Publikation Bildungspolitik - Gesellschaftstheorie Geschichtliche Entwicklungen in der Kritik

Viertes DoktorandInnenseminar. Manuskripte Nr. 59 der RLS

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Reihe

Manuskripte

Erschienen

Dezember 2005

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Inhalt

Einleitung

I. Nationalstaat und Industrialisierung

ANTONIA DAVIDOVIC : Die Herstellung von archäologischem Wissen über ethnische Gruppen in der Vergangenheit

BRIGITTE KNOPF: Geschichte des Klimawandels und seine Zukunft

II. Formwandel von Arbeit und Management im High-Tech-Kapitalismus

NADINE MÜLLER: Arbeitsteilung nach der Computerisierung: Kapitalistisches Wissensmanagement versus Wissensintegration

BRIGITTE BIEHL: Auftritte von Top-Managern. Die Inszenierung einer „Leistung aus Leidenschaft“ und die Leistungslüge

III. Emanzipatorisches Subjekt in der Theorie – soziale Verwerfungen in der neoliberalen Realität

ANNE STICKEL: Die Armen und die Fähigkeit, Mensch zu werden

BORIS FRIELE: Der Radikale Konstruktivismus in der Familientherapie. Subjektwissenschaftliche Kritik eines postmodernen Konzepts

MARY LINDNER: Die Entstehung eines gesundheitsriskanten Lebensortes in einem südafrikanischen Elendsviertel: Die Geschichte von Kayamandi unter Betrachtung geographischer und soziodemographischer Entwicklungen von 1939 bis zur Gegenwart.

IV. Demokratische Ansprüche an Architektur und Zivilgesellschaft

GUIDO BRENDGENS: Kanon und Ausschluss, Stereotyp und Erfahrung. Zum Diskurs Demokratisches Bauen in der Bundesrepublik Deutschland

THORSTEN HALLMANN: Zivilgesellschaft als konkrete Utopie und kommunikative Praxis – Zur Karriere und Widersprüchlichkeit eines demokratietheoretischen Konzepts

V. Geschichte als Gegenstand von Kultur

STEPHAN KRAUSE: Literarische Topographie der Geschichte? – Franz Fühmanns Bergwerk

Über die AutorInnen

Einleitung

Die in diesem Band zusammengestellten Aufsätze gehen auf Referate im Rahmen des vierten DoktorandInnenseminars der Rosa Luxemburg Stiftung im Mai 2005 zurück. Diese Seminare bringen StipendiatInnen sehr unterschiedlicher Fachrichtungen zusammen, fördern also den interdisziplinären Austausch. Der Titel des Seminars – "Geschichte" – diente als weitgefasster Rahmen, in dem die naturgemäß sehr verschiedenen Beiträge der Seminarteilnehmenden gut Platz finden konnten. Fast alle Beiträge analysieren gesellschaftsgeschichtliche Entwicklungen, einige nehmen speziell die Epoche der (kapitalistischen) Industrialisierung und deren Verlängerung in die Gegenwart in den Blick. Eine weitere Verbindung aller Beiträge im Seminar und der hier veröffentlichten Aufsätze bleibt eher implizit: Der Anspruch der AutorInnen, ihre wissenschaftliche Arbeit auf einen humanen und demokratischen Sinnhorizont zu beziehen, gesellschaftliche Irrationalität zu analysieren und Alternativen einzufordern. Für die Publikation haben wir die Aufsätze, die sich nicht zwangsläufig mit den Referaten beim Seminar decken, nach Schwerpunkten gruppiert und hoffen, damit den inhaltlichen Ausrichtungen gerecht geworden zu sein.

