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Vor dem Verfassungsreferendum: Erdoğans «totaler Krieg» und das deutsche Kapital

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Reihe

Online-Publ.

Autor

Murat Çakır,

Erschienen

April 2017

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Leopard 2 A7, CC BY 2.0, AMB Brescia

Am 16. April wird über die Einführung des Präsidialsystems entschieden, das die absolute Herrschaft Erdoğans verfassungsrechtlich verankern soll. Jenseits von Erdoğans Interessen soll der sunnitische Konservatismus zementiert und die Unterstützung türkischer Kapitalfraktionen gesichert werden. Welche Haltung nehmen westliche Mächte zu diesem Projekt ein, welche Erwartungen kann eine demokratische Opposition an sie hegen?

Alle Beobachter*innen sind einhellig der Meinung, dass das Verfassungsreferendum am 16. April 2017 über die Einführung eines Präsidialsystems einen Wendepunkt in der türkischen Geschichte darstellen wird. Bekanntlich geht es bei diesem Referendum um die Änderung von 18 Artikeln der noch immer gültigen Junta-Verfassung. Die von der Militärdiktatur 1982 durchgesetzte Verfassung wurde bisher mehrfach geändert, doch an ihrem undemokratischen Wesen wurde nicht gerüttelt. Die Tatsache, dass in dem geplanten Präsidialsystem weder eine Gewaltenteilung vorgesehen ist, noch eine legislative Kompetenz des türkischen Parlaments vorhanden sein wird, deutet unmissverständlich auf die Etablierung einer Autokratie, die auf Erdoğan zugeschnitten ist. Zwar wird in den bürgerlichen Medien der BRD spekuliert, ob dieses Präsidialsystem Erdoğan überleben kann, aber ungeachtet dessen steht schon heute fest, dass unter den Bedingungen eines Präsidialsystems die nahe Zukunft der Türkei sehr düster sein wird.
Fraglich ist jedoch, ob mit der Einführung des Präsidialsystems wirklich ein Wendepunkt erreicht wird oder von einer Restaurierung eines Kapitalakkumulationsregimes gesprochen werden müsste, welches in der Kontinuität des Militärputsches vom 12. September 1980 steht. Immerhin wird ein «Ja» am 16. April 2017 nichts anderes bedeuten, als die derzeitige de facto Situation verfassungsrechtlich zu verankern. Abgesehen davon hat die «parlamentarische Demokratie» der Türkei seit langem kaum etwas mit einer «freiheitlich-demokratischen Grundordnung» zu tun. Mit der Verfassungsänderung von 2010 wurde die Unabhängigkeit der Justizorgane von der Regierung faktisch abgeschafft. Von einer Gewaltenteilung kann schon heute niemand sprechen. Aufgrund des praktizierten Feindstrafrechts verdient die Türkei das Prädikat Unrechtsstaat!
Mit der Einführung des Präsidialsystems wird die Gesetzgebungskompetenz des türkischen Parlaments ausgehebelt und das Regieren mit Dekreten sowie weitreichenden Befugnissen ermöglicht. Ohne Frage, das Präsidialsystem macht Erdoğan zum absoluten Alleinherrscher. Aber, ist er das nicht schon heute? Seine Partei stellt die hegemoniale politische Kraft, Erdoğan hat heute faktisch den gesamten Staatsapparat sowie die gleichgeschalteten Medien unter seiner Kontrolle. Warum also dann dieses Referendum? Geht es nur um Erdoğans Interessen? Wer steht hinter Erdoğan? Was ist nach dem 16. April zu erwarten – was bei einer «Nein»-, was bei einer «Ja»-Entscheidung? Welche Rolle spielen die EU, die NATO und insbesondere die BRD?

Eine demokratische Entscheidung?

