Publikation Demokratischer Sozialismus - Gesellschaftstheorie - Deutsche / Europäische Geschichte Die Linke in Regierungsverantwortung. Analysen, Erfahrungen, Kontroversen

Beiträge zum gesellschaftspolitischen Forum am 4. Februar 2006 in der Rosa-Luxemburg-Stiftung

Information

Reihe

RLS Papers

Autor*innen

Michael Brie, Cornelia Hildebrandt,

Erschienen

August 2006

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Inhaltsverzeichnis

Vorwort: Lernen in Konflikten – Kontroversen zur Frage der Regierungsbeteiligung

Michael Brie: Ist sozialistische Politik aus der Regierung heraus möglich? Fünf Einwände von Rosa Luxemburg und fünf Angebote zur Diskussion

Joachim Bischoff: Regierungsbeteiligung der politischen Linken – Erfahrungen in Frankreich

Dag Seierstad: Die jüngsten Entwicklungen der norwegischen Linken: Herausforderungen und Perspektiven

Peter Ritter: Regierungsbeteiligung der Linkspartei.PDS in
Mecklenburg-Vorpommern Maßstäbe, praktische Ansätze, Ergebnisse

Edeltraut Felfe: Warum? Für Wen? Wohin? 7 Jahre PDS Mecklenburg-Vorpommern in der Regierung

Wolfgang Dietrich: Linke Politik konkret – Potentiale und Grenzen: Soziale Entwicklungen und Rechtsextremismus

Birgit Schwebs: Regierungsbeteiligung der Linkspartei.PDS in Berlin und Mecklenburg-Vorpommern – Maßstäbe, praktische Ansätze, Ergebnisse

Marko Ferst: Umweltpolitik in Mecklenburg-Vorpommern seit 1998

Erwin Kischel: Zum Einfluss der PDS -Regierungsbeteiligung auf die Kommunalpolitik in Mecklenburg-Vorpommern

Michael Brie/Rolf Reißig: Restriktionen und Optionen linkssozialistischer Politik in Regierungsverantwortung. Das Beispiel Berlin

Wolfgang Albers: Linke Regierungen – Folgen für die Sozialpolitik

Klaus Lederer: Außerparlamentarische Bewegungen und linke Akteure in der Regierung: Ist Kooperation möglich?

Christine Buchholz: Außerparlamentarische Opposition und linke Akteure in der Regierung. Ist Kooperation möglich?

Dieter Klein: Schlussbemerkung zum Forum

Tom Strohschneider: Selbstbewusste Modernisierer und der Optimismus der Straße. Was bringen Regierungsbeteiligungen der Linken? Auf jeden Fall viel Diskussionsstoff

Gilberto López y Rivas: Linke Regierungen und Bürgerbeteiligung in Mexiko-Stadt, Stadtbezirk Tlapan, 2001-2003

Gilberto Maringoni und João Sicsú: Woher kamen wir, wo stehen wir? Eine Bewertung der Leistungen der PT und der Regierung Lula

Alvaro J. Portillo: Die Frente Amplio in Urugay

Autorenverzeichnis 

Vorwort: Lernen in Konflikten – Kontroversen zur Frage der Regierungsbeteiligung

Ausgangsfragen

Kaum ein anderes Thema wird von den Linken in Lateinamerika, in Asien, in Europa und hier vor allem in Frankreich, Italien, Tschechien, Schweden, Norwegen  und auch in Deutschland so heftig und kontrovers diskutiert wie die Frage nach dem „ob“ und dem „wie“ Linker in Regierungsverantwortung. Ist unter neoliberalen Bedingungen genuin linke Politik auf landes-, regionaler oder nationaler Ebene gestalt- und durchsetzbar? Kann sie zur Herausbildung von Voraussetzungen für einen Politikwechsel beitragen oder behindert sie diesen? Worin besteht die Funktion und worin die Attraktivität eines linken Projektes, auch in Regierungsverantwortung? Was ist der Kern notwendiger und zugleich mitreißender Politikangebote zwischen radikaler Kritik der extremen Linken, die Gesellschaftsgestaltung als System stabilisierend nicht zulässt und einer angepassten linken sozialdemokratischen Variante eines sozial abgefederten Neoliberalismus? Wie kann sich die Linke in rot-roten Koalitionen dem Druck parlamentarischer Anpassung entziehen? Wann ist linke Politik in Regierungsverantwortung erfolgreich? Was sind hierfür ihre Maßstäbe? Gibt es gestaltbare Räume und was sind Voraussetzungen für Gestaltung und was heißt es, Prozesse zu gestalten?

