Publikation Krieg / Frieden Gewaltverhältnisse

Rostock und die Folgen

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Reihe

Online-Publ.

Autor

Peter Strutynski,

Erschienen

Juni 2006

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Rostock und die Folgen

Von Peter Strutynski

Das Szenario der Gewalt bei der ersten großen Anti-G8-Demonstration in Rostock am 2. Juni war programmiert. Seit Wochen wurde die Öffentlichkeit darauf vorbereitet, dass „gewaltbereite Chaoten“ aus dem „linksradikalen Spektrum“ in die Stadt und in die Camps rund um Rostock und Heiligendamm einfallen würden. Innenminister Schäuble gebührt das zweifelhafte Verdienst, Gewalt herbeigeredet zu haben, die dann tatsächlich auch stattfand. Die Medien, insbesondere auch regionale Blätter in Mecklenburg-Vorpommern warnten die Bevölkerung vor Auseinandersetzungen zwischen Polizei und Demonstranten. Die Organisatoren des Widerstands hatten dieser konzertierten Propaganda – die es nicht bei Worten beließ, sondern mit einer großangelegten Razzia Anfang Mai bereits einen Vorgeschmack auf das verfügbare Reservoir staatlicher Repression gab – relativ wenig entgegenzusetzen. Globalisierungskritiker, Friedensbewegung und andere soziale Bewegungen befanden sich in einem Dilemma: Einerseits war ihnen die von der politischen Klasse aufgezwungene Gewaltdiskussion überhaupt nicht recht, lenkte sie doch von den guten Inhalten des Protestes ab. Auf der anderen Seite sorgte dieser Diskurs wenigstens dafür, das zuvor nur sehr zäh ins Bewusstsein der Öffentlichkeit gedrungene Thema „Heiligendamm“ zu einem „Dauerbrenner“ in den täglichen Nachrichten der Medien zu machen. Gewünscht hätte man sich viel lieber eine inhaltliche Skandalierung des G8-Gipfels, doch die war ausgeblieben.

Es gibt mindestens zwei Gründe dafür, dass die Gewalt in Rostock nach dem Muster einer self fulfilling prophecy auch eintrat. Erstens musste der gigantische Polizeieinsatz – 30.000 Sicherheitskräfte, die einen vielfachen Millionenbetrag verschlangen – gegenüber der Steuer zahlenden Öffentlichkeit legitimiert werden. Wäre nichts passiert, hätte man sich den ganzen Aufwand auch sparen können. Da man sich den Aufwand aber leistete – weil der Sicherheitsstaat für „alle Fälle“ gerüstet sein müsse – musste etwas passieren. Zweitens sollte mit allen Mitteln die inhaltliche Auseinandersetzung um die Agenda des G8-Gipfels vermieden werden, weil die Gipfelverantwortlichen dabei keine gute Figur machen würden. Ob Klimakatastrophe oder Afrikapolitik: Die Herrschenden hatten außer guten Worten nichts anzubieten, was der Menschheit insbesondere in der Dritten Welt von Nutzen wäre. Steinwürfe gegen Polizisten sind ja nicht nur kein Ersatz für die begründeten Alternativen der Gipfelgegner, sie entlasten auch die herrschende Politik, ihre schlechten Argumente und Strategien zu begründen. Wo Steine fliegen, hört jegliche Diskussion auf.