Zuallererst ist festzustellen, dass eine Abstimmung unter den Verhältnissen des fortwährenden Ausnahmezustandes und ungleichen Bedingungen des politischen «Wettbewerbs» nicht als «demokratisch» bezeichnet werden kann. Kurz nach den Parlamentswahlen vom 7. Juni 2015 hatte Erdoğan den «totalen Krieg gegen den Terror» ausgerufen. Daraus ist ein «totaler Krieg» gegen die demokratische Opposition geworden. Der gescheiterte Putschversuch am 15. Juli 2016 kam einem «Segen Gottes» [1] gleich, den Erdoğan und die AKP zu nutzen wussten. Zehntausende wurden verhaftet, kritische Stimmen weggesperrt und oppositionelle Medien wurden zerschlagen. Die Co-Vorsitzenden Selahattin Demirtaş und Figen Yüksekdağ, mehrere Abgeordnete, Parteifunktionäre und Bürgermeister*innen sowie kommunale Mandatsträger*innen des Linksbündnisses HDP sind in Haft. Streiks sind verboten, Gewerkschaften entmachtet. 131 Journalist*innen sind im Gefängnis, nahezu 5.000 Akademiker*innen sowie tausende Beamte und Angestellte wurden entlassen. Während in den kurdischen Gebieten faktisch das Kriegsrecht herrscht und Kolonialpraktiken angewandt werden, sind die Kampagnenmöglichkeiten der Opposition stark eingeschränkt. [2] «Nein»-Befürworter*innen werden von Erdoğan persönlich als «Terroristen» diffamiert und öffentlich angeprangert. Sowohl die militarisierte Polizei als auch bewaffnete «zivile» Strukturen der AKP-Anhänger terrorisieren «Nein»-Aktivist*innen und verunmöglichen so deren Präsenz im öffentlichen Raum.
All diese Beispiele – und die Liste wäre noch zu erweitern – belegen, dass das Referendum in keiner Weise die Kriterien freier und gleicher Wahlen, also einer demokratischen Abstimmung erfüllt. Auch der Zwischenbericht des «Büros für Demokratische Institutionen und Menschenrechte der OECD» vom 7. April 2017 bestätigt dies. Nicht auszuschließen ist darüber hinaus, dass in den kurdischen Gebieten, wo eine hohe HDP-Zustimmung vorhanden ist, versucht wird, die Stimmabgabe zu erschweren oder gar zu verhindern. Gerade in den von militärischen Spezialkräften zerstörten Siedlungsgebieten ist das zu erwarten.
Weder die AKP noch ihre faktische Koalitionspartnerin, die neofaschistische MHP, scheinen ihre eigene Basis von der Notwendigkeit eines «Ja» überzeugt zu haben. Ministerpräsident Binali Yıldırım hat immer wieder erhebliche Argumentationsschwierigkeiten, die Unterschiede zwischen der heutigen Konstellation und der nach einer Verfassungsänderung nachvollziehbar zu erklären. Eins steht jedenfalls fest: Wenn das Regime sich seiner Zustimmung sicher wäre, dann bestünde kein Grund, die politische und mediale Opposition zu unterdrücken. Die Erfahrung aus der Parlamentswahl vom 7. Juni 2015, als die AKP unter einigermaßen fairen und gleichen Bedingungen ihre Mehrheit verlor, soll sich offensichtlich nicht wiederholen.
So setzt die AKP auf Repression und Stigmatisierung des «Nein»-Lagers, verherrlicht die Zeit der osmanischen Herrschaft, verteufelt kemalistische Eliten, befördert die gesellschaftliche Polarisierung, instrumentalisiert die Spannungen in den Beziehungen zur EU, beschwört innere wie äußere Feinde, verbreitet Angst durch Horrorszenarien und preist ihre Megaprojekte und den vermeintlichen wirtschaftlichen Aufschwung – um so einen nationalistischen und sunnitisch-konservativen Mehrheitsblock zu zementieren.

Was ist das Ziel des Referendums?

Als oberstes Ziel dieses Referendums kann die Zementierung der Machtverhältnisse zugunsten des türkischen Konservatismus genannt werden. Es geht aber auch darum, das derzeitige kapitalistische Verwertungssystem zu festigen und die Unterstützung sämtlicher Kapitalfraktionen zu sichern. Vor dem gescheiterten Putschversuch am 15. Juli 2016 konnte ein Machtkampf innerhalb der türkischen Bourgeoisie verfolgt werden, der sich in den Auseinandersetzungen um das Präsidialsystem manifestierte. Mächtige, mit internationalen Konzernen verquickte Kapitalgruppen lehnten eine Machtkonzentration bei Erdoğan ab, das einem Protektionsversprechen an die kleineren, mit dem politischen Islam verbundenen Kapitalgruppen und einer staatlichen Intervention in die Organisierung der kapitalistischen Konkurrenz gleich kam. Heute jedoch kann konstatiert werden, dass auch sie hinter Erdoğan stehen.

