Publikation Ungleichheit / Soziale Kämpfe - Rassismus / Neonazismus - Staat / Demokratie - Parteien / Wahlanalysen - International / Transnational - Europa - Westeuropa - Autoritarismus Identitätsstiftung über Feindbilder

Die programmatische Entwicklung des Front National von 2012 bis 2017

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Reihe

Online-Publ.

Autor

Marian Krüger,

Erschienen

April 2017

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Aus: «Die Präsidentin» von Durpaire & Boudjellal © Éditions des Arènes, et Demopolis, 2015 Für die deutsche Ausgabe: © 2016 Verlagshaus Jacoby & Stuart, Berlin

Der Front National (FN) nimmt gegenüber anderen rechtspopulistischen Parteien in Europa eine Sonderstellung ein. Er grenzt sich von neoliberaler Politik ab, verspricht umfangreiche Sozialprogramme und setzt auf Reregulierung. Für diese politische Ausrichtung, die mit wachsender Unterstützung in Arbeiter- und Angestelltenmilieus korreliert, steht vor allem das Präsidentschaftsprogramm von 2012.[1] Das im Februar 2017 in Lyon vorgestellte neue Programm ist dessen komprimierte, in einigen Punkten entschärfte, in anderen verschärfte Version. [2] Für den FN geht es programmatisch nicht primär um Konsistenz, sondern um eine optimierte Zielgruppenansprache, Autoritätsgewinn und Identitätsstiftung über Feindbilder. Von rechts werden, gerade in Deutschland, Marine Le Pens «Pläne für eine Umverteilung von oben nach unten» als «sozialistisch» kritisiert. Doch diese, übrigens unberechtigte, Kritik macht den FN nicht zu einer linken Partei.
 

Deutsche und französische Perspektiven

Der Front National will den Bruch mit der Gemeinschaftswährung Euro. Dabei kann die Partei auf die negativen ökonomischen Entwicklungstendenzen für Frankreich, die im Unterschied zu Deutschland mit dem Euro verbunden sind, verweisen. «Seit Einführung des Euro sank der Anteil der Industrie am französischen Bruttoinlandsprodukt (BIP) von 18 auf 12,6 Prozent»[3] (Stand 2013). In Deutschland blieb der Anteil der Industrie dagegen in etwa konstant. Das französische Handelsbilanzdefizit betrug 2013 über 100 Milliarden Euro.[4] Vor der Euro-Einführung konnte Frankreich mit der Abwertung des Franc auf diese Probleme reagieren. Nun liegt die Währungspolitik bei der Europäischen Zentralbank. Und da Frankreich überdies im Korsett des europäischen Fiskalpaktes steckt, reagierten sozialistische wie konservative Regierungen – nicht zuletzt auch auf deutschen Druck hin – auf diese Lage, indem sie soziale Standards etwa beim Rentenalter oder beim Kündigungsschutz abbauten. So fallen die Argumente des FN, der den Euro als soziale Existenzbedrohung darstellt, bei einem Teil der Bevölkerung auf fruchtbaren Boden.

Dass die Deindustrialisierung kein exklusiv französisches Problem ist, sondern der Rückgang des Anteils der Industrie am BIP fast alle EU-Staaten betrifft, ist für den FN kein Grund, nach Lösungen auf europäischer Ebene zu streben. Dabei spielt die Politik der EU-Kommission der Partei eher in die Hände: Die Kommission hat zwar im Herbst 2012 das Ziel ausgegeben, den Industrieanteil in Europa bis 2020 wieder auf 20 Prozent zu steigern, kann dabei aber angesichts der von ihr selbst verordneten Fiskalpolitik kaum Erfolge vorweisen.[5]

Ohne die französische Perspektive auf die volkswirtschaftlichen Auswirkungen der Gemeinschaftswährung ist der Aufstieg des FN nicht zu verstehen. Die allgemeine Verweigerung der deutschen Politik, die Wirkungen des Euro durch eine Lockerung des Fiskalpaktes abzufedern, haben dem FN mit seinem strikten Anti-Euro-Kurs neue Legitimation als Vertreter französischer Interessen verschafft.
 

