Publikation Globalisierung - International / Transnational - Wirtschafts- / Sozialpolitik - Amerikas „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“

Die RLS auf dem VI. Sozialforum in Caracas. Text der Woche 04/2006 von Lutz Brangsch

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Reihe

Online-Publ.

Autor

Lutz Brangsch,

Erschienen

Januar 2006

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Im Vorfeld des VI. Sozialforums trafen sich in der venezolanischen Hauptstadt Caracas Intellektuelle und BewegungsaktivistInnen aus verschiedenen Teilen der Welt, um die gegenwartigen Entwicklungstendenzen neoliberaler Theorie und Praxis sowie der entsprechenden Gegenkozepte zu diskutieren. Die RLS setzt damit ihre erfolgreiche Zusammenarbeit mit dem Netzwerk CLACSO fort, die bereits im Sommer 2004 zu einem ähnlichen Treffen in Rio geführt hatte. Ausgehend von diesen Debatten, die auch in einem in Brasilien erschienenen Buch unter dem beziehungsreichen Titel „Reform und/oder Revolution“ publiziert wurden, sollte das Seminar in Caracas die Diskussionen vor allem unter Einbeziehung von AktivistInnen aus sozialen Bewegungen fortsetzen. Es kamen dann TeilnehmerInnen aus Venezuela, Brasilien, Mexiko, Bolivien, Ecuador, Kolumbien, Chile, Argentinien, Kanada, Israel, Indien, Frankreich, Russland, Österreich und schließlich Deutschland.

Dass dieser Ansatz richtig war, bewiesen schon die ersten Stunden des Seminars. Tatsächlich haben sich in den vergangenen Monaten eine Reihe von Bedingungen verändert. Sicher sind sie nicht einfacher geworden. Dazu gehören etwa in Südamerika die wachsenden Spannungen um Lula und die PT, die weitere Zuspitzung der Situation unter der ANC-Regierung in Südafrika oder die scharfen Debatten um die Praxis der Regierungsbeteiligung der Linkspartei in Berlin und Mecklenburg-Vorpommern. Die Frage der Bewertung von Regierungsbeteiligungen, die Rolle von Parteien überhaupt und das Verhältnis von Parteien und Bewegungen bildeten entsprechend einen Hauptpunkt des Austausches. Auf der anderen Seite stehen aber auch Erfolge, wie etwa das Wahlergebnis der Linkspartei und der laufende Versuch, eine neue linke Partei in Deutschland zu schaffen, das Ergebnis der Präsidentschaftswahlen in Bolivien, Schritte der Regierung Chavez zu einer Stärkung der lokalen Demokratie und der Selbstorganisation von Menschen, die bisher an den Rand der Gesellschaft gedrängt wurden, der erfolgreiche Widerstand gegen Wasserprivatisierungen oder Initiativen zu einer selbstbestimmten und friedlichen Entwicklung von Gemeinden in Regionen, die durch bewaffnete Kämpfe zwischen Regierungstruppen und verschiedenen Bewegungen in Kolumbien ruiniert werden. Diese und viele andere Beispiele waren Gegenstand von Beiträgen der mehr als 50 TeilnehmerInnen.

Deutlicher als in früheren Diskussionen wurde die Darlegung von Erfahrungen aus der Praxis bzw. von konzeptionellen Überlegungen mit einer Reflexion des Zustandes der eigenen Bewegungen und der Umfeldbedingungen verbunden. Dafür sind sicher die Erfahrungen mit den Problemen der Regierungsbeteiligung bzw. Regierungsmacht in Deutschland, Südafrika und Brasilien maßgeblich, aber auch Entwicklungen in Bewegungen, wie etwa der Indigenenbewegung Ecuadors. Hier wurde die Frage aufgeworfen, wie es zu schaffen sei, dass eine Bewegung nicht bei der Formulierung und Durchsetzung der eigenen exklusiven Interessen stehen bleibe, sondern sich von den ihr eigenen Beschränkungen befreien und damit Alternativen für das ganze Land entwickeln könne.