Diese Haltungsänderung hängt damit zusammen, dass Erdoğan momentan alternativlos erscheint und die AKP trotz Reibungen die politische Vertretung der gesamten türkischen Bourgeoisie wahrnimmt. Ein viel wichtigerer Faktor ist jedoch der Kriegsverlauf in Syrien und im Irak, welcher sich auf die türkische Bourgeoisie einigend auswirkt. [3] Auch wenn heute die AKP und die MHP auf der einen und die kemalistische CHP auf der anderen Seite des Referendumlagers stehen, so fungiert die militärische Bekämpfung der kurdischen Befreiungsbewegung in ganz Kurdistan – also auch in Syrien und im Irak – als Bindemittel eines nationalistischen Zweckbündnissen zwischen diesen drei Parteien. Dem außenpolitischen Fiasko des Neo-Osmanismus folgt ein altbekanntes außenpolitisches Muster: Die Verhinderung von kurdischen Autonomiebemühungen, die Ausspielung der russischen bzw. persischen Karte in den Beziehungen mit den westlichen Mächten, das Festhalten an der «türkisch-islamischen Synthese» als offizielle Staatsideologie, die Ablehnung der Übertragung von Souveränitätsteilen an die EU.

Kurz nach dem gescheiterten Putschversuch sah es danach aus, dass das Präsidialsystem auf Eis gelegt wurde. Es entstand ein Bündnis, in dem auch die im Rahmen der «Ergenekon-Prozesse» inhaftierten, aber danach freigelassenen Offiziere, die sog. «Eurasier», [4] ihren Platz gefunden hatten. Während die «Gülenisten» zu zehntausenden aus Ministerien, Staatsunternehmen, Militär-, Justiz- und Polizeiapparaten entfernt wurden, wurden die freigewordenen Plätze mit Kemalisten und Ultra-Nationalisten besetzt. [5] CHP und MHP sicherten ihre Unterstützung zu. Aber die CHP machte einen strategischen Fehler: Sie bestand darauf, ihre Kader im Außen- und Gesundheitsministerium einzusetzen, was die AKP entschieden ablehnte. Hinzu kam, dass die MHP und mit ihr die so genannten «Eurasier» auf der Installierung von Absicherungsmechanismen beharrten. Die MHP drängte auf einen Verfassungsdeal und die AKP wiederum sah ihre Chance gekommen, das Präsidialsystem durchzusetzen. Da, wie Sinan Birdal zutreffend beschreibt, ein Teil der «Eurasier» und der MHP sowie die kemalistische CHP mit dem Verfassungsdeal nicht zufrieden waren, konnte im Parlament keine notwendige Mehrheit hergestellt werden und es reichte nur für die Ausrufung eines Referendums.

Damit ist auch zu erklären, warum das «Nein» der CHP und der Nationalisten nicht das Gleiche bedeutet, wie das «Nein» der HDP und anderen linken Kräften. Während letztere die Installation einer Diktatur abwehren wollen und antidemokratische Zustände anprangern, sprechen die CHP, Abtrünnige der MHP und andere Nationalisten davon, dass die Alleinherrschaft Erdoğans die territoriale Einheit des Staates gefährde und ein autonomes Kurdistan ermöglichen würde. Weder die CHP noch die MHP-Abtrünnigen haben ein Problem damit, dass Abgeordnete der HDP inhaftiert sind, in den kurdischen Gebieten Kolonialpraktiken angewandt werden, Militäroperationen auf fremden Staatsgebiet stattfinden, der Ausnahmezustand aufrecht erhalten bleibt oder mit Streikverboten sowie wirtschaftsfreundlichen Dekreten die türkische Monopolbourgeoisie und internationale Konzerne umworben werden. Auch wenn die CHP kein monolithischer Block ist und durchaus linksliberale wie sozialdemokratische Teile beherbergt, hält sie als Ganzes, genau wie die AKP und die MHP, an der «Kolonie Kurdistan» fest und bleibt in der Gegnerschaft zu einer politischen Lösung der kurdischen Frage unnachgiebig. So entsteht ein halbherziges «Nein», das die Position der AKP stärkt und die repressiven Zustände im Vorfeld des Referendums verdeckt.
Ohne Frage, ein «Ja» am 16. April wird die Installation eines diktatorischen Regimes auf verfassungsrechtlicher Ebene zur Folge haben. Nach einem «Ja» ist auch zu erwarten, dass Erdoğan auf vorgezogene Parlamentswahlen drängen wird, um die Opposition weiter zu schwächen. Trotzdem werden Erdoğan und die AKP auf die Zusammenarbeit mit nationalistischen Kräften, kemalistischen Eliten und der Generalität angewiesen bleiben, weil die AKP nicht über genügend Kader verfügt, die alleine das Funktionieren des Staatsapparates gewährleisten können und die Armee immer noch eine NATO-Armee ist.