Deutsche Fehlwahrnehmungen

Die Abgrenzung, die die Spitzenkandidatin des FN, Marine Le Pen, zur europäischen Austeritätspolitik betreibt, stößt bei den anderen europäischen Rechtsparteien auf Ablehnung. So hebt Alexander Gauland (AfD) immer wieder hervor, dass der FN «sozialistisch» sei, was wenig über die Programmatik des FN aussagt, sondern mehr darüber, was im bürgerlichen Spektrum Deutschlands gerade unter Sozialismus verstanden wird. So erklärt etwa Frank Baasner, der Direktor des Deutsch-Französischen Instituts in Ludwigsburg: «Der FN ist nationalistisch, fordert den Stopp jeglicher Zuwanderung und möchte durch eine Steuerreform Unternehmen zwingen, ihre Gewinne im Land zu reinvestieren. Seine Pläne für eine Umverteilung von oben nach unten sind sozialistisch. Er hat sich die Rente mit 60, höhere Steuern für Reiche und die mögliche Verstaatlichung von Privatunternehmen auf die Fahne geschrieben.»[6] Ganz in diesem Sinne bescheinigt die ZDF-Journalistin Katharina Sperber dem FN auch noch, «marktfeindlich und antikapitalistisch»[7] zu sein. Angesichts des elaborierten FN-Steuersenkungsprogramms, der Absage an Umverteilungskonzepte und alter Verstaatlichungsforderungen ist dies eine krasse Fehleinschätzung.

Die Kritik, die von AfD bis ZDF an der «sozialistischen» Politik des FN geübt wird, interessiert sich vor allem für dessen Weigerung, Sozialabbau nach dem Muster der deutschen Agenda 2010 zu forcieren. Die vom FN gepredigte institutionalisierte Diskriminierung von Migranten regt sie dagegen viel weniger auf.
 

Bruch mit dem Neoliberalismus?

Marine Le Pen sucht die Konfrontation mit den Wirtschaftsverbänden. 2011 bezeichnete Laurence Parisot, die damalige Präsidentin des Arbeitgeberverbandes Mouvement des enterprises de France (MEDEF), den vom FN geforderten Euro-Austritt als «Delirium». «Nichts» gefalle dem MEDEF am Wirtschaftsprogramm des FN. Marine Le Pen schlug umgehend zurück: Die «Repräsentantin des globalisierten Großkapitals» habe es schon ganz richtig erkannt, der FN stehe für eine «totale Absage an die ultraliberalen Dogmen des MEDEF und seiner verlängerten Arme in der Politik der UMP[8] und der Sozialistischen Partei. […] Nichts gefällt uns am Wirtschaftsprogramm des MEDEF, das darin besteht, unsere Arbeitnehmer einer unloyalen Konkurrenz mit der ganzen Welt auszusetzen, uns in das europäische Korsett zu zwängen und unser Land einer Waffe zu berauben, die durch 95 Prozent der Länder der Welt benutzt wird – die Währung».[9]

Das Programm von 2012 und noch deutlicher das von 2017 enthalten jedoch alles andere als eine «totale Absage» an wirtschaftsliberale Positionen.

Der FN kritisiert einzelne Elemente der neoliberalen Agenda, wie etwa die Deregulierung und den Freihandel, in anderen Bereichen vertritt er ein typisch liberales Steuersenkungsprogramm. Im Vergleich zum Programm von 2012 wurden aktuell einige prominente Forderungen, die Konzerne und Banken belastet hätten, zurückgenommen und Regulierungsforderungen abgeschwächt. Die Partei verspricht zwar soziale Besitzstandsgarantien für einzelne Gruppen, wie zum Beispiel Rentner. Bezahlen soll diese Politik jedoch das ausländische Kapital durch Importabgaben bzw. Migranten durch Einsparungen in den Sozialsystemen.
 

Programmatische Übereinstimmungen und Differenzen von 2012 und 2017

Der FN positioniert sich als Staatspartei und grenzt sich gegenüber den beiden anderen großen französischen Parteien – Les Républicains (LR) und Parti socialiste (PS) – ab. Die Politik der konservativen und sozialistischen Regierungen stehe für eine Schwächung des Staates. In Frankreich stünden in diesem Jahr, so Le Pen in ihrem Vorwort, zwei Zukunftsvisionen zur Wahl: die der «Patrioten» und die der «Mondialisten».

