensiven Zukunftsfeldern wie im Bereich der Energie- und Umwelttechnologie. Die ostdeutschen Universitäten und Hochschulen seien wichtige regionale Stabilitätsfaktoren, Innovationszentren und Kreativschmieden und damit wichtige Impulsgeber für eine nachhaltige wirtschaftliche Entwicklung in Ostdeutschland.

Auf dem Gebiet von Bildung und Erziehung streben Die Grünen die Schaffung von 500.000 neuen Studienplätzen an und wollen Studiengebühren abschaffen. Zudem kämpfen sie für Investitionen in Ganztagsschulen und möchten den Anspruch auf eine ganztägige frühkindliche Betreuung und Bildung für alle Kinder vom ersten Lebensjahr an verankern. Finanziert werden soll dies, indem der Solidaritätszuschlag zur Einkommenssteuer teilweise als „Bildungssoli“ eingesetzt werden soll. Auf dem Gebiet von Bürgerrechten und Demokratie fordert die Partei die Verankerung des Datenschutzes im Grundgesetz und lehnt sie die Vorratsdatenspeicherung ebenso ab wie On-line-Durchsuchungen und das BKA-Gesetz insgesamt. Das Gesundheitssystem soll auf eine Bürgerversicherung umgestellt und der Gesundheitsfonds abgewickelt werden.

Auf dem Feld der Außen- und Sicherheitspolitik setzen sich Die Grünen für die Verkleinerung der Bundeswehr auf 200.000 Soldaten und für die Abschaffung der Wehrpflicht ein. Die Partei stehe für konsequente Abrüstung statt für Rüstungsexporte, heißt es im Programm. „Unsere Vision ist und bleibt eine Welt ohne Atomwaffen.“ Die Grünen wollen die UNO stärken und lehnen den Ausbau der NATO zu einer Konkurrenzorganisation der Vereinten Nationen ab. Die NATO bleibe aber als Klammer transatlantischer Sicherheit relevant und solle in eine kooperative Sicherheitsarchitektur integriert werden. Die Öko-Partei verlangt, einen Strategiewechsel in Afghanistan einzuleiten, bei dem „zivile Antworten“ Vorrang vor militärischen haben müssten und der es ermöglicht, die internationalen Truppen schrittweise abzuziehen. Die Grünen treten insgesamt für eine gerechtere internationale Ordnung ein. Bis 2015 sollen mindestens 0,7 Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Entwicklungszusammenarbeit ausgegeben werden.

Am Sonntag verabschiedeten Die Grünen nach heftigen Debatten im Vorfeld des Parteitages einen Wahlaufruf, in dem sie die Verhinderung von Schwarz-Gelb und die Ablösung der Großen Koalition als Wahlziel festlegten. Das Papier, in dem Die Grünen „ökologische und solidarische Wege aus der Krise“ aufzeigen und für einen gesellschaftlichen Aufbruch werben, fasst die Hauptziele, die die Partei in ihrem Bundestagswahlprogramm formuliert hat, noch einmal auf drei Seiten zusammen. In diesem Aufruf grenzen sich Die Grünen aber auch gegenüber allen anderen Bundestagsparteien ab und bemühen sich, die eigenen politischen Inhalte in den Vordergrund zu stellen. Hintergrund dafür ist nach wie vor, dass den Grünen derzeit eine realistische Machtperspektive auf Bundesebene fehlt.

Die Öko-Partei geht denn auch ohne eine Koalitionsaussage in den Wahlkampf, schließt jedoch eine schwarz-gelb-grüne Koalition nach der Wahl definitiv aus. Im Wahlaufruf beschreiben Die Grünen jedoch die SPD als diejenige Partei, mit der sie programmatisch die größten Schnittmengen haben. Dass Die Grünen die SPD-Kandidatin für das Bundespräsidentenamt, Gesine Schwan, als Gastrednerin geladen hatten und diese das grüne Wahlprogramm als „gut durchdacht“ lobte, dürfte wohl genau vor diesem Hintergrund zu sehen sein.