Die Frage nach den Steuerungsmöglichkeiten des Staates unter den gegenwärtigen Bedingungen und  nach Möglichkeiten, dieses Staat dann auch öffentlich kontrollieren zu können, bestimmten dann vor dem Hintergrund von Erfahrungen und Aktivitäten der Chavez-Regierung mehrere Beiträge der venezolanischen TeilnehmerInnen. Als Erwartungen an eine linke Regierung wurde vor allem die der vollständigen Transparenz politischen Handelns, einer über das gesetzliche Maß hinaus gehenden Verantwortlichkeit gegenüber BürgerInnen, der Offenheit gegenüber Problemen und Vorstellungen der BürgerInnen, der Verteidigung öffentlicher Räume, sozialer und politischer Rechte und schließlich der Durchsetzung partizipativ-demokratischer Formen hervorgehoben.
Demokratie wurde so in zwei Dimensionen thematisiert – in Bezug auf die Durchsetzung von Rechten in der Gesellschaft, die Einflussnahme auf Entscheidungsprozesse, die Rolle von Parteien und wichtiger Rahmen für soziale Bewegungen, aber auch in Bezug auf die Bewegungen selbst. Breiten Raum nahm daran anknüpfend die Frage der Organisation an der Basis ein. Die Macht, so wiederholt ausgesprochen, müsse an die Gesellschaft zurückgegeben, von der Gesellschaft wieder angeeignet werden. Auch der neoliberale Staat sei nicht einfach ein „schwacher“ Staat – vielmehr würden hier bestimmte Funktionen, die der Durchsetzung des neoliberalen Gesellschaftsbildes entsprechen durchaus gestärkt, während andere, die eher den Konditionen des sozialstaatlichen Kompromisses entsprechen, geschwächt werden.

Lateinamerikanische TeilnehmerInnen berichteten unter dem Gesichtspunkt der Wiederaneignung über die Erfahrungen mit basisdemokratisch formierten Räten, die über kommunale Entwicklungen, über die Organisation der Wasserversorgung oder Landverteilung entscheiden. Hervorgehoben wurde die Rolle von Genossenschaften, sei es als vom Staat oder staatlichen Unternehmen geförderte (so zurzeit sehr intensiv in Venezuela gehandhabt), sei es als Selbsthilfeorganisationen, wie etwa in Argentinien. Räte und Genossenschaften figurieren hier oft nicht als von außen kommende Gebilde, sondern als Wiederbelebung von früheren traditionellen Formen der Organisation des täglichen Lebens und Wirtschaftens. Das kollektive Finden von Lösungen müsse wieder zu einem normalen und entscheidenden Moment in der Politik und auch im politischen Selbstverständnis der Linken werden.

Hier liegt offensichtlich auch ein wichtiger Ansatz für Strategien des Kampfes gegen Privatisierungen und für alternative Formen der Erbringung öffentlicher Leistungen, die den bekannten Widersprüchen und Mängeln der durch den Staat realisierten öffentlichen Daseinvorsorge entgegenwirken könnten. Ein Teilnehmer fasste diese Gedanken unter der Losung „Politisierung statt Merkantilisierung“ zusammen. Die Eigentumsfrage sei eine aktuelle Frage, wie auch die Debatten um Wasser, Land und Genossenschaften zeigte. Abhängig von der realen Situation gehe es auch mitunter um die Schaffung von Institutionen neben dem Staat, der in vielen Regionen eben nicht vertrauenswürdig sei: Auf eigene Institutionen sei nur zu verzichten, wenn der Staat den Menschen das zurückgeben könne, was seine Armee, seine Polizei, die Milizen, Privatisierungsentscheidungen usw. ihnen genommen hätten.

Dem stehen natürlich mächtige Interessen entgegen. In den eher theoretisch und gesellschaftskonzeptionell angelegten Beiträgen wurden die hier skizzierten Fragen vor allem unter dem Gesichtspunkt behandelt, wie Gegengewichte zu der militärischen und ökonomischen Macht des neoliberalen Blockes gefunden werden können. Es wurde vor allem darauf verwiesen, dass die Art und Weise der Verflechtung des Militärischen mit dem Ökonomischen und dem Sozialen viel starker thematisiert und analysiert werden könnte. Auf diesem Feld arbeite CLACSO bereits seit langer Zeit. Es zeige sich, dass von der Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt eine vor allem von den USA kontrollierte Stutzpunktstruktur und Struktur von militärisch kontrollierten Räumen entwickelt habe, die viel starker und viel effektiver als früher Rohstoffquellen und Transportwege kontrolliere. Diese Tendenz sei ungebrochen. Die schon früher konstatierte Durchmilitarisierung wechsele die Erscheinungen, sei aber präsent. Daraus wurde die These abgeleitet, dass die USA durchaus als hegemoniales Subjekt betrachtet werden könnten – eine These, die in dieser Entschiedenheit nicht vollständig geteilt wurde. Man dürfe bei der Analyse und schließlich bei der Bewertung der Aktivitäten der USA nie die innere Widersprüchlichkeit des heutigen Kapitalismus unterschätzen. Auch wenn das erklärte Ziel der USA sei, diese Hegemonie zu erreichen, sei deren Erreichbarkeit nicht automatisch gegeben.