Ein zentraler Programmpunkt von 2012 ist die Wiederherstellung eines starken Staates («la restauration d’un Etat fort»). Hier geht es nicht nur um die auch bei anderen europäischen Rechtsparteien üblichen Law-and-Order-Parolen. Das Konzept umfasst sowohl wirtschafts- und sozialpolitische Ordnungsvorstellungen als auch außen- und militärpolitische Ziele.

Im Programm von 2012 steht der starke Staat für das Primat der Politik über die Wirtschaft einschließlich der Wiederherstellung einer nationalen Währung und einer staatlich gesteuerten Reindustrialisierung Frankreichs. Dies schließt Eingriffe in die Preis- und Lohnpolitik ein. Neue Zollschranken sollen gegen die Globalisierung errichtet werden. Die Dezentralisierung, die unter dem sozialistischen Präsidenten François Mitterand vor vier Jahrzehnten eingeleitet und unter den folgenden Regierungen weiter vorangetrieben wurde, habe den Staat geschwächt und soll rückgängig gemacht werden.

2017 operiert der FN nicht mehr mit dem Begriff des Etat fort, die mit ihm verbundenen Inhalte werden jedoch teilweise übernommen, teilweise in einigen bezeichnenden Punkten abgeschwächt:

  • Neuverhandlungen der EU-Verträge; französisches Recht soll Priorität gegenüber dem EU-Recht erhalten. Der FN will zurück zur nationalen Währung, da der Euro Frankreichs internationale Wettbewerbsposition geschwächt hat. Allerdings bleibt in beiden Programmen letztlich offen, was für den Fall des Scheiterns der Neuverhandlungen getan werden soll. Frankreich werde dann «an seinen Prinzipien festhalten», heißt es dazu sibyllinisch im Text von 2012, während im neuen Programm dazu keine Aussagen gemacht werden. Der FN betont auch 2017 seine Gegnerschaft zum Freihandel und lehnt TTIP und Ceta ab.
  • Der FN will die Geldpolitik der Notenbank verstaatlichen zum Zweck besserer öffentlicher Refinanzierungsbedingungen. Die Zinssätze der Staatsverschuldung sollen so dem Einfluss der internationalen Finanzmärkte entzogen werden.
  • Für den privaten Bankensektor wird eine gesetzliche Halbierung der Dispozinsen versprochen. Folgende Forderungen wurden im neuen Programm fallen gelassen: die gesetzliche Trennung von Depositen- und Investmentgeschäft, die Verstaatlichung von Banken in «Notfällen». Von der staatlichen Regelung der Höhe der zulässigen Bankgebühren ist nicht mehr die Rede ebenso wenig wie vom Verbot von spekulativen Finanzprodukten und einer globalen Transaktionssteuer. Das Regulierungs- und Verstaatlichungsprogramm im Privatbankensektor ist eingestellt.
  • 2012 sollten noch die 50 größten Unternehmen zur Finanzierung der Reindustrialisierung Frankreichs 15 Prozent ihrer Gewinne in einen rückzahlbaren Fonds einbringen. 2017 setzt man dagegen ganz auf Protektionismus: zusätzliche Besteuerung der Beschäftigung von Ausländern, die jährlich zwei Milliarden Euro einbringen soll,[10] und Importverbote für ausländische Waren, die nicht französischen Normen entsprechen. Diese Politik soll durch Grenzkontrollen und Zölle flankiert werden.
  • Der öffentliche Sektor nahm 2012 noch einen zentralen politischen Platz in der Programmatik ein. 2017 ist keine Rede mehr vom allgemeinen Stopp des Personalabbaus, der Rekommunalisierung der Wasserversorgung und der Einführung von Privatisierungsbremsen auf nationaler Ebene und in allen Gebietskörperschaften. Der FN ist allerdings bei seiner Forderung geblieben, die Energietarife für Gas und Strom staatlich festzusetzen.
  • Die Abgrenzung zum Personalabbau im öffentlichen Dienst war ohnehin auch 2012 widersprüchlich. Im Bereich der Regionalverwaltungen wollte der FN schon damals pauschal sparen.[11] 2017 ist dieser Ansatz verschärft worden: Nunmehr soll die gesamte Regionalebene der Verwaltung zugunsten eines dreigliedrigen Staates mit dem Ziel des Abbaus von Kosten abgeschafft werden. Der FN strebt also danach, die Austeritätspolitik zu dezentralisieren.
Sozialpolitische Zielgruppen

