Publikation Demokratischer Sozialismus - Gesellschaftstheorie Die Linke – was kann sie wollen? Politik unter den Bedingungen des Finanzmarkt-Kapitalismus

Supplement der Zeitschrift Sozialismus 3/2006

Information

Reihe

Online-Publ.

Autor

Michael Brie,

Erschienen

April 2006

Bestellhinweis

Nur online verfügbar

Zugehörige Dateien

Supplement der Zeitschrift Sozialismus 3/2006; ISSN 0721-1171
© Sozialistische Studiengruppe (SOST) e.V.
Einzelexemplare über den Buchhandel oder direkt bei:
VSA-Verlag, St. Georgs Kirchhof 6, 20099 Hamburg
ISBN 3-89965-930-9Inhalt
1. Am Beginn einer neuen Diskussion
2. In welchem Kapitalismus leben wir?
3. Stärken und Schwächen des neoliberal geprägten Finanzmarkt-Kapitalismus
4. Die Krise des Finanzmarkt-Kapitalismus und alternative Wege ihrer Lösung
5. Die Unterschiede zwischen einer aggressiv neoliberal-imperialen
und einer sozialdemokratischen Gestaltung des Finanzmarkt-Kapitalismus
6. Die Instabilität des Finanzmarkt-Kapitalismus und die Grenzen seiner Gestaltung
7. Die Hauptkonflikte der Epoche und die linke Alternative
8. Epochenkonstellation und strategische Ausrichtung der Linken



1. Am Beginn einer neuen Diskussion
Die Linke befindet sich am Anfang einer Verständigung über die Haupttendenzen und -kräfte der gegenwärtigen Epoche und mögliche Alternativen.


Die Linke will einen Richtungswechsel der Politik einleiten. So unterschiedlich die Forderungen im Einzelnen sein mögen, so stehen soziale Gerechtigkeit, Demokratisierung und friedliche Konfliktlösung in Auseinandersetzung mit dem Neoliberalismus auf der Tagesordnung.1 Welches aber sind die realen Grundlagen für einen solchen Konsens? Ist er mehr als eine Schimäre oder bloßes Wunschdenken? Was ist der reale neue Inhalt dieser Forderungen in der Gegenwart? Lässt sich dieser Konsens in reale strategische Optionen übersetzen, die konsistent sind – bezogen auf soziale Kräfte, Einstiegsprojekte in den Wandel, absehbare erste Ergebnisse und Übergang zu einem neuen Entwicklungspfad? Alle diese Fragen lassen sich nur beantworten, wenn ein realistisches Verständnis der gegenwärtigen gesellschaftlichen Verhältnisse und möglicher Alternativen besteht.

Man könnte natürlich mit Napoleon sagen: »On s’engage et puis ... on voit.« Frei übersetzt: »Werfen wir uns doch erst einmal ins Gefecht und sehen dann, was passiert.« Eine solche Maxime könnte aber schnell dazu verführen, den falschen Kampf zu führen und – vielleicht zunächst sogar erfolgreich – Pyrrhussiege zu erleiden oder unmittelbar in Niederlagen zu stürzen. Die jüngste Geschichte ist voller Siege, deren Bedeutung zumindest umstritten ist: Die Beteiligung der Kommunisten an der Jospin-Regierung in Frankreich, die Lage der PT in der Lula-Regierung in Brasilien, die Rolle der Kommunisten in der Regierung des ANC in Südafrika, um nur einige zu nennen. Auch die Regierungsbeteiligungen der Linkspartei in Deutschland auf Landesebene sind heftig umstritten. Vielleicht sind aber nur die Maßstäbe, an denen Sieg und Niederlage gemessen werden, falsch?

Eine nüchterne Diskussion jeder Strategie der Linken verlangt eine Bestimmung der Epoche – und zwar nicht in Begriffen des Übergangs von einer großen Gesellschaftsformation zu einer anderen, sondern bezogen auf jene »konkrete historische Situation«, jenen »konkreten Augenblick«, in dem Entscheidungen durch reale handelnde Akteure zu treffen sind.2 Solche Epochen können Jahrzehnte relativer Stabilität und eines »Stellungskrieges« (Gramsci)3 umfassen oder auch Monate der schnellen Bewegung, in der die strategische Situation sich jäh wandelt und das »Kontinuum der Geschichte«4 aufgesprengt wird.

Dann kann es zur Katastrophe werden: »die Gelegenheit verpasst zu haben«.5 Die Definition von Epochen fixiert Punkte des Anhaltens und der Selbstvergewisserung über den historischen Ort, aus dem heraus Handlungsrichtung, Handlungsmittel, Kooperation und Antagonismus bestimmt werden und bezieht sie zugleich auf größere historische Zusammenhänge.

Erfahrungen wie die von 1989 im östlichen Mitteleuropa und der früheren Sowjetunion oder in Argentinien nach 2002 zeigen, wie schnell sich eine offene historische Situation wieder schließt und die Akteure sich hinterher verwundert die Augen reiben und fragen, ob es überhaupt jemals eine wirkliche alternative Situation gegeben hat. Genauso erging es jenen Akteuren, die ein neues historisches Projekt von »Rot-Grün« in Deutschland beginnen wollten und eine »Agenda 2010« der Regierung Schröder-Fischer erhielten. Selbstaufklärung ex ante oder zumindest doch im Augenblick des Handelns, des tätigen Eingreifens, ist gefordert.

Was also kann die Linke überhaupt wirklich wollen? Eine sachliche Selbstverständigung, in welcher Gesellschaft wir leben, welches die dominanten Widersprüche sind, welche realistischen Alternativen auf der Tagesordnung stehen, ist dringend notwendig. Die Antwort darauf kann nur eine komplexe Analyse und ein umfassendes Studium der praktischen Erfahrungen bringen.

Die Linke in Deutschland, in Europa und international steht vor einer neuen Epochendiskussion. Dieser Artikel soll einen Beitrag dazu leisten.7 Es handelt sich weniger um eine systematische Ausarbeitung als um eine Skizze und einen Versuch, fragend voranzugehen und Thesen für eine offene Diskussion bereitzustellen. Viele Argumentationen in diesem Artikel tragen unvermeidlich einen hypothetischen und verdeutlichenden Charakter.


[Anmerkungen nur in der Printausgabe]