Diese Frage wird sicher Gegenstand weiterer Analysen und Überlegungen sein müssen, hat doch eine solche Einschätzung weit reichende Konsequenzen für die Beurteilung von Formen sozialer Auseinandersetzungen, die sich vor allem auf nationale, regionale und lokale Zusammenhänge stützen oder für die Möglichkeiten der Schaffung sozialer Bündnisse. So wurde aus venezolanischer Sicht dargelegt, wie wichtig die Betonung der Möglichkeit eines Strukturwandels in der Wirtschaft aus der nationalen Wirtschaft selbst heraus sei – woher hier die Öleinnahmen und die mit der Ölindustrie verbundene Infrastruktur wichtige Ausgangspunkte seien.

In der weiteren Diskussion ging es dann vor allem auch darum, wie die Hegemonie, die kulturell und medial vermittelte Macht dieses Blockes gebrochen werden könnte. Wie, so eine der zentralen Fragen in diesem Kontext, kann die Angst, mit der  der Neoliberalismus spielt, bekämpft werden? Aber es sei auch darüber zu sprechen, wie man der durch Lebensweise vermittelten Hegemonie etwas entgegensetzen könne.

Zu den entscheidenden Wegen gehornt, so eine mehrfach geäußerte Auffassung, neben der Durchsetzung von Elementen partizipativer Demokratie in Staat, Gesellschaft und Wirtschaft vor allem das Lernen in den sozialen Bewegungen, in den Räten, den Genossenschaften, Gemeinden selbst. So wurde berichtet, dass in Kolumbien eine „Universität des Widerstandes“ geschaffen werden soll, es wurden die Erfahrungen der brasilianischen MST mit der Bildung in ihren Camps dargelegt, und es wurde aus Erfahrungen in Argentinien debattiert, wie Wissen denn nun in Handeln umzusetzen sei. Es wurde auch deutlich, wie unterschiedlich das Lernen von Widerstand aussehen kann – das Kennenlernen der eigenen Buergerechte, zu lernen, wie man eine Genossenschaft aufbaut und führt, wie am eine Kampagne gegen die Wasserprivatiserung organisiert oder wie man parlamentarisches oder Regierungshandeln mit außerparlamentarischen, emanzipativen und Basisinitiativen verknüpfen kann bzw. muss. Dazu gehöre auch, die ökologische Dimension von Produktion und Leben immer wieder zu vergegenwärtigen. Schon lange ist daher das Thema nachhaltigen Wirtschaftens fester Bestandteil des Bildungsprogramms, mit dem die brasilianische Landlosenbewegung MST ihre Mitglieder in den Camps auf die Einrichtung einer bäuerlichen Wirtschaft, sei es als Privater oder Genossenschaft, vorbereitet.

Die hier dargestellten Debatten verdichteten sich in der Frage danach, was der „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ sein könne. Hier wurde vor allem die große Bedeutung von partizipativer Demokratie in allen Bereichen der Gesellschaft wie auch im internationalen Rahmen (mit Bezug auf die internationalen Institutionen) hervorgehoben. Der Weg dahin sei allerdings eher lang, setze er doch vieles an Veränderung von Gesellschaft und Selbstveränderung in den sozialen Bewegungen selbst voraus. Ein Teilnehmer warf dabei die Fragen nach einer „neuen Revolutionstheorie“ und einem „neuen Internationalismus“ auf. Notwendig sei ein kontinuierlicher, schnellerer, intensiverer und direkterer Austausch – man müsse sich viel öfter treffen. Dem widersprachen die TeilnehmerInnen nicht, wohl wissend, dass dies wohl wirklich nur ein guter Wunsch zum Schluss eines intensiven, anstrengenden und für die TeilnehmerInnen aus den verschiedenen Teilen der Welt fruchtbaren Seminars bleiben wird. Wichtig ist die Erfahrung, dass es Fragen gibt, die gemeinsam und auf eine ganz andere Art und Weise global diskutiert werden können, dass Bewusstsein, mit seinen Problemen nicht alleine zu sein und Verbündete zu haben. Auf der ersten Veranstaltung, die die RLS heute im Rahmen des Forums durchgeführt wurde, fanden die dort vorgestellten Ergebnisse des Workshops jedenfalls großes Interesse.