Die ersten beiden Artikel greifen historisch am weitesten aus. Antonia Davidovic geht auf die Diskussion um das in gesellschaftlichen wie in wissenschaftlichen Diskursen verwendete Konzept der ethnischen Zugehörigkeit ein, dessen politische Instrumentalisierungsfähigkeit sich in besonders drastischer Weise in der Entstehung von Bürgerkriegen (Ruanda, Ex-Jugoslawien) zeigt. Sie betrachtet die gegenwärtigen kulturanthropologischen Konzepte von ethnischen Gruppen und stellt den Zusammenhang zur Verwendung archäologischen Wissens her. Seit der Entstehung der modernen Nationalstaaten wird dieses kontinuierlich nachgefragt, um die Konstitution von "Ethnien" wissenschaftlich zu fundieren. Die Autorin analysiert, inwieweit archäologische Erkenntnisse tatsächlich "ethnische Zugehörigkeit" belegen können. Brigitte Knopf beschäftigt sich aus der Perspektive der Klimafolgenforschung ebenfalls mit großen Zeiträumen. Sie stellt den Forschungsstand zur Frage dar, ob der gegenwärtig zu beobachtende Temperaturanstieg ein natürliches Phänomen oder ein Menschengemachtes sei. Ihr Beitrag macht deutlich, mit welchen naturwissenschaftlichen Erkenntnissen nicht nur ein Klimawandel als solcher, sondern auch die Folgen der im 19. Jahrhundert dynamisierten Industrialisierung als ursächlicher Faktor nachweisbar sind. Da der Temperaturanstieg tatsächlich auf anthropogene Ursachen zurückzuführen ist, stellt sich die Frage, wie sich die Klimaentwicklung in der Zukunft gestalten wird und welche Handlungsaufforderungen sich daraus ergeben sollten.

Die folgenden zwei Aufsätze begeben sich auf die Ebene des kapitalistischen Unternehmens. Nadine Müller betrachtet den Industrialisierungsprozess hinsichtlich der Entwicklung von der Arbeitsorganisation und Arbeitsteilung. Sie schlägt den Bogen von der Erschließung frühindustrieller Produktivitätspotenziale durch die fordistisch-tayloristische Arbeitsorganisation zum gegenwärtigen Wandel der Arbeitsorganisation im Zusammenhang mit Automation und Computerisierung. Die dadurch veranlassten neuen Formen der Arbeitsorganisation wie "Projekte" führen zur Enthierarchisierung und Auflösung der tayloristischen Trennung von Hand- und Kopfarbeit. Die empirische Betrachtung belegt jedoch zugleich, wie verschiedene Aspekte des Kapitalverwertungsdrucks das Produktivitäts- wie das Humanisierungspotenzial der Kooperationsansätze konterkarieren. Brigitte Biehl analysiert die Selbstdarstellungsstrategien großer Unternehmen bzw. deren Vorstände bei Aktionärshauptversammlungen und ähnlichen Anlässen. Vor dem Hintergrund verschärfter Konkurrenz um Marktanteile, der Durchsetzung kurzfristiger Sharehoulder Value Interessen und der hohen Bedeutung nichtfinanzieller Informationen für Investitionsentscheidungen und den Börsenwert von Unternehmen hat die vertrauensbildende Selbst-Präsentation einen enormen Stellenwert entwickelt. Die Autorin nutzt Analyseinstrumente der Theatersemiotik, um anhand verschiedener Auftritte herauszuarbeiten, wie dort eine Scheinwelt von Kompetenz und Heldentum geschaffen wird und sich die (Geschäfts-)Welt zu einer Bühne entwickelt hat, auf der die Wirklichkeit gegenüber der Performance in den Hintergrund tritt.

Die Beiträge des nächsten Abschnitts nehmen die sozialen Missstände außerhalb des kapitalistischen Unternehmens in den Blick und analysieren Handlungsmöglichkeiten sowie das theoretische Verständnis, das sozialem und politischem Engagement zugrunde liegt. Für Anne Stickel stellt sich das Problem im Zusammenhang der lateinamerikanischen Befreiungstheologie: In Opposition zur dogmatischen Lehre geht es diesem Ansatz darum, ein "geschichtlich-historisches" theologisches Denken zu entwickeln, in dem die jeweilige Lebenswirklichkeit der Menschen, vor allem der Armen, im Mittelpunkt steht. In dieser Perspektive wird Gott zur "Option für die Armen", die ihn als geschichtsmächtige Subjekte im Kampf für ein "Leben in Fülle" auf ihrer Seite haben. Die Autorin skizziert die Aufgaben, theoretischen Probleme und Lösungsansätze, die sich aus dieser Konzeption ergeben. Im Beitrag von Boris Friele entzündet sich die Problematik des Subjektbegriffs am Einfluss des Radikalen Konstruktivismus in der Psychologie. Dessen Relativierung von Wahrheitsansprüchen jeglicher Art stellt zugleich den Ansatz emanzipatorischer Handlungsorientierungen in Frage, wie sie in der Kritischen Psychologie verankert sind. Der Autor analysiert die Widersprüche der konstruktivistischen Begrifflichkeit und zeigt anhand der Geschichte familientherapeutischer Praxis aus der Frühzeit des Industriekapitalismus bis in die Gegenwart den gesellschaftlichen Hintergrund auf, der die Verbreitung einer Theorie erklärt, die emanzipatorische Orientierungen untergräbt. Die Arbeit von Mary Lindner ist empirisch ausgerichtet und befasst sich mit der Evaluation eines Programms zur Verbesserung der Lebensbedingungen in Kayamandi ("Schönes Zuhause"), einem Elendsviertel in der südafrikanischen Stadt Stellenbosch. Die Autorin skizziert die von Kolonialismus und Apartheitspolitik geprägte Entwicklung des ehemals schwarzen Townships und führt zahlreiche Daten an, die die desaströsen sozialen und hygienischen Zustände der Gegenwart erkennbar machen. Lindner verdeutlicht die sich daraus ergebenden Handlungsnotwendigkeiten und stellt diese in Zusammenhang mit den Konzepten der WHO von "Lebensqualität" und "Gesunde Städte – Gesunde Menschen".