Doch was passiert, wenn – trotz allem – ein «Nein» herauskommt? Würden Erdoğan und die AKP dieses Ergebnis akzeptieren? Trotz gegenteiliger Behauptungen der AKP wird Erdoğan ein solches Ergebnis, was zur Schwächung seiner Machtposition führen könnte, mit Sicherheit zu relativieren versuchen. In diesem Fall besteht auch akut die Gefahr einer bürgerkriegsähnlichen Eskalation der Gewalt. Denn Erdoğan und die AKP verfügen über eine überdurchschnittlich bezahlte, personell mit AKP- und MHP-Militanten besetzte sowie mit Kriegsgerätschaft ausgestattete Armee von paramilitarisierten Polizeikräften. Zudem haben sie die massive Bewaffnung ihrer Anhängerschaft ermöglicht. Organisierte kriminelle Banden und bewaffnete «zivile» Strukturen wie die «Osmanenherde» haben unlängst Drohungen («Wir werden in eurem Blut baden», O-Ton des Mafiachefs Sedat Peker) ausgesprochen. Gänzlich ausgeschlossen kann diese Gefahr also nicht werden, zumal die kurdische Befreiungsbewegung ihren Fokus in Syrien und im Irak hat und die linke Opposition, die den Widerstand in westlichen Teilen leisten könnte, durch Repressionen und Zerschlagung geschwächt ist.

Das deutsche Kapital und die Türkei

Erdoğans harsche Rhetorik gegen Europa, seine «Nazi»-Vergleiche, die Inhaftierung des Journalisten Deniz Yücel als «deutscher Agent» auf der einen Seite und Auftrittsverbote für türkische Minister, «Erdoğan-Bashing» deutscher Medien, Forderungen nach Abbruch der EU-Beitrittsverhandlungen usw. auf der anderen Seite deuten darauf, dass die deutsch-türkischen Beziehungen zum Zerreißen gespannt sein müssten. In diesem Zusammenhang ist auch zu beobachten, dass innerhalb der deutschen wie türkischen linken Öffentlichkeit gewisse Hoffnungen aufkeimen und Erwartungen artikuliert werden. Als Führungsmacht der EU wird die BRD aufgefordert, «Erdoğan Einhalt zu gebieten», keine Rüstungsgüter mehr zu verkaufen, Erdoğan die «Einreise zum G20-Gipfel in Hamburg zu verweigern» und das «türkische Regime in die Schranken zu weisen». Aussichtsloses Unterfangen oder berechtigte Forderungen? Beides. Rüstungsverbote, Beendigung der Zusammenarbeit mit despotischen Regimen u. ä. sind berechtigte Forderungen einer demokratischen Gesellschaft an ihre Regierung und es gilt weiterhin für die Erfüllung dieser Forderungen zu streiten. Aber, es ist gleichzeitig ein aussichtsloses Unterfangen, solange die Machtverhältnisse nicht verschoben werden. Weder die CDU/CSU noch die SPD sind gewillt, die Zusammenarbeit mit dem türkischen Regime zu beenden.