Dennoch hatte die von oben angezettelte Gewaltdiskussion noch einen anderen, von den Urhebern nicht einkalkulierten Effekt. Die erwartete Aufrüstung bei den Sicherheitsvorkehrungen geriet plötzlich in einen so eklatanten Widerspruch zu dem zu erwartenden politischen Ertrag des Gipfels, dass die veröffentlichte Meinung zunehmend den ganzen Sinn der Veranstaltung in Frage zu stellen begann. Und zwar in zwei Richtungen: Einmal fürchteten die liberal gesonnenen Medien – hierin unterstützt von sensibilisierten Intellektuellen – um einen weiteren Abbau ohnehin schon vielfältig durchlöcherter und zerzauster demokratischer Rechte wie Meinungsfreiheit, Demonstrationsfreiheit und das Recht auf informationelle Selbstbestimmung. Als Bundeskanzlerin Merkel in ihrer Funktion als EU-Ratspräsidentin beim EU-Russland-Gipfel in der Wolgastadt Samara am 17. Mai den russischen Präsidenten Putin dazu aufforderte, seine Gegner vor Ort demonstrieren zu lassen, konterte der gelassen und völlig korrekt, dass er sich angesichts der massiven Einschränkungen des Demonstrationsrechts in und um Heiligendamm keine Belehrungen in Sachen Demokratie gefallen lassen müsse. Zum anderen entwickelte sich überraschender Weise eine Kritik am Gipfel-Event, die über Heiligendamm hinaus solche Mammutkonferenzen grundsätzlich in Frage stellen. Und dies nicht nur wegen der hohen Kosten und der falsch gewählten Örtlichkeiten (die G8 ließen sich „sicherer“ und vor allem preisgünstiger z.B. auf einem Flugzeugträger unterbringen), sondern auch wegen des immer dünner werdenden politischen Ertrags. Wenn Franz Müntefering öffentlich darüber sinniert, ob solche Gipfel überhaupt noch „zeitgemäß“ sind (ob sie jemals „zeitgemäß“ waren, fragt er natürlich nicht, wahrscheinlich aus Pietät gegenüber Altbundeskanzler Helmut Schmidt, der die Gipfel vor 30 Jahren quasi „erfunden“ hatte) und wenn die ZEIT in ihrer Ausgabe vom 31. Mai 2007 „Scheinheiligendamm“ zum Aufmacher macht, ist die fundamentale Kritik am Gipfel sozusagen in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Der Aufwand lohnt nicht (mehr), die führenden Staatsmänner mit Dame Merkel tragen nichts zur Lösung der globalen Probleme bei, sondern sind selbst Teil des Problems. Walden Bello hat das auf der Kundgebung in Rostock auf den Punkt gebracht, als er sich dagegen wandte, von den G8 nicht nur Worte, sondern auch Taten zu verlangen. Nein, sagte er, die G8 selbst müssten „aus dem Weg gehen“, um alternativen Entwicklungsmöglichkeiten Platz zu machen.

Dies ist allerdings nur in einem – vermutlich langwierigen – politischen Prozess durchzusetzen. Und es erscheint fraglich, ob sich jüngere Protestler, die sich in irgendeiner Weise dem „Schwarzen Block“ zugehörig fühlen, mit einer solchen Perspektive zufrieden geben. Manche von ihnen streben den sofortigen Erfolg an, die punktuelle Auseinandersetzung mit den Repräsentanten der Staatsmacht und den Hauptverantwortlichen für die ungerechten Gewaltverhältnisse in der Welt. Und da sich der Gipfel selbst physisch nicht verhindern lässt, richtet sich die Wut dieser Globalisierungsgegner auf die „Handlanger“ der Mächtigen, auf den Polizeiapparat. Das ist die eine Seite. Auf der anderen Seite der Barrikade steht eine Polizeiarmee, deren einzelne Teile in sehr unterschiedlicher Weise, aber immer auch unter dem Einfluss der Gewaltdiskussion auf Rostock und die anderen Events rund um Heiligendamm vorbereitet werden. Presseberichte und meine eigene Wahrnehmung in Rostock lassen den Schluss zu, dass es in Deutschland höchst unterschiedliche Demonstrationsreaktions-„Kulturen“ auf Seiten der Polizei gibt. So gibt es Berichte darüber, dass sich z.B. die für ihre besondere Härte bekannte 21. Einsatzhundertschaft aus Berlin „so sehr hervortat, dass andere Polizeiführer entsetzt intervenierten“ (Neues Deutschland, 4.06.07). Lange Anfahrtswege, Kasernierung und so manche verbale oder gestische Schmähung von Seiten einiger Protestierer mögen ein übriges tun, um die Nerven der Beamten bis aufs äußerste anzuspannen und deren Gewalteinsatzbereitschaft zu erhöhen.

Eine einseitige Schuldzuweisung für die eingetretene Situation in Rostock an die Adresse des „schwarzen Blocks“ halte ich aus diesen Gründen für verkürzt. Völlig verfehlt war auch die an den Tenor der ersten Medienberichte sich anschließende Erklärung aus der Demonstrationsleitung, wonach die Polizei an der Entstehung der Gewaltsituation keine Schuld trage. Vielmehr hätte sie sich an die vereinbarte Deeskalationsstrategie gehalten. Dem steht doch eine Reihe von Fragen gegenüber, die im weiteren Verlauf der Untersuchungen zu überprüfen wären. In welche Gruppen des schwarzen Blocks waren verdeckt arbeitende Polizisten eingeschleust worden? Liegen der Polizei Erkenntnisse vor, ob sich im schwarzen Block auch eingeschleuste rechtsradikale Gruppen befanden? Welche Strategie verfolgten sie dort? Wie konnte es passieren, dass ein verwaistes Polizeiauto auf dem Kundgebungsplatz „zurück gelassen“ wurde? (Manche Beobachter sahen in dem tätlichen Angriff auf dieses Auto den entscheidenden Auslöser für das Eingreifen der Polizei.) Wozu kreiste ein Polizeihubschrauber immer wieder für längere Zeiten direkt über dem Kundgebungsplatz und erzwang auf diese Weise die wiederholte Unterbrechung der Kundgebung? Warum war das vereinzelte Abschießen von Feuerwerkskörpern - bei der Auftaktkundgebung am Bahnhof noch geduldet – am Rande der Schlusskundgebung Anlass für polizeiliche Übergriffe?