Verbrauchern und Gewerbetreibenden werden Strom- und Gaspreissenkungen durch staatliche Regulierungsmaßnahmen in Aussicht gestellt. Die Strom- und Gastarife sollen um fünf Prozent gesenkt werden. Den Arbeitnehmern und Rentnern wird die Wiederherstellung der Rente mit 60 versprochen, wer 40 Jahre gearbeitet hat, soll in Rente gehen können. Beschäftigte im Niedriglohnsektor (bis 1.500 Euro) sollen staatliche Lohnzuschüsse erhalten, die durch eine dreiprozentige Sozialabgabe auf Importe finanziert werden sollen. 2012 war von 200 Euro pro Monat die Rede, 2017 sind es nur noch «durchschnittlich 80 Euro».[12] Die 35-Stunden-Woche soll nicht angetastet werden. Die umstrittenen Arbeitsmarktreformen der sozialistischen Regierung («El-Khomri-Gesetz»)[13] will Le Pen zurücknehmen. Die Forderung einer stärkeren Besteuerung der Öl- und Gasunternehmen, bei einer 20-prozentigen Senkung der Mineralölsteuer zugunsten der Autofahrer, kommt nicht mehr vor.

Dennoch hat die Sozialpolitik nicht an Profil verloren, weil eine Reihe von Forderungen, die Rentner, Arbeitnehmer und Familien betreffen, hinzukommen: Steuerbefreiungen von Rentnern mit Mehrkindfamilien, die Wiederherstellung von Familienzuschlägen bei Soziallleistungen, die Erhöhung der Beihilfen für Menschen mit Behinderung um 20 Prozent, Steuersenkungen für Arbeitnehmer und Mieter kleiner Wohnungen. So sollen Unternehmen für zwei Jahre alle Aufwendungen für die Anstellung eines Jugendlichen unter 21 Jahren erstattet bekommen und Studenten eine Praktikumsplatzgarantie erhalten. Damit wendet sich der FN dem Problem der hohen Jugendarbeitslosigkeit (25 Prozent) zu.
 

Feindbild Migration

Migration und Multikulturalismus werden in der Sprache des FN verschwörungstheoretisch zu Synonymen der Fremdsteuerung und Fremdbestimmung erklärt: Die Migration sei kein «humanistisches Projekt, sondern eine Waffe im Dienst des großen Kapitals». Auch der «angelsächsische Multikulturalismus» müsse zur Verteidigung «unserer republikanischen Werte» zurückgewiesen werden, heißt es im Wahlprogramm von 2012. «Antifranzösischer Rassismus», der als strafverschärfender Tatbestand eingeführt werden soll, ist das einzige Rassismusproblem, dessen Existenz der FN anzuerkennen gewillt ist.

Integration hat keinen Platz im Programm. Migranten sind grundsätzlich negativ konnotiert: Kriminalität, Sozialbetrug, Wohnungsnot, Arbeitsplatzmangel und andere problematische Entwicklungen werden mit ihrer Anwesenheit verbunden. Diese sozialpolitische Logik des FN folgt einem simplen Prinzip: Weniger für die Migranten bedeutet mehr für die Franzosen. Da Le Pen den französischen Reichtum nicht höher besteuern will, ist sie zur Plausibilisierung ihrer sozialen Ausgabenprogramme auch ökonomisch auf das Feindbild des Migranten angewiesen.

Die legale Migration soll auf 10.000 Personen (zurzeit 200.000) pro Jahr beschränkt werden. Einwanderung soll künftig als Privileg für besonders talentierte Menschen gehandhabt, die Einbürgerung nach dem Ius soli (Geburtsortsprinzip) abgeschafft werden. Das Programm von 2017 fordert außerdem die Abschaffung der doppelten Staatsbürgerschaft für Nicht-EU-Angehörige.