Merkel machte bei ihrer Regierungserklärung Anfang März 2017 klar, dass eine Veränderung in der deutschen Türkeipolitik nicht ansteht. Sie machte deutlich, dass es nicht im deutschen Interesse sein kann, «dass sich die Türkei, immerhin ein Nato-Partner, weiter von uns entfernt». [6] Auch die bürgerlichen Medien, die ansonsten gegenüber Erdoğan mit Häme nicht sparen, argumentieren ähnlich. So schrieb schon Michael Martens in der FAZ vom 8. November 2016: «Ganz gleich, wie die Türkei sich entwickelt, ist es im türkischen und im europäischen Interesse, im Gespräch zu bleiben – es muss ja kein Beitrittsgespräch sein. Doch selbst wenn an Europas südöstlichen Grenzen ein Staat entstehen sollte, in dem dauerhaft und systematisch Oppositionelle gefoltert und Menschenrechte missachtet werden, wäre es notwendig, am Dialog mit dem Nato-Partner festzuhalten». Genau wie die regierungsnahe SWP, die empfiehlt, «die wirtschaftliche Abhängigkeit der Türkei von Europa zu nutzen». Die Zollunion soll zügig reformiert, auf Dienstleistungen sowie Landwirtschaft ausgeweitet, aber dabei auf «symbolische Politik» verzichtet werden. [7]

In welche Richtung die Aufrechterhaltung des Dialogs trotz der Betonung von Menschenrechten als universelle Werte letztlich ausschlägt, hat die BRD oft genug bewiesen. Enge Kooperationen mit despotischen und diktatorischen Regimen bilden keine Ausnahmen. Immerhin haben deutsche Rüstungskonzerne alleine 2016 Rüstungsgüter im Wert von 6,88 Milliarden Euro ins Ausland verkauft – darunter für rund 3,7 Milliarden Euro an Saudi Arabien, die Golf-Emirate und Katar. Die Begründung für die Zusammenarbeit mit despotischen Regimen kommt vom sozialdemokratischen Außenminister Sigmar Gabriel: Rüstungsexporte würden «im sicherheitspolitischen Interesse Deutschlands» erfolgen.

Welche Rolle spielt aber nun dieses «sicherheitspolitische Interesse Deutschlands» in den angespannten Beziehungen zur Türkei? Warum wird einerseits an der scharfen Rhetorik gegen Erdoğan festgehalten, Ermittlungen gegen türkische Geheimdienstler aufgenommen und Drohungen ausgesprochen, aber andererseits alles getan, damit «die Türkei sich nicht weiter von uns entfernt»?

Jenseits von Rüstungsexporten ist die Rüstungszusammenarbeit zu nennen. Die Türkei ist nicht nur einer der wichtigsten Absatzmärkte. Der militärisch-industrielle Komplex der Türkei, die sog. «Nationale Verteidigungsindustrie» die dem Staatssekretär für Verteidigungsindustrie unterstellt ist, ist für deutsche Rüstungskonzerne der wichtigste Hebel, die Rüstungsexportrichtlinien der Bundesregierung zu umgehen. [8] So wurde im Januar 2017 bekannt, dass die deutsche Rheinmetall, die türkische BMC (50 Prozent des Unternehmens hält das «Industrielle Komitee» der katarischen Streitkräfte) und der malaysische Rüstungskonzern Etika Strategi die Gründung der türkischen Tochtergesellschaft RBSS beschlossen haben. Das Gemeinschaftsunternehmen will Katar 1.000 gepanzerte Fahrzeuge verkaufen. Nach Medienberichten ist diese Initiative «Bestandteil einer aggressiven Marketingstrategie, die auf die Golfstaaten, den Nahen Osten und Zentralasien ausgerichtet ist». [9] Rheinmetall hat zudem noch ein Tochterunternehmen in der Türkei, das mit dem größten staatlichen Rüstungskonzern MKEK zusammenarbeitet. Aber auch andere deutsche Rüstungskonzerne sind mit von der Partie. Während der europäische Großkonzern Airbus mit dem türkischen Militärflugzeugbauer TAI und dem Raketenhersteller Roketsan kooperiert, liefert MTU Friedrichshafen den Dieselmotor für den neuen türkischen Kampfpanzer «Altay». Auch Krauss-Maffei-Wegmann ist in der Türkei aktiv und hat 2011 eine Tochterfirma in Istanbul eröffnet. Dank der Türkei sind so die «politischen Grundsätze der Bundesregierung für den Export von Kriegswaffen und sonstigen Rüstungsgütern», wie die Rüstungsexportrichtlinien heißen, nicht mal das Papier wert, auf denen sie geschrieben stehen.