Um nicht missverstanden zu werden: Hier soll nun keineswegs der Versuch gemacht werden, den Spieß einfach umzudrehen und die Randalierer aus dem schwarzen Block zu entschuldigen. Mir geht es vielmehr darum, auf die strukturelle Ähnlichkeit des Verhaltens gewaltbereiter „Protestierer“ und gewaltbereiter „Ordnungskräfte“ hinzuweisen. Zwischen ihnen besteht ein psychisch-mentaler symbiotischer Zusammenhang, der sich – beinahe gesetzmäßig – in einer Spirale der Gewalt entlädt, wenn die äußeren Rahmenbedingungen es zulassen. Unnötig zu sagen, wessen politische Geschäfte hierbei erledigt werden.

Unnötig auch zu sagen, dass eine an politischer Aufklärung interessierte globalisierungskritische und Friedensbewegung jegliche Gewalt bei Demonstrationen strikt ablehnen muss. Sie ist darauf nicht angewiesen, weil sie die besseren Argumente hat. Wir wollen aber darüber nicht den Maßstab aus den Augen verlieren, der etwa so lauten könnte: Was sind ein paar Dutzend Steinewerfer gegen die militärische Gewalt, die täglich in Irak oder Afghanistan, in Palästina oder in Somalia, in Kolumbien oder in Sri Lanka, in Tschetschenien oder in Pakistan angewandt wird? Was ist die ohnmächtige und hilflose Gewalt der Pflastersteine gegen die strukturelle Ungerechtigkeit und Gewalt, an der täglich Tausende Menschen in der Dritten Welt krepieren? Diese bittere Wahrheit des täglichen Massenmordes an unschuldigen Kindern, Jugendlichen, Frauen, Kranken, Arbeitslosen und anderen Opfern der neoliberalen Globalisierung sollten die Proteste zum G8-Gipfel zum Ausdruck bringen.

Die spezielle Kritik der Friedensbewegung richtete sich vor allem gegen den offenkundigen Grundkonsens der beteiligten Großmächte, Krieg und die Androhung von Krieg als Mittel der Politik zu akzeptieren. Damit wird nach einer langen Periode der - zumindest verbalen - Anerkennung der Prinzipien des Völkerrechts, insbesondere des in der Charta der Vereinten Nationen verankerten strikten Gewaltverbots (Art. 2,4), die internationale Rechtsordnung schwer beschädigt. Alle acht Gipfelstaaten führen illegale Kriege, sei's im Rahmen der NATO in Afghanistan und im Persischen Golf sowie vor der ostafrikanischen Küste (im Rahmen von "Enduring Freedom"), sei's im Rahmen der "Koalition der Willigen" im Irak, sei's im Rahmen eines inneren Konflikts in Tschetschenien (Russland).

Deutschland macht da keine Ausnahme. Zwar hatte die Bundesregierung 2003 den völkerrechtswidrigen Krieg gegen Irak abgelehnt (ihn aber gleichwohl indirekt unterstützt). Sie war aber bereits 1999 am illegalen Angriffskrieg gegen das damalige Jugoslawien beteiligt gewesen und ist es heute an der Operation Enduring Freedom. Berlin betreibt mit Nachdruck sowohl die Transformation der Bundeswehr von einer Verteidigungsarmee in eine Interventionsarmee als auch die Militarisierung der Europäischen Außen- und Sicherheitspolitik (z.B. Aufbau von Battlegroups, Aufrüstungsgebot in der bisher gescheiterten EU-Verfassung). Und wir können sicher sein, dass die Befürworter eines strammen Rechtskurses Rostock zum Anlass nehmen werden, via Grundgesetzänderung den Einsatz der Bundeswehr im Innern möglich zu machen.

Den eifernden Ordnungspolitikern aller Couleur, die jetzt auf der Woge der Gewaltverurteilung daher kommen, muss der Spiegel vorgehalten werden, der die wahren Gewaltverhältnisse wieder ins richtige Licht rückt. Die Demonstration in Rostock hat das zunächst vorbildlich getan. An diesem Erfolg gilt es anzuknüpfen.