Die Gültigkeit der zehnjährigen Aufenthaltsgenehmigung soll auf drei Jahre beschränkt werden. Die Möglichkeit, illegale Migranten zu legalisieren, soll rechtlich ausgeschlossen und alle Illegalen sollen abgeschoben werden. Zudem fordert der FN ein Demonstrationsverbot für illegale Migranten.

Obwohl die Programmatik einen rigiden Grundton gegen Migranten einschlägt, enthält sie durchaus auch Angebote für bestimmte Migrantengruppen. Das betrifft Veteranen der französischen Kolonialarmee und -verwaltung, die mehr öffentliche Anerkennung und höhere Renten erhalten sollen. Auch wenn diese Forderungen 2017 nicht mehr auftauchen, ist davon auszugehen, dass sich der FN weiterhin um diese Gruppen bemüht.

Ein spezifischer Programmpunkt ist die Verteidigung der Laizität, das heißt der französischen Form der Trennung von Religion und Staat. Mit der Aufnahme der Laizität in sein programmatisches Arsenal kapert der FN ein Konzept der antiklerikalen französischen Linken, um es gegen Muslime zu verwenden: Möglichst alle muslimischen Symbole sollen aus der Öffentlichkeit verbannt werden. Außerdem will der FN Zuwendungen an muslimische Vereine einstellen. Dagegen wird die staatliche Finanzierung katholischer Privatschulen nicht infrage gestellt.
 

Absage an linke Umverteilungspositionen

Der FN profiliert sich in beiden Programmen zwar mit der Botschaft, den Abbau des französischen Wohlfahrtsstaates zu stoppen. Zugleich erteilt er der klassischen linken Umverteilungspolitik eine Absage, die den Erhalt und den Ausbau des Sozialstaates mit einer stärkeren Besteuerung von Großunternehmen, Vermögen und hohen Einkommen verbindet.

Stattdessen bietet die Partei steuerpolitisch ein Schonprogramm für französische Reiche und Großunternehmen. 2017 sind zudem alle früheren Forderungen nach einer zumindest partiell höheren Besteuerung großer Unternehmen und nach Unternehmensabgaben für die Reindustrialisierung ebenso getilgt worden wie die Forderung nach einer Luxussteuer. Das Programm stellt klar, dass der FN den Finanzbedarf für seine Politik durch Einsparungen im «Management der sozialen Sicherungssysteme» und durch die Bekämpfung von Sozial- und Steuerbetrug sowie durch Einsparungen bei Ausgaben für die EU und für Migranten erbringen will. [14] Hinzu kommen Kürzungen bei den Regionalverwaltungen. Damit will die Partei in fünf Jahren einen haushaltspolitischen Spielraum von rund 60 Milliarden Euro schaffen. Versprach sie 2012 noch eine Nulldefizit-Politik, will sie nun sogar Haushaltsüberschüsse erzielen. Insgesamt geht der FN von einer Senkung der öffentlichen Ausgaben um 1,7 Prozent aus.[15]

Allerdings hat der FN 2017 sein steuerpolitisches Zielgruppenspektrum verbreitert. Wandte er sich 2012 hierbei noch vor allem an Gewerbetreibende, kleine und mittlere Unternehmen, umwirbt er nun stärker Arbeitnehmer. Neun Millionen Franzosen wird eine Steuerbefreiung von Überstunden versprochen. Mit Ausnahme der höchsten Steuerklasse soll es eine zehnprozentige Senkung der Einkommenssteuer geben. Darüber hinaus sollen die Freibeträge für Erbschaften und Schenkungen erhöht werden. Der Steuersatz für kleine und mittlere Unternehmen soll sinken. Allein die durch den FN konkret quantifizierten Steuersenkungsmaßnahmen machen einen Betrag von 22 Milliarden Euro aus.