Alle diese Fragen lassen sich nicht auf ein „ja“ oder „nein“ zur Übernahme von Regierungsverantwortung reduzieren, zumal hinter dieser Frage die Grundprobleme linker Programmatik und Strategieentwicklung stehen. Das schließt die Einschätzung von Potentialen und Entwicklungsszenarien kapitalistischer Gesellschaften und sich daraus ableitender Optionen der Durchsetzbarkeit von Transformationsprozessen ein. Was kann die Linke unter den Bedingungen des Finanzmarkt-Kapitalismus tun? Was kann sie als Opposition und was als Partei in Regierungsverantwortung durchsetzen? Ohne Analyse der konkreten Kräfteverhältnisse und differenzierten Gestaltungspotentiale auf den unterschiedlichen Ebenen und Politikfeldern wird diese Frage nicht beantwortet werden können.

Der Fall Berlin, der Fall Mecklenburg-Vorpommern – Anlass zur Diskussion

In Berlin wird diese Diskussion zwischen der Linkspartei, deren Mitglieder mehrheitlich hinter der Regierungsarbeit ihrer Fraktion stehen, aber nicht unkritisch mit ihr umgehen und einer WASG, die sich als Korrektiv zur Linkspartei.PDS und politischer Vertreter sozialer Bewegungen versteht und deren Landesvorstand mehrheitlich Regierungshandeln unter neoliberalen Bedingungen ablehnt, mit besonderer Schärfe geführt. Auch in Mecklenburg-Vorpommern stehen sich Kritiker und Befürworter einer Weiterführung der seit 1998 agierenden rot-roten Koalition im heftigen Streit gegenüber. Unterschiedliche Sichten, Erfahrungen, Lernprozesse, Betroffenheiten treffen aufeinander. Es geht um das Abrücken von erarbeiteten Positionen wie z. B. der Verkauf der Wohnungsbaugesellschaft GSW in Berlin und die Gemeindegebietsreform in Mecklenburg-Vorpommern, um Geringschätzung von Erreichtem, auch erkämpften Kompromissen, um Essentials linker Politik, um Kompromisse und die Möglichkeiten eines Ausstiegs, um Fragen des Politikstils.

Dass es sich hierbei auch um Lernprozesse handelt, bei denen alle Beteiligten Lernende, auf der Suche nach durchsetzbaren Alternativen zu neoliberaler Politik sind, wird selten reflektiert. Rolf Reißig spricht deshalb von einem „strategischen Lernprojekt!“1 nicht nur für die Parteien, ihre Gliederungen, Mandats- und Amtsträger, sondern darüber hinaus auch für die gesamte politische, soziale und kulturelle Linke 2.

Dabei stehen die bundespolitisch in der Rolle der „Opposition“ Agierenden gleichermaßen in der Pflicht, sich den konkreten (Berliner) Verhältnissen zu stellen, wie die Berliner bzw. die „Regierenden“ in Mecklenburg-Vorpommern in der Pflicht stehen, die programmatischen Aussagen ihrer Partei auf die ihrigen Verhältnisse herunter zu brechen und ihr Regierungshandeln als ein Wirken zur Schaffung von Voraussetzungen für einen politischen Richtungswechsel zu verstehen. 3

Ziel der Diskussion

Das Ziel des gesellschaftspolitischen Forums zur Frage der Regierungsbeteiligung der Linken der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Kooperation mit WISSENTransfer, der Redaktion der Zeitschrift »Sozialismus«, Landesstiftungen der RLS und weiteren regionalen Partnern war es zunächst, für diese offenen und kontrovers diskutierten Fragen einen offenen Raum gemeinsamen Lernens zu schaffen.

