Publikation Globalisierung - Soziale Bewegungen / Organisierung - International / Transnational - Westeuropa „Baustelle Europa“ erfolgreich in das Jahr 2006 gestartet

Bericht über die erste Veranstaltung der Reihe „Baustelle Europa“ im Jahr 2006 am 16. Februar

Information

Reihe

Online-Publ.

Autor

Jochen Weichold,

Erschienen

Februar 2006

Bestellhinweis

Nur online verfügbar


Die Rosa-Luxemburg-Stiftung setzt ihre Veranstaltungsreihe „Baustelle Europa“ auch im Jahr 2006 fort. Mitte Februar bat die Stiftung zu einem Streitgespräch zum Thema „Europa – wo sind die Grenzen?“. Die bekannte Fernseh-Journalistin Bärbel Romanowski hatte dazu die kurdische Europa-Abgeordnete Feleknas Uca (GUE/NGL) und einen Vertreter der Botschaft der Republik Türkei eingeladen.

Doch mitunter entwickeln sich die Dinge anders, als sich dies die Veranstalter vorgestellt haben. Die türkische Botschaft, die zunächst prinzipiell zugesagt hatte, machte einen Rückzieher. Offenbar wollte keiner der Diplomaten mit einer linken Kurdin über den möglichen Beitritt der Türkei zur Europäischen Union (EU) diskutieren. An ihrer Stelle gelang es, den Bundestagsabgeordneten Hakki Keskin für die Veranstaltung zu gewinnen, dem Kritiker vorwerfen, die offizielle Linie der türkischen Regierung zu vertreten. Und auch Feleknas Uca war schließlich verhindert, an dem Diskussionsabend teilzunehmen, da an diesem Tage im Europa-Parlament über die neoliberale Bolkestein-Richtlinie abgestimmt wurde – ein politisches Muss für Uca, an dieser Abstimmung teilzunehmen. Ihren Part nahm schließlich ihre Brüsseler Mitarbeiterin Hülya Tapti wahr.

In der Podiumsdebatte ging es insbesondere um die Frage eines möglichen Beitritts der Türkei zur Europäischen Union. Hakki Keskin, der der Fraktion Die Linke im Bundestag angehört und lange Jahre Vorsitzender der Türkischen Gemeinde in Deutschland war, erklärte, die Frage eines Beitritts der Türkei zur EU sei eine politische Frage und keine geographische. Frühere Bundesregierungen (namentlich die von Helmut Kohl geführte) hätten der Türkei immer wieder Signale dafür gegeben, dass dieser Staat, der nur zu einem kleinen Teil auf dem europäischen Kontinent liegt, eine Beitrittsperspektive zur EU habe.

Der Professor der Politik und Migrationspolitik an der Hochschule für angewandte Wissenschaften in Hamburg ging dann auf Argumente von Gegnern eines Beitritts der Türkei zur EU ein, die behaupten, die Integrationskraft der EU laufe Gefahr, durch einen EU-Beitritt der Türkei überfordert zu werden. Schließlich sei die Türkei flächenmäßig mehr als zweimal so groß wie Deutschland, habe sie mit 71 Millionen Einwohnern nahezu eine so große Bevölkerung wie die zehn Staaten zusammen, die 2004 der EU beigetreten sind, und betrage ihr Bruttonationaleinkommen pro Kopf weniger als ein Siebentel des EU-Durchschnitts. Der Bundestagsabgeordnete verwies dagegen auf das Beispiel Spaniens, Portugals und Griechenlands in den 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts, deren Wirtschaftsentwicklung hohe Zuwachsraten aufwies, nachdem ihnen die Beitrittsperspektive zur EU eröffnet worden war. Auch sei der massenhafte Zustrom von Arbeitskräften aus diesen Ländern ausgeblieben, nachdem sich diese Staaten ökonomisch rasch entwickelten und sich die wirtschaftliche Lage der Bevölkerung deutlich verbesserte. Auch die Türkei weise angesichts der Beitrittsgespräche eine rasante wirtschaftliche Entwicklung auf: seit 2002 sei das Bruttoinlandsprodukt im Jahresdurchschnitt zwischen 8 und 10 Prozent gestiegen. Die Hoffnung auf ausländisches Kapital bei einer EU-Beitrittsperspektive für die Türkei sei real.