Die Steuerpolitik der Partei ist insgesamt disparat. Sie zielt auf den Beifall einzelner Interessengruppen, nicht auf eine schlüssige Finanzierungsbasis für die Ausgaben. Vielmehr müssen die üblichen Verdächtigen auch finanzpolitisch die Lückenbüßer spielen: Migranten, die EU und ausländische Unternehmen.

Lohnpolitisch will der FN die Subventionierung des Niedriglohnsektors ausweiten. Leiharbeit und Prekarität kommen in beiden Programmen nicht vor. Die geplanten Lohnzuschüsse für Niedriglöhner müssen wegen ihrer Finanzierung durch Importabgaben kritisch betrachtet werden, da der Einkommenszuwachs durch den damit verbundenen Preisauftrieb wieder entwertet wird.
 

Rollback bei den Grundrechten

Neben Migranten sind vom grundrechtspolitischen Rollback auch andere Gruppen betroffen. Der FN will die unter dem jetzigen Präsidenten François Hollande eingeführte gleichgeschlechtliche Ehe abschaffen. Der Gründer des FN, Jean-Marie Le Pen, diffamierte Homosexualität noch als «Anomalie». Marine Le Pen machte mit Florian Philippot einen Homosexuellen zu einem ihrer Stellvertreter. Statt der gleichgeschlechtlichen Ehe befürwortet der FN die Institution des zivilen Lebenspaktes, der in Frankreich seit 1999 besteht.

Familienpolitik soll wieder Geburtenpolitik werden, die Schule wieder zu einer Institution der Disziplinierung. Mit dem Argument der Bekämpfung des Sozialbetruges werden rechtsstaatlich höchst bedenkliche Maßnahmen propagiert, wie die Einführung einer biometrischen Gesundheitskarte oder eines Totalausschlusses aus den Sozialsystemen. So forderte der FN 2012, dass existenzielle Sozialleistungen für rückfällige Straftäter (Gesundheit, Wohnen, Grundsicherung) eingestellt werden.

Zum Feindbild des FN gehören ebenfalls die Gewerkschaften, deren Rechte er beschneiden will. 2012 kündigte die Partei an, die mit der Befreiung 1945 eingeführten Gewerkschaftsrechte reformieren zu wollen. Das Vertretungsmonopol der Gewerkschaften und die Regelungen für die Wahl von Arbeitnehmervertretern sollen überprüft werden. Dabei kritisiert der FN die Streikorientierung der Gewerkschaften, die offenbar nicht in das Szenario des «Wirtschaftspatriotismus» passt. 2017 wird im Programm eine gesetzliche Offenlegung der Gewerkschaftsfinanzierung gefordert.
 

Der FN stellt die Machtfrage

Während es dem FN 2012 vor allem um Veränderungen in der Machtverteilung von Zentralregierung und Regionen ging, wird nun eine umfassendere Reform des politischen Systems formuliert, die sowohl plebiszitäre als auch autoritäre Elemente umfasst. Nach britischem Vorbild wird ein Referendum über die Zugehörigkeit zur EU angestrebt. Überdies sollen obligatorische Referenden für Verfassungsänderungen eingeführt und das Initiativrecht des Präsidenten für Volksabstimmungen gestärkt werden. 500.000 Wähler sollen künftig ein Referendum initiieren können.

Der FN will das Wahlrecht ändern. An die Stelle des bestehenden Mehrheitswahlrechtes soll ein Verhältniswahlrecht mit Fünf-Prozent-Hürde treten. Die Zahl der Abgeordneten der Nationalversammlung soll von 577 auf 300 und die Anzahl der Senatoren von 348 auf 200 reduziert werden. Außerdem soll ein Mehrheitsbonus von 30 Prozent der Sitze eingeführt werden. Dies würde insgesamt der republikanischen Front – die die Linken und die Konservativen bislang jeweils im zweiten Wahlgang der Parlaments- und Regionalwahlen gegen den FN zu bilden pflegen – die politisch-juristische Basis entziehen. Die parlamentarische Marginalisierung des FN wäre so nicht nur mit einem Schlag beendet, sondern die einstige Minderheitspartei könnte nach den aktuellen Kräfteverhältnissen eine Einparteienregierung anstreben.