Es geht dabei um Lernprozesse innerhalb von Parteien, Verbänden, Gewerkschaften, sozialen Bewegungen, die Reflektion dieser Prozesse, um Lernprozesse zwischen den verschiedenen politischen und sozialen Organisationen – also auch Lernprozesse zwischen den Parteien, zwischen Parteien und sozialen Bewegungen unter Einbeziehung der europäischen und internationalen Erfahrungen.

Der vorliegende Reader möchte die Diskussion des Forums, die vorliegenden Beiträge über den Teilnehmerkreis der Veranstaltung hinaus öffentlich machen und zugleich um weitere Beiträge aus Lateinamerika (Uruguay, Mexiko und Brasilien) erweitern. Diese Beiträge wurden im Rahmen eines Parteienseminars 2005 in Sao Paulo diskutiert.

Schwerpunkte der Diskussion

Das Forum begann zunächst nach den strategischen Aufgaben und Herausforderungen der Linken zu fragen und bezog hierbei die Erfahrungen von Norwegen  und Frankreich ein. In Frankreich gingen die Linken in die Regierung „ohne zu verstehen, in welchem Kampffeld sie sich befanden", erklärte Joachim Bischoff. Aber ohne Analysen darüber, in welcher Konstellation kapitalistischer Entwicklung man sich befindet, lassen sich keine realen Optionen, Strategien und Maßstäbe für Regierungshandeln der Linken ableiten. Dabei muss die Linke die verschiedenen Ebenen und Aufgaben politischen Handelns gleichermaßen im Blick haben. Michael Brie spricht deshalb von der Dreifachstrategie der Linken: (1.) Kampf gegen jede wirtschaftsliberale autoritäre und imperiale Politik, (2.) die kritische Unterstützung sozialdemokratischer Formen der Bearbeitung der Konflikte des Finanzmarktkapitalismus und (3.) praktische Versuche, die damit verbundenen Widersprüche zum Tanzen zu bringen. Was heißt das konkret? Linke Regierungspolitik kann nur im Bündnis von Linkspartei, Sozialdemokratie und vor allem auch den Gewerkschaften und anderen sozialen Bewegungen wie der Friedens-, Umwelt- und Frauenbewegung durchsetzbar und erkennbar sein, erklärte Dag Seierstad zur norwegischen Situation. Nur so ließ sich der Truppenabzug im Irak und Afghanistan, der Erhöhung des Entwicklungshilfebeitrages Norwegens auf 1 % des BIP, die Ablehnung von GATS, die Wiedereinführung der Steuern auf Aktiendividenden durchsetzen.

Anders die Situation in Deutschland. „Manchmal sind sie einfach nicht da" – die sozialen Bewegungen – wie bei der Einführung der Fallpauschalen im Gesundheitsbereich, erklärte Heidi Knake-Werner, die immer wieder Verbündete sucht im Kampf gegen die Sparpläne des SPD-Finanzsenators, auch im Kampf gegen die Privatisierung von Vivantes und dem filetierten Outsourcen „medizinferner“ Einrichtungen auch der Charité. Beide Einrichtungen müssen als öffentliche Einrichtungen für alle zugänglich bleiben, beide müssen aber auch wirtschaftlich effizient arbeiten, gerade weil sie Eigentum der Stadt sind. Hier wird ein offenes Problem der Linken nur andiskutiert – die Frage Definition von Effizienz öffentlichen Eigentums, die eben nicht Marktanpassung zugrunde liegt.