Keskin erklärte, dass die Türkei große Fortschritte nicht nur in ihrem wirtschaftlichen, sondern auch in ihrem politischen Reformprozess gemacht habe. Ein neues Strafgesetzbuch, die Einführung eines Bürgerlichen Gesetzbuches, die Abschaffung der Todesstrafe und andere Reformen zeigten, dass die Türkei auf dem besten Wege sei, die Kopenhagener Kriterien für einen EU-Beitritt zu erfüllen. Er musste jedoch einräumen, dass es Defizite in der Umsetzung der verabschiedeten Reformen gebe.

Dies war das Stichwort für Hülya Tapti. Sicher sei es richtig, dass sich die Türkei im Reformprozess bewegt habe. Die Verabschiedung der Reformpakete sei jedoch das eine, die Umsetzung das andere. Gerade an ihr mangele es. Das türkische Rechtssystem entspreche noch nicht den EU-Kriterien, die Menschenrechte werden verletzt. Die freie Meinungsäußerung sei nicht gewährleistet, wie die Anklagen gegen den Schriftsteller Orhan Pamuk und andere belegten. Tapti verwies nicht zuletzt auf das ungelöste Kurden-Problem in der Türkei, für das es nach ihrer Auffassung eines breiten gesellschaftlichen Dialogs zwischen Türken und Kurden bedürfe, zu dem jedoch ein Teil der türkischen Gesellschaft nicht bereit sei.

Nach Auffassung von Hülya Tapti liege es im Interesse der Türkei selbst, erst einen stärkeren wirtschaftlichen und politischen Annäherungsprozess an die EU zu vollziehen, bevor sie der Europäischen Union beitritt. Der Agrarsektor mache in der Türkei rund 45 Prozent aus, in der EU jedoch nur ca. 5 Prozent; selbst in Polen habe er lediglich 20 Prozent betragen. Auf eine mögliche stabilisierende Rolle der Türkei in der Nahost-Region angesprochen, verwies Tapti auf die besondere Partnerschaft der Türkei mit den USA und auf die Nutzung des Landes als „Bollwerk gegen den Kommunismus“, eine Rolle in der Vergangenheit, die eine mögliche stabilisierende Rolle der Türkei in der Zukunft in einem fragwürdigen Licht erscheinen lasse. Auch prädestiniere die Nichtanerkennung des EU-Mitglieds Zypern durch die Türkei den NATO-Staat keineswegs für eine besondere „friedenspolitische Rolle“ in der Region. Keskin hatte hingegen von einer „Brücken-Funktion“ der Türkei zwischen Orient und Okzident auf kulturellem, politischem und militärischem Gebiet gesprochen.

In der anschließenden, für das Publikum geöffneten Diskussion klagten insbesondere Vertreter kurdischer Organisationen eine kritischere Sicht auf die offizielle Politik der Türkei ein und hielten es für sehr problematisch, der Türkei eine „friedenspolitische Rolle“ einzuräumen. Sie und andere Teilnehmer der Veranstaltung mahnten bei Hakki Keskin die Sicht der politischen Linken auf die Türkei an. Die Frage, welche Auswirkungen eine Vollmitgliedschaft der Türkei in der EU für die arbeitende Bevölkerung des Landes hätte, sei gar nicht gestellt worden. Keskin räumte ein, dass es einflussreiche Kräfte in der Türkei gibt, die gegen eine EU-Mitgliedschaft des Landes sind (unter anderem in der Justiz).

Teilnehmer der Veranstaltung äußerten, dass die Türkei ihre Armee zum Kampf gegen das eigene Volk benutze. Gegen das „Argument“, dass der Terror der PKK den Einsatz der Armee im Inneren legitimiere, führten sie ins Feld, dass es in der Türkei drei Militärputsche gegeben habe, bevor die PKK überhaupt gegründet worden sei. Insgesamt ein interessanter Abend mit einer spannenden Diskussion.

Jochen Weichold



Die nächsten Veranstaltungen in der Reihe „Baustelle Europa“:

27.04.2006, 19.00 – 21.00 Uhr

Europa – Freier Markt für alle?