Bei der Begründung des Wahlaufrufs hatte Claudia Roth in einer kämpferischen Rede betont: „Wir werden nicht gewählt für das Flirten mit anderen Parteien, die im Wahlkampf unsere Gegner, unsere Konkurrenz sind.“ Die Grünen würden im Wahlkampf auf grüne Eigenständigkeit setzen, wollten ihre eigenen inhaltlichen Wahlziele durchsetzen. Keine Koalitionsaussage zu treffen bedeute jedoch nicht Beliebigkeit: „Jamaika bleibt in der Karibik, und das ist sehr gut so!“

Eigentlich hatten die grünen Spitzenkandidaten Künast und Trittin eine Ampel-Koalition präferiert. An der Parteibasis war jedoch die Idee eines Bündnisses mit der FDP auf so heftigen Widerstand gestoßen, dass sie derartige Pläne fallen lassen mussten.

Für Unruhe hatte vor der BDK zudem ein Papier einer Gruppe um den Finanzexperten der Grünen, Gerhard Schick, gesorgt. Die Gruppe um Schick, der sich (wie einst Saulus zum Paulus) in den letzten zwei Jahren vom Verfechter neoliberaler Ideen zum Parteilinken gewandelt hat,[1] plädierte darin für eine rot-rot-grüne Option in der Koalitionsfrage. Sie begründete dies mit einem notwendigen „echten Neuanfang in der Finanzpolitik sowie bei der ökologischen und sozialen Ausrichtung der Wirtschaftspolitik“.

Thilo Hoppe, Bundestagsabgeordneter der Grünen und einer der Mitautoren, zeigte sich auf der BDK vom neu gestalteten Wahlaufruf sehr angetan. Da er die Koalitionsfrage offen lasse, sei nach der Wahl nun auch eine rot-rot-grüne Koalition möglich. In Wahrheit ist der schwelende Richtungsstreit in der Koalitionsfrage damit nicht gelöst, sondern nur verschoben worden.

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Kommt man zu einem Resümee der 30. Ordentlichen Bundesdelegiertenkonferenz von Bündnis 90/Die Grünen, gilt es vor allem folgende Punkte hervorzuheben:

Erstens stimmte die Parteiführung der Grünen die Delegierten erneut auf die Wahlkämpfe des Jahres 2009 ein – von der Europawahl im Juni über wichtige Landtagswahlen bis zur Bundestagswahl im September. Die Führungsriege der Öko-Partei bemühte sich nach Kräften, die Parteibasis für diese Auseinandersetzung zu motivieren. Video-Einspielungen und Gastredner wie David Foster von der Blue-Green Alliance, einem Zusammenschluss von Gewerkschaften und Umweltorganisationen in den USA, sollten die Botschaft vermitteln, Die Grünen stehen mit ihren politischen Positionen in der Welt nicht allein.

Zweitens haben Die Grünen versucht, in ihrem Wahlprogramm viel, aber nicht zu viel zu versprechen. Mit dem Green New Deal als Kern des von ihnen vorgeschlagenen grünen Neuen Gesellschaftsvertrages geben sie eine durchaus glaubwürdige Antwort auf die Klima-Krise, auf die Finanzmarkt- und Wirtschafts-Krise und auf die Nahrungsmittel-Krise, mit der sie nicht nur in ihrer Wählerklientel punkten, sondern auch in der anderer Parteien wildern können (einschließlich in derjenigen der Partei DIE LINKE).

Drittens wollen Die Grünen bei der Bundestagswahl als drittstärkste Kraft durchs Ziel gehen. Auch wenn den Grünen aus gegenwärtiger Sicht ein potenter Partner fehlt, lassen sie keinen Zweifel daran, dass sie wieder auf Bundesebene regieren möchten. Mit Ausnahme einer Jamaika-Koalition halten sie sich dafür alle Optionen offen – auch die einer rot-rot-grünen Koalition.

Jochen Weichold

Stand: 12.05.2009 14:25


[1] Gerhard Schick gehörte noch im Sommer 2006 zu den Autoren eines Wirtschaftspapiers mit dem Titel „MehrWert – Grüne Marktwirtschaft“, in dem die „unsichtbare Hand des Marktes“ in Anlehnung an Adam Smith als innovatives, grünes Instrument gelobt und ein Hohelied auf den Markt und die ihn selbst regulierenden Kräfte gesungen wurde. Schick hat eine geradezu klassische neoliberale Karriere gemacht – vom wissenschaftlichen Mitarbeiter des dem Ordoliberalismus verpflichteten Walter-Eucken-Instituts in Freiburg über die Tätigkeit bei der Stiftung Marktwirtschaft Berlin zum Projektmanager bei der Bertelsmann Stiftung in Gütersloh. Er ist heute Bundestagsabgeordneter und Mitglied des Parteirats der Grünen.