Kein Wort der Kritik findet sich dagegen zum Ausnahmezustand, der Ende 2015 nach den Terroranschlägen in Paris verhängt und danach immer wieder verlängert worden ist. Die offizielle Notstandspolitik liefert damit auch eine neue Legitimationsgrundlage für die Grundrechte suspendierende Politik des FN im Bereich der inneren Sicherheit.
 

Innere und äußere Aufrüstung

Schon 2012 betonte der FN, dass es keine «große Nation ohne große Armee geben» könne. Die französische Industrie soll bei Rüstungsaufträgen bevorzugt und die Wehrpflicht wieder eingeführt werden. In der Erklärung von 2017 ist das Aufrüstungsprogramm bedeutend verschärft. Außerdem fordert der FN eine neue Nationalgarde von 50.000 Mann. Die Mindestausgaben für das Militär sollen bei zwei Prozent des BIP verfassungsmäßig festgeschrieben werden. In fünf Jahren sollen sie auf drei Prozent steigen. Das heißt, bei Ausgaben von circa 50,9 Milliarden US-Dollar (46,9 Milliarden Euro) [16] würde der Wehretat nicht nur auf über 73 Milliarden Euro steigen,[17] sondern durch die Indexierung am BIP bestünde auch noch eine Verpflichtung, die Ausgaben jährlich zu steigern. Der FN plädiert für eine «Politik des Meeres» und die «entscheidende Bedeutung einer mächtigen französischen Kriegsflotte». Dies muss auch vor dem Hintergrund der enormen Ausdehnung der Wirtschaftszonen der französischen Überseedepartments verstanden werden.

In der Außenpolitik geht es im Programm um die Lockerung der transatlantischen Bindungen. Die französischen Streitkräfte sollen nicht mehr dem Kommando der NATO unterstellt sein, damit «Frankreich nicht in Kriege hineingezogen [wird], die nicht die seinen sind». Die Außenpolitik soll stärker an einer «multipolaren Welt» ausgerichtet werden. Im Programm von 2017 wird allerdings auf den expliziten Verweis auf alternative Bündnisoptionen mit Russland verzichtet.

Im Inneren sollen Polizei und Justiz massiv ausgebaut werden: 40.000 neue Haftplätze und 15.000 neue Polizeistellen. 2012 trat der FN noch für 19.000 neue Stellen ein. Neu hinzu kommt die Forderung nach der Wiedereinrichtung von 6.000 Stellen beim Zoll.

Die Strafrechtspolitik des FN kennt nur eine Richtung: härtere Sanktionen und Abbau von Bürgerrechten. Der rechtliche und operative Handlungsrahmen von Polizei und Justiz soll ineinander verschmelzen. 2017 wurde jedoch mit dem Verzicht auf die Forderung nach Wiedereinführung der Todesstrafe eine taktisch motivierte symbolische Entschärfung des Programms vorgenommen.

In beiden Programmen wird die Zerschlagung der «Netzwerke des Banditentums», soll heißen die Kriminalität von Migranten, in den Mittelpunkt gestellt. Neu hinzu kommen Forderungen, um den «Terrorismus aus[zu]rotten». In rechtsstaatlicher Hinsicht bemerkenswert ist dabei die Forderung, dass hierbei nicht nur konkrete Gesetzesverstöße und andere Tatbestände sanktioniert werden sollen, sondern bereits «Verbindungen» und «Kontakte» zum «radikalen Islamismus» bzw. zu «dschihadistischen Strömungen» zu Abschiebungen und zur Aberkennung der französischen Staatsbürgerschaft führen sollen. Der FN will die Präventivhaft einführen, und Staatsbürger, die mit ausländischen Organisationen in Kontakt stehen, die feindliche Akte gegen Frankreich ausführen könnten, sollen in Gewahrsam genommen werden.
 

Ein kurzes Fazit

Die innere und äußere Aufrüstung verweist auf die ökonomische Schieflage des Programms. Allein die Steigerung der Militärausgaben auf drei Prozent des BIP würde fast 25 Milliarden Euro verschlingen. Rechnet man die Kosten für Zehntausende neue Haftplätze, die Aufstockung der Polizei und die neue Nationalgarde hinzu, will Le Pen das meiste Geld für Militär und Repression aufbringen.

