Publikation Bildungspolitik - Gesellschaftstheorie - Globalisierung - Soziale Bewegungen / Organisierung Radfahren

von Erhard Crome

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Reihe

Online-Publ.

Autor

Erhard Crome,

Erschienen

Februar 2007

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Mit den sozialen Bewegungen ist es wie mit dem Radfahren: Wenn es nicht mehr fährt, fällt es um – wenn sie sich nicht mehr bewegen, ist es aus. Darauf hoffen offenbar nun die Herrinnen und Herren der veröffentlichten Meinung in Deutschland, zumindest in ihrer Mehrheit. Noch kein Weltsozialforum ist so schlecht kommentiert worden wie das in Nairobi, das vom 20. bis 25. Januar stattgefunden hat. Grundtenor: Es habe sich überlebt, sei nicht mehr zeitgemäß, die Themen seien längst in den Mainstream eingegangen, und ansonsten gäbe es noch immer keinen Durchführungs-Plan für die „Andere Welt“, die da möglich sein soll.Das verbindet die Propagandisten der Globalisierungsgewinnler mit den orthodoxen Kommunisten: Da kommt sowieso nichts raus, weil nur geredet wird, es keine Beschlüsse gibt und überhaupt aus diesem Gewusel der Bewegungen nichts Konstruktives hervorgehen kann.Im Hintergrund steht ein sehr ernstes Problem auch der heutigen politischen Auseinandersetzungen. Die Kapitalherrschaft hat über die Zeiten und die Ländergrenzen hinweg eine diffizile Praxis der Integration verschiedener Bewegungen und politischer sowie sozialer Kräfte entwickelt. Seit dem 19. Jahrhundert wurden religiöse und Bauernbewegungen, Nationalisten, Sozialdemokraten, schließlich die Grünen integriert, mit Posten und Einkünften versehen, Teil des etablierten Gefüges. Republiken und Monarchien, demokratische Verhältnisse und autoritäre Regimes wurden errichtet und wieder abgeschafft, folgend den Wellenbewegungen des Willens und Unwillens von Bevölkerungsmehrheiten – immer wurde dies als Errungenschaft kapitalistischer Ordnung zelebriert.In den sozialistischen Debatten des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts war es nicht unüblich, die politischen und sozialen Auseinandersetzungen mit militärischen Begriffen auf den Punkt zu bringen. Franz Mehring, einer der wichtigen Theoretiker des linken Flügels der deutschen Sozialdemokratie zu jener Zeit, hatte von dem Historiker Hans Delbrück den Begriff der „Niederwerfungsstrategie“ im Unterschied zu einer „Ermattungsstrategie“ übernommen.In diesem Sinne war die Grundkonstellation wie folgt zu beschreiben: Nach der Selbst-Schwächung des Kapitalismus durch den von ihm selber herbeigeführten ersten Weltkrieg entstand eine Situation, in der die revolutionären Linken in Rußland die Revolution, das heißt eine „Niederwerfungsstrategie“ auf die Tagesordnung gesetzt hatten. Die endete in Rußland mit dem Sieg und seiner Verteidigung im Bürgerkrieg; ihre Ausweitung nach Westen aber mündete in die Niederlage der Roten Armee vor Warschau 1920. Alles danach – unterbrochen durch den Überfall auf die Sowjetunion durch Hitlerdeutschland, das seinerseits eine „Niederwerfungsstrategie“ verfolgte und den „Ermattungskrieg“ verlor – in der Systemauseinandersetzung des 20. Jahrhunderts verlief nach den Regeln des „Ermattungskrieges“. Das betrifft übrigens nicht nur das Aufbrauchen der wirtschaftlichen, militärischen und politischen Reserven, sondern auch die Ermüdung der geistigen und ideologischen. Mit anderen Worten: Während die russische Oktoberrevolution unmittelbar nach ihrem Stattfinden eine große Resonanz in vielen Ländern Europas und darüber hinaus, auch in den kolonial unterdrückten Völkern fand, verblaßte dieser Glanz, je länger der „reale“ Sozialismus existierte, nicht nur wegen der Lager und der wirklichen Verbrechen, sondern auch wegen des glanzlosen Alltags, der leeren Geschäfte und der am Ende auch leeren Ideologie.Jetzt wird auf eine ähnliche Konstellation gehofft. Die Globalisierungsgewinnler hocken zwischen ihren erbeuteten Eigentumstiteln der Privatisierungsorgien der vergangenen Jahrzehnte, in den von ihnen errichteten Dschungeln von Verträgen, Verordnungen und Kreditkonstruktionen, die alle auf das gleiche zielen: Gewinne zu privatisieren, Verluste den betroffenen Gesellschaften aufzubürden und Sozialstaatlichkeit zu demolieren und verantwortliches staatliches Handeln zu diskreditieren. Dann kam Anfang des Jahrzehnts die Sozialforumsbewegung dazwischen, die diese gesamte Entwicklung kritisierte und mit dem Slogan: „Eine andere Welt ist möglich“ die ganze neoliberale Ideologie und Herrschaftspraxis grundsätzlich in Frage stellte.Jetzt hoffen sie, daß das ausläuft, der Schwung abnimmt, die Strahlkraft der Idee nachläßt. Wichtige Akteure in den sozialen Bewegungen aber wissen dies. Sie wissen, daß die anderen nur darauf warten, daß das Fahrrad umfällt. In den Seminaren und Versammlungen in Nairobi hat etwas Neues stattgefunden: Es wurde ein neues Niveau der Vernetzung zwischen den unterschiedlichsten Kräften erreicht, womit gemeint ist: eine intensivere, bisher ungekannte Form der Absprache, der Koordination, um sich den Auseinandersetzungen der nächsten Etappe zu stellen. Die Sozialforumsbewegung ist reifer geworden. Sie geht davon aus, daß die Hegemonie nicht im Handstreich zu gewinnen ist. Der Ermattungsstrategie der anderen wird eine eigene entgegengestellt. Das ist es, was den Kern des Treffens von Nairobi ausmacht, der unter der bunten und oft disparaten Schale liegt. (Erschienen in: Das Blättchen, Berlin, No. 4 vom 19. Februar 2007.)