Unter der Überschrift "Demokratische Ansprüche" folgt der Artikel von Guido Brendgens, in dem er die Architektur deutscher Parlamentsbauten und den Diskurs um "demokratisches Bauen" von der Weimarer bis zur Berliner Republik nachzeichnet. Dieser Diskurs war lange Zeit von einem Merkmalskanon bestimmt, der Offenheit, Zugänglichkeit und Transparenz umfasste. Diese Kriterien unterliegen inzwischen aber Stereotypisierungen, der Diskurs um demokratisches Bauen zerfällt und historisierend-rekonstruktivistischeTendenzen gewinnen an Boden. Vor diesem Hintergrund führt der Autor die  Perspektive der NutzerInnen als Kriterium für demokratisches Bauen ins Feld und begründet damit den demokratischen Gebrauchswert moderner Architektur gegenüber der Tendenz zur Historisierung und neuen Repräsentativitätsansprüchen. Thorsten Hallmann beschäftigt sich mit der Entwicklung des schillernden Begriffs der Zivilgesellschaft, der sich auf Antonio Gramscis kritische Konzeption der "società civile" in den 1930er Jahren zurückverfolgen lässt, in den politischen Diskursen der letzten Jahre aber zur leicht instrumentalisierbaren Worthülse geworden ist. Hallmanns Perspektive ist eine kulturwissenschaftlich orientierte empirische Zivilgesellschaftsforschung, der aber eine theoretische Klärung vorausgehen muss: Wer oder was ist die "Zivilgesellschaft" und wie kann sie die von ihr erwarteten demokratischen Potenziale entfalten? Dazu stellt der Autor stellt einige Ansatzpunkte vor.

Stephan Krauses literaturwissenschaftlicher Aufsatz setzt sich von den anderen Beiträgen in inhaltlicher wie ästhetischer Hinsicht ab, denn er lenkt den Blick weniger auf die theoretischen Aspekte seines Themas, sondern auf die literarische Betrachtung der Texte selbst. Er beschäftigt sich mit dem Werk des DDR-Schriftstellers Franz Fühmann, insbesondere mit Interpretationsansätzen zu dessen Romanfragment "Im Berg". Die räumliche Anlage Bergwerk bildet als schichten- und beziehungsreiche Unterwelt den zentralen poetischen Platz in Fühmanns Werk. Der Autor betrachtet die Arbeit Fühmanns unter dem Gesichtspunkt des 'Raumes Bergwerk' als Metapher für (Literatur-)Geschichte. Dabei begreift er die Werke Fühmanns nicht als DDR-spezifische Literatur, sondern möchte ihren literarischen Stellenwert als sprachliche Gebilde deutlich machen. Krause fordert und demonstriert eine weitgespannte kulturwissenschaftliche Betrachtung, um dem Stellenwert des "Ortes Bergwerk als große Metapher für historische Prozesse" – gerade in Fühmanns Werk – gerecht zu werden.

Das Spektrum der Aufsätze lässt also an Interdisziplinarität nichts zu wünschen übrig. Solche Kreuzfahrt durch die Wissenschaften ist horizonterweiternd aber manchmal auch anspruchsvoll für die LeserInnen – dafür erwarten diese jedoch inspirierende Querverbindungen zwischen den fachspezifischen Beiträgen!

Boris Friele, Anne Stickel, Antonia Davidovic
Berlin, Dezember 2005