Moderatorin Bärbel Romanowski im Gespräch mit Sahra Wagenknecht, MdEP, und einem EU-Diplomaten
Veranstaltungsort: Magnushaus, Am Kupfergraben 7, 10117 Berlin

Themen und Schwerpunkte:
Die Entwicklung eines europäischen Binnenmarktes ist einer der Gradmesser für ein soziales Europa. Neoliberal oder sozial, welcher Weg setzt sich durch, und was macht eigentlich ein soziales Europa aus? Wo liegen die Zukunftschancen für junge Leute? Wie steht es um ein europäisches Bewusstsein? Hat der Binnenmarkt zur Entstehung eines europäischen Bewusstseins beigetragen oder steht er dem entgegen? Die heißumstrittene Bolkestein-Richtlinie (Dienstleistungsrichtlinie) ist einer von Sahra Wagenknechts Arbeitsgegenständen. Offensichtlich ist, dass das Herkunftslandsprinzip ein Durchbruch zu grenzenlosem Lohn- und Sozialdumping und zur Aushöhlung von Lohn- und Arbeitsstandards sein kann. Polnische Bauarbeiter auf Berliner Baustellen erregen die Gemüter, weil sie gezwungenermaßen teilweise zu Dumpinglöhnen arbeiten. Ursache und Wirkung geraten in der öffentliche Diskussion allzu schnell durcheinander. Sahra Wagenknecht sagt: Zugleich sollen auch noch wesentliche Bereiche der öffentlichen Daseinsvorsorge im Geltungsbereich der Richtlinie verbleiben, was deren Zwangsliberalisierung und -privatisierung bedeutet. Bei gleichzeitiger Abschaffung nahezu aller öffentlichen Regulierungen. Die außerparlamentarische Bewegung protestiert, Gewerkschaften machen längst mobil. Welche Eckpfeiler braucht der europäische Markt? Was bedeutet die viel zitierte Politik für die Menschen?
Wie schwer die Interessen der 25 Mitgliedsstaaten der EU auf einen Nenner zu bringen sind, zeigt das Scheitern der EU-Verfassung. Welcher Weg liegt vor den Mitgliedsstaaten und was tut eine EU-Parlamentarierin für ein soziales Europa ? Kuba und Venezuela gehören zu Sahra Wagenknechts Aufgabenschwerpunkten. Welche politischen und ökonomischen Erfahrungen kann sie in ihrer Arbeit verwenden?
Ansprechpartner in der rls: Jochen Weichold, Tel. 030 44310121, e-mail: weichold@rosalux.de



14.09.2006, 19.00 - 21.00 Uhr

Europa – diesseits von Afrika

Moderatorin Bärbel Romanowski im Gespräch mit Gabriele Zimmer, MdEP, und einem EU-Diplomaten
Veranstaltungsort: Magnushaus, Am Kupfergraben 7, 10117 Berlin