Die französische Wirtschaft soll durch Protektionismus wachsen, nicht durch zivile Investitionen. Diese Politik erweist sich als Schonprogramm für die Reichen. Zieht man die globalisierungskritische Rhetorik ab, bleibt Le Pens Programm ein Dokument der Unfähigkeit der politischen Rechten, Wohlstand gerechter zu verteilen und überfällige öffentliche Investitionen vorzunehmen, etwa zur Linderung der Wohnungsnot, die inzwischen Millionen Franzosen betrifft. Doch Marine Le Pen will der französischen Marine lieber einen neuen Flugzeugträger gönnen.

 
Marian Krüger (1964) ist Politologe, war von 1999 bis 2006 Mitglied des Abgeordnetenhauses von Berlin und ist seit 2007 Referent für Bund-Länder-Koordination in der Bundestagsfraktion DIE LINKE. Zahlreiche Veröffentlichungen, zuletzt: «Schwarz-grüne Perspektiven vor den Bundestagwahlen 2017» (mit Helge Meves), Studie im Auftrag der Fraktion DIE LINKE. im Deutschen Bundestag, Berlin 2016.


[1] Front National: Notre Projet – Programme Politique du Front National, Paris 2012, unter: www.frontnational.com/pdf/Programme.pdf.               

[2] Front National: 144 Engagements Présidentiels. Marine 2017, Paris 2017, unter: www.marine2017.fr/wp-content/uploads/2017/02/projet-presidentiel-marine-le-pen.pdf. Das Programm des FN von 2012 umfasst 100 Seiten, das neue Programm ist auf 24 Seiten komprimiert. Alle nicht näher gekennzeichneten Zitate stammen aus diesen beiden Wahlprogrammen. Es wird im Text deutlich gemacht, aus welchem Programm jeweils zitiert wurde. Für die Übersetzung der französischen Originale bedanken wir uns bei Paola Giaculli und Paula Rauch.

[3] Siems, Dorothea: Ökonomen sehen Frankreich in ernster Gefahr, in: Die Welt, 25.2.2013, unter: www.welt.de/wirtschaft/article113870026/Oekonomen-sehen-Frankreich-in-ernster-Gefahr.html

[4] Vgl. die Zahlen zur Wirtschaft in Frankreich unter: de.statista.com/statistik/faktenbuch/367/a/frankreich/wirtschaft-in-frankreich/.

[5] Vgl. EU-Kommission: Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: Eine stärkere europäische Industrie bringt Wachstum und wirtschaftliche Erholung, 2012.

[6] Sperber, Katharina: Rechte Dynastie mit jungen Wählern, Interview mit Frank Baasner auf heute.de, 4.2.2017, unter: www.heute.de/interview-mit-romanist-frank-baasner-zum-front-national-46464746.html

[7] Ebd.

[8] Bis 2015 hieß die republikanische Partei Les Républicains (LR) noch Union pour un mouvement populaire (UMP).

[9] Alle Zitate in diesem Abschnitt stammen aus Schmid, Bernhard: Marine Le Pen sahnt ab, 22.2.2014, unter: www.hagalil.com/2011/02/marine-le-pen/.

[10] Front National: Chiffrage du Projet présidentiel de Marine Le Pen 2017–2022, 2017, S. 2, unter: www.marine2017.fr/wp-content/uploads/2017/02/texte-chiffrage-version-finale-.pdf.

[11] 2012 sollte es eine zweiprozentige Absenkung der Zuweisungen geben.

[12] Front National: Chiffrage du Projet présidentiel, S. 1.

[13] Das Gesetz wurde nach der aktuellen französischen Arbeitsministerin Myriam El Khomri benannt.

[14] Front National: Chiffrage du projet présidentiel, S. 2.

[15] Ebd., S. 3.

[16] Vgl. Ranking der 15 Länder mit den weltweit höchsten Militärausgaben im Jahr 2015 (in Milliarden US-Dollar), unter: de.statista.com/statistik/daten/studie/157935/umfrage/laender-mit-den-hoechsten-militaerausgaben/

[17] Vgl. ebd.