Ein weiterer Grund für das Doppelspiel ist sicherlich die Aufrechterhaltung des im März 2016 mit dem NATO-Partner geschlossenen «Flüchtlingsdeals». Dazu meint Michael Thumann: «Das Flüchtlingsabkommen weist einen Weg, wie die EU in Zukunft mit der Türkei umgehen kann. Wenn es im Interesse beider Seiten ist, lassen sich mit Ankara Vereinbarungen schließen. Wer genau hinsieht, findet reichlich gemeinsame Interessen». [10] Thumann erinnert daran, dass die NATO weder der Türkei noch Griechenland trotz mehrerer Militärputsche die Tür gewiesen hat und empfiehlt, «wegen Erdoğan nicht die Nerven zu verlieren». Da über den «strategischen Wert» der Türkei viel publiziert wurde, wird darauf hier nicht näher eingegangen und auf die Endnote [11] verwiesen.

Interessenkollisionen

Diese und weitere Gründe, wie die Tatsache, dass über 6.000 deutsche Firmen in der Türkei produzieren und somit direkt vom türkischen Export profitieren, machen eine enge Zusammenarbeit mit einem Regime, «in dem dauerhaft und systematisch Oppositionelle gefoltert und Menschenrechte missachtet werden» möglich. Dennoch, darauf deuten die Spannungen hin, sind neben den vielen gemeinsamen Interessen auch Interessenkollisionen vorhanden.

Nachweislich sind das weder Menschenrechte und Folter noch Demokratie und Freiheiten. Es sind andere Gründe, und zwar – erstens – die Weigerung des AKP-Regimes, Teile ihrer Macht an die EU zu delegieren, also die Beschränkung der Souveränität zu akzeptieren. Mit dem extra für die Türkei erfundenen EU-Heranführungsprozesses sollte das schrittweise erreicht werden, was aber daran scheiterte, dass die AKP diesen Prozess für ihre eigenen Ziele instrumentalisierte. Für die AKP gilt: Zollunion: Ja! Aber die Erfüllung der «Kopenhagener Kriterien», besonders jene für Grundrechte und Freiheiten: Nein! Für das deutsche Kapital sind dagegen die supranationale Organisation und der EU-Binnenmarkt die wichtigsten Grundlagen, um die BRD zu einer globalen Ordnungsmacht formen zu können. Dies wird umso schwieriger, je weniger die EU-Peripherie kontrolliert werden kann und je mehr strategische Partner wie die Türkei eigene Ziele verfolgen.

Erdoğan beharrt auf der staatlichen Souveränität und versucht durch Neuorientierung strategische Optionen zu erhöhen. Deshalb sucht das Regime die Nähe der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SCO), was in der BRD – zweitens – auf keine Gegenliebe stößt. Die Türkei ist seit 2012 so genannter «Dialogpartner» der SCO und hat wiederholt ihr Interesse an einer Vollmitgliedschaft, zuletzt im November 2016, bekundet. Angesichts dieser «türkischen Charmeoffensive» ermahnt zum Beispiel die Bundesakademie für Sicherheitspolitik (BAKS), dass «bei der EU und den USA die Alarmglocken schrillen» sollten. [12] Auch wenn die BAKS die Chancen für eine türkische SCO-Mitgliedschaft, aufgrund Chinas «Risikovermeidungsstrategie» als gering einschätzt, reicht selbst eine unverbindliche Interessenbekundung eines strategischen Partners aus, um für Nervosität zu sorgen. Im Arbeitspapier wird das so formuliert: «Mit Blick auf Pekings Position in der Sache ist es wahrscheinlich, dass die türkische Integration in die SCO vorerst nicht über den Beobachterstatus hinausgehen wird. Dennoch stellt die bloße Tatsache, dass Ankara mehr denn je entschlossen scheint, eine Vertiefung der Beziehungen zur SCO in Erwägung zu ziehen, eine beträchtliche Herausforderung für die bestehende europäische Sicherheitsarchitektur und die transatlantische Sicherheitszusammenarbeit dar».