Themen und Schwerpunkte:
Die Hälfte der Weltbevölkerung lebt von weniger als zwei Euro am Tag. In Afrika ist Armut die Geißel des Kontinents.
Flüchtlingsdramen, Hungersnot, Tod durch Aids. Die Schlagzeilen ändern sich nicht. Afrika zeigt, dass sich nur duch eine tatsächliche und grundsätzliche Verbesserung der Lebensbedingungen der Menschen die Katastrophe abwenden lässt. Europa hat eine für zehn Jahre bemessene EU-Afrika-Strategie. Die Ursachen für die Einwanderungsprobleme an den europäischen Grenzen sind nur durch Überwindung der Verelendung der Menschen zu lösen. Vorgesehen sind die Verdoppelung der Entwicklungshilfe ebenso wie die Förderung der Bildungs- und Gesundheitssysteme. Ein europäisches „Peace Corps“ sowie europäisch-afrikanische Partnerschaften von Parlamenten, Gemeinden, Schulen, Universitäten oder Unternehmen sollen helfen.
Aber: Es gibt mitnichten eine Gesamtstrategie, sagt Gabriele Zimmer. Denn: Stacheldrahtzäune werden erhöht und EU-Innenminister wollen, dass im Rahmen von „Schutzprogrammen“ Auffanglager errichtet werden. Doch die zunehmende Arbeitsmigration ist nicht durch Abschottung zu bekämpfen. Ob der Weg, Afrikas Rohstoffe durch den Bau von Straßen und Schienen schnellstmöglich auf den Weltmarkt zu bringen, der richtige ist, darf bezweifelt werden. Frau Zimmer erinnert an das Konzept der Kolonialmächte.
Heute setzen sich die Multis in der EU dafür ein. Schließlich will sich keiner mit der europäischen Agrarlobby anlegen, obwohl es auch die immensen Agrarsubventionen in Europa sind, die den Afrikanern ihre Existenzgrundlage rauben und sie zur Flucht zwingen. Sagen die europäischen Linken nunmehr „Nein“ zu Agrarsubventionen oder ist ihnen, wenn es heiß auf heiß kommt, das Hemd näher...?
Grundlage für eine erfolgreiche Entwicklungszusammenarbeit ist auch ein soziales Europa, sagt Gabriele Zimmer. Sie engagiert sich für die Einhaltung von Tarifverträgen ebenso wie für die Durchsetzung gewerkschaftlicher Rechte. Besonders am Herzen liegt ihr, dass die Parlamentarier der GUE/NGL-Fraktion ernsthafte und zuverlässige Partnerinnen derjenigen sind, die die sozialen Interessen von Menschen vertreten, die durch die herrschende neoliberale Ausrichtung der EU-Politik in ihrer Existenz bedroht sind.
Ansprechpartner in der rls: Jochen Weichold, Tel.030 44310121, e-mail: weichold@rosalux.de



09.11.2006, 19.00 -21.00 Uhr

Europa – Architektur der Erweiterung

Moderatorin Bärbel Romanowski im Gespräch mit dem Publizisten und Schriftsteller Adam Krzeminski und Dr. André Brie, MdEP
Veranstaltungsort: Magnushaus, Am Kupfergraben 7, 10117 Berlin

Themen und Schwerpunkte:
Im November 2006 ist die Erweiterung der EU zweieinhalb Jahre alt. Am Beispiel der Veränderung der Beziehungen zwischen Polen und Deutschen soll vor allem die menschliche Dimension des Einigungsprozesses beleuchtet werden.
Nach der Krise – nicht zuletzt durch die Ablehnung der Verfassung – mussten das Fundament und die Eckpfeiler der Union neu überdacht werden. Die Auswirkungen der Globalisierung und die Teilnahme an militärischen Auseinandersetzungen haben ihre Spuren in allen Mitgliedsstaaten hinterlassen. Die Polen haben – im Gegensatz zu Deutschland – Soldaten im Irak stationiert. Adam Krzeminski sagt: „Eines sollte man in dieser Zeit nicht aus den Augen verlieren: Polen erlebt einen enormen Modernisierungsschub, der auch für das polnische Selbstverständnis eine riesige Herausforderung ist. Man merkt, dass bei diesen polnischen Lehr- und Wanderjahren – mit dem Beitritt zur EU auf der einen und der engen Anlehnung an Amerika auf der anderen Seite – historische Rückgriffe nicht viel weiter helfen.“
Klar ist, dass wir ein Europa mit Frieden und Wohlstand für alle brauchen. Wie sieht die Wirklichkeit aber auch aus? Junge Franzosen setzen im Herbst 2005 Autos in Brand. Europa ist ihre Heimat, aber eine Chance auf ein selbstbestimmtes Leben haben sie nicht. Die Lebensverhältnisse in den Mitgliedsstaaten unterscheiden sich gravierend. Vorurteile werden gepflegt – auch zwischen Deutschen und Polen.
Die Türkei will in die EU. Gehören dann auch die Ukraine und die Balkanstaaten mit ins Boot? Und welche Rolle spielen die Mittelmeeranrainerstaaten in den perspektivischen Überlegungen – zumal sich der erste Kongress der Europäischen Linksparteien im Oktober 2005 in Athen gerade auf die Bedeutung dieser Staaten für den Frieden in Europa verständigt hat.
Welche Bilanz ziehen zwei EU-Experten, die sehr unterschiedliche Blickwinkel haben?
Ansprechpartner in der rls: Jochen Weichold, Tel. 030 44310121, e-mail: weichold@rosalux.de