Umweltminister Wolfgang Methling hat es scheinbar einfacher. Er vermag es, seine Umweltpolitik mit konkreten Visionen – wie: 100 Prozent erneuerbare Energie bis 2050 – zu verbinden und mit den Anliegen der ortsansässigen Umweltbewegungen. Dies u.a. auch erfolgreich, wie sein kritischer Begleiter Marko Ferst feststellt – ein Moment linker Kultur: die souveräne (fachkompetente) Kritik an der Regierungspolitik auf der einen und der gleichermaßen souveräne Umgang des Ministers mit Kritik und Kritikern auf der anderen Seite. Dennoch haben sich die politischen Aushandlungsprozesse im Landesverband der Linkspartei von Mecklenburg-Vorpommern verändert, ebenso der Politikstil, der in kritischen Beiträgen aus der Linkspartei selbst hinterfragt wird. Peter Ritter antwortet, stellt richtig – auch Kritik muss bei den Fakten bleiben – hört zu. Das Problem sind nicht nur mangelnde Selbstreflektion und unzureichende Vermittlung, sondern die Widersprüche der Regierungsbeteiligung selbst. Und diese werden sehr unterschiedlich gewichtet und bewertet, auch in der Publikation von Edeltraut Felfe u. a.: "Warum? Für wen? Wohin? 7 Jahre PDS Mecklenburg-Vorpommern in der Regierung". Einig ist man sich, dass ein breiter gesellschaftlicher Dialog, gesellschaftliche Bündnisse notwendig sind und dass diese nicht spannungsfrei sein können. Entscheidend für die Linke ist, wie sie mit diesen Spannungsfeldern umgeht – und das gilt gleichermaßen für Kritiker von Regierungspolitik wie für jene, die in Regierungsverantwortung stehen. Und offensichtlich ist es gar nicht so leicht, sich auf die konkrete Situation des anderen, seine Potentiale und Grenzen einzulassen wie das Panel mit Christine Buchholz und Klaus Lederer deutlich werden ließ. Gerade auch deshalb sind Gespräche und Foren wie dieses immer wieder wichtig, denn Linke in  Regierungsverantwortung ist und bleibt ein strategisches Lernprojekt der gesamten Linken.

Ziel des Forums war es nicht alle Fragen des Regierungshandelns der Linken zu beantworten, auch nicht deren endgültige Bewertung. Ziel war es zunächst einen Raum für sachliche Diskussionen unterschiedlicher Sichten verschiedener Akteure zu schaffen und die Vermittlung unterschiedlicher Politikansätze, Erfahrungen und die Reflektion von Handeln in den realen Widersprüchen.

Ziel des Forums war ebenso, ein Angebot zu unterbreiten zu Selbstbefähigung differenzierter Aneignung komplexer Prozesse, als Voraussetzung für politische  Kooperationen und neue Allianzen. Denn eine Linke, die den Anspruch erhebt, emanzipativ zu sein, muss zur soziologischen, politischen und kulturellen Selbstreflektionen fähig sein. Und dabei gilt auch gerade für sie der Satz Rosa Luxemburgs: Die Freiheit ist immer die Freiheit des Andersdenken

Cornelia Hildebrandt



1 Rolf Reißig: Linkssozialistische Politik in Regierungsverantwortung. Erfahrungswerte und Anregungspotentiale. In: Utopie Kreativ, Heft 172 (02/2005), S. 126.

2 Rolf Reißig: Mitregieren in Berlin. Die PDS auf dem Prüfstand. Rosa-Luxemburg-Stiftung, Berlin 2005, S. 73 – 83.

3 Vgl. Michael Benjamin: “Heute und in der überschaubaren Zukunft sind nur kleine Schritte des gesellschaftlichen Fortschritts möglich. Um aber die Richtung dieser Schritte bestimmen zu können, brauchen wir den Sozialismus, nicht als unverbindliche Vision, sondern als Maßstab politischen Handelns”. In: ND vom 23. März 2000.