Als dritte Interessenkollision sind die Versuche der türkischen Führung zu nennen, ihre Rüstungsproduktion zu diversifizieren. Die Wiederannäherung an Russland scheint die Voraussetzungen dafür zu schaffen. Während die «Syrien-Gespräche» in Astana, die von Russland, Iran und der Türkei organisiert werden und bei denen diese drei Länder sich als Garantiemächte eines Waffenstillstands präsentiert haben, von den westlichen Mächten mit Befremden verfolgt wurden, schafft die Türkei Tatsachen. Nach dem Scheitern der Verhandlungen über den Kauf einer chinesischen Lizenz für Luftverteidigungsraketen wurde Anfang 2017 bekannt, dass Türkei und Russland über den Erwerb der Baulizenz des «Mobilen Mehrkanal-Luftabwehrraketensystem S-400 Triumph» verhandeln. Entgegen deutscher Warnungen, dass weder die chinesischen noch die russischen Raketen mit NATO-Standards kompatibel sind, machte Erdoğan deutlich, dass die Türkei zuerst für rund 4 Milliarden Dollar die S-400-Raketen kaufen und später diese selbst produzieren wolle, um ein vom Ausland unabhängiges Raketenschild zu errichten. Das ist in der Tat etwas, was die BRD alarmiert.
Eine vierte Kollision entsteht durch die Tatsache, dass die BRD die faschistoide Gülen-Bewegung protegiert. Während die AKP-Regierung die Gülen-Bewegung als «terroristische Organisation» einstuft und entsprechend verfolgt, sieht der Chef des Bundesnachrichtendienstes (BND), Bruno Kahl, keine Anzeichen dafür, dass diese Bewegung hinter dem gescheiterten Putschversuch stecke. Im Gegenteil, der BND-Chef erklärt öffentlich, dass die Gülen-Bewegung «weder islamistisch-extremistisch oder gar terroristisch» sei. Nach Ansicht von Kahl sei die Bewegung eine «zivile Vereinigung zur religiösen und säkularen Weiterbildung». Diese absurde Behauptung hat nichts mit Naivität oder Unkenntnis zu tun, sondern ist ein «Wink mit dem Zaunpfahl» in Richtung AKP. Um die Lesbarkeit dieses Artikels nicht über zu strapazieren, soll hier der Hinweis auf ein Artikel genügen, indem das wahre Gesicht der Gülen-Bewegung offen gelegt wird. [13]

Fazit

Das Konglomerat von gemeinsamen Interessen und Interessenkollisionen erschwert es für Außenstehende und weniger Informierte, die deutsch-türkischen Beziehungen einschätzen zu können. Linke in der BRD sollten sich von der pauschalen Vorstellung verabschieden, die Bundesregierung sei gewillt, dem antidemokratischen Treiben des AKP-Regimes Substantielles entgegenzusetzen. Die bisherige Praxis macht deutlich, dass die Türkei-Politik sich stets an geostrategischen Interessen orientiert. Das ist die Konstante seit Jahrzehnten, auf die die herrschenden Gruppen in der Türkei bauen können.

Die Tatsache, dass gegen 20 mutmaßliche türkische Spione Ermittlungen aufgenommen wurden, sollte nicht täuschen: Die geheimdienstliche, militärische und polizeiliche Zusammenarbeit zwischen den beiden Ländern gedeiht weiterhin prächtig. Entgegen der öffentlichkeitswirksam zur Schau gestellten Empörung der Bundesregierung wegen der Ausspähung von Gülen-Anhängern, greifen bundesdeutsche Behörden bei repressiven Verfahren gegen kurdische und türkische Aktivist*innen gerne und unverblümt auf «geheimdienstliche Informationen» aus der Türkei zurück. Die Bundesregierung setzt die AKP-Politik gegen die linke Opposition in der BRD um. Was bei den Gülen-Leuten skandalisiert wird, wird bei Verfahren gegen kurdische und türkische Aktivist*innen von der Generalbundesanwaltschaft als Beweismittel verwertet. [14]

Daher ist davon auszugehen, dass die Bundesregierung auch ein positives Ergebnis des Verfassungsreferendums als eine «demokratische Willensbildung einer befreundeten Nation» akzeptieren und weiterhin auf enge Kooperation mit dem AKP-Regime setzen wird. Ein Ausscheren der Türkei aus dem westlichen Bündnis würde einen immensen Machtverlust beziehungsweise einen Schlag gegen die geopolitischen Ambitionen als aufstrebende Weltmacht bedeuten. Beide Seiten wissen, dass die gemeinsamen Interessen langfristig überwiegen. Eine Diktatur an der südöstlichen Flanke Europas, die im Bund mit der BRD in der Region agiert und die politischen wie ökonomischen Erwartungen des deutschen Kapitals erfüllt, ist ein viel «besserer» Partner als ein demokratischer Staat, dessen Regierung sich an Frieden und sozialer Gerechtigkeit orientiert und die neoliberalen Diktate sowie imperialistischen Strategien hinterfragt – egal, ob daran Menschen zugrunde gehen oder nicht.

Auch wenn die Installation einer Autokratie bevorsteht und die Hegemonie des türkischen Konservatismus wie in Beton gegossen scheint, gibt es keinen Grund, die Flinte ins Korn zu werfen. Auch wenn die Opposition, vor allem linke und sozialistische Kräfte geschwächt sind, wird die Hoffnung für eine bessere Zukunft der Türkei bestehen, solange noch Menschen da sind, die für Frieden, Demokratie, Gleichberechtigung, Freiheiten und soziale Gerechtigkeit kämpfen. Im Rahmen der «Nein-Kampagne» sind unterschiedliche gesellschaftliche Gruppen zusammengekommen, haben gelernt, zusammen zu kämpfen und sich für einander einzusetzen. Die Herausforderung, ein breites gesellschaftliches Bündnis für Demokratisierung, soziale Gerechtigkeit und für eine friedliche Lösung der kurdischen Frage aufzubauen, muss gemeistert werden. Jede «Nein»-Stimme ist die Stimme einer potentiellen Bündnispartner*in und wird die Hoffnung auf ein breiteres Bündnis nähren.
Linke Internationalist*innen sollten alle Demokrat*innen unterstützen, die sich gegen die AKP-Diktatur wenden und ihnen in ihrem Bemühen für eine bessere Zukunft beistehen. Hierfür müssen zuallererst im eigenen Lande die Verhältnisse zum Tanzen gebracht werden. Wer Erdoğan und Konsorten bekämpfen will, muss sich dem deutschen Kapital, vor allem den deutschen Rüstungskonzernen entgegenstellen.

Dieser Artikel ist zuerst erschienen am 11.4.2017 im Blog Infobrief Türkei

[1] Errol Babacan, Der fingierte Putsch – Gottes Segen, in: Infobrief Türkei
[2] Joachim Becker, Türkei: Verfassungsreferendum im Ausnahmezustand, in: Infobrief Türkei
[3] Errol Babacan, Die Türkei: Abkehr des Westens, Diktatur und Staatskrise, in: Infobrief Türkei
[4] Sinan Birdal, Atlantiker, Eurasier, Nationalisten – turbulente Koalitionen der AKP, in: Infobrief Türkei
[5] Murat Çakır, Die neuen Stützen des AKP-Regimes, RLS-Standpunkte 23/2016
[6] Süddeutsche Zeitung vom 9. März 2017
[7] Günter Seufert, Die Türkei wird Teil des Nahen Ostens, in: SWP Berlin, ›Krisenlandschaften‹ Ausblick 2017, Januar 2017, S. 39-42.
[8] https://www.bmwi.de/Redaktion/DE/Downloads/A/aussenwirtschaftsrecht-grundsaetze.html 
[9] https://www.nachrichtenxpress.com/2017/01/tuerkei-und-deutschland-kooperieren-im-ruestungssektor/ 
[10] Michael Thumann, Abschied von Europa. Erdogans Politik zum Trotz: Ein Abbruch der Beitrittsgespräche wäre falsch, in: Internationale Politik 2, März / April 2017, S. 71-75.
[11] Murat Çakır, «Noble Einsamkeit» und strategische Prioritäten – Über die vermeintlichen Verwerfungen in den deutsch-türkischen Beziehungen
[12] Jan Gaspers/Mikko Huotari/Thomas Eder, Kann die Türkei die Shanghai-Karte ausspielen?, in: Arbeitspapier Sicherheitspolitik, Nr.: 6/2017.
[13] Nick Brauns/Murat Çakır, Die faschistoide Vorfeldorganisation. Über die Gülen-Bewegung und ihre Verstrickung in den gescheiterten Putschversuch in der Türkei
[14] Nick Brauns, Deutsche Doppelmoral, in: Tageszeitung junge Welt vom 7. April 2017