Publikation Soziale Bewegungen / Organisierung Die Grünen auf der Suche nach einer neuen strategischen Perspektive

Text der Woche 44/2005 von Jochen Weichold

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Reihe

Online-Publ.

Autor

Jochen Weichold,

Erschienen

Oktober 2005

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Das Ergebnis der Bundestagswahl vom 18. September 2005 hat Die Grünen in eine neue Situation, an den Beginn einer neuen Entwicklungsphase gestellt: Nach sieben Jahren haben sie die Regierungsbänke mit denen der Opposition tauschen müssen. Und nicht genug damit: sie stellen nun mit 51 Abgeordneten (2002: 55 Sitze) die kleinste Bundestagsfraktion in einem Fünf-Parteien-System. Anlass für die Führungsriege der Partei, nach einer neuen strategischen Orientierung für Die Grünen zu suchen:
Bei den Veränderungen im Koordinatensystem müssen die Vordenker der Öko-Partei an erster Stelle der Tatsache Rechnung tragen, dass Rot-Grün als strategisches Projekt zunächst nach und nach auf Landesebene (zuletzt in Schleswig-Holstein und in Nordrhein-Westfalen) und schließlich auch auf Bundesebene gescheitert ist. Ernsthafte Spannungen zwischen „Koch und Kellner“ gab es nicht nur in der Umwelt- und Energiepolitik, sondern auch in der Innenpolitik bei der Wahrung der Bürgerrechte immer wieder. Die Kriegsbeteiligung auf dem Balkan und Militäreinsätze der Bundeswehr außerhalb Europas führten zu Zerreißproben insbesondere der Grünen. „Agenda 2010“ und „Hartz IV“ beutelten vor allem die Sozialdemokratie. Insgesamt blieben die Ergebnisse des rot-grünen Projekts weit hinter den Erwartungen zurück, die die Wähler von SPD und Grünen ursprünglich daran geknüpft hatten. Und ganz zuletzt schielten Vertreter des rechten Flügels der SPD wie Wirtschaftsminister Clement, Innenminister Schily oder Finanzminister Eichel schon vor dem Wahltag auf eine Große Koalition mit der Union. Der langjährige „heimliche Parteivorsitzende“ der Grünen und Protagonist des rot-grünen Projektes, Joschka Fischer, hat die Konsequenz gezogen und definitiv erklärt, für Führungsaufgaben in seiner Partei nicht mehr zur Verfügung zu stehen.


Dass die Wähler bei der Bundestagswahl allerdings weder SPD und Grüne, noch CDU/CSU und FDP mit einer hinreichenden Mehrheit ausgestattet haben, dass nicht nur SPD und Grüne, sondern auch Schwarz-Gelb einen dritten Partner zum Regieren brauch(t)en, veranlasste selbst erzkonservative Politiker, Die Grünen plötzlich in einem rosa Licht zu sehen. Der bayerische Ministerpräsident und CSU-Chef Edmund Stoiber erklärte, wir reden mit allen – außer mit den ganz Roten. 1 Unions-Kanzlerkandidatin Angela Merkel – unterstützt von Niedersachsens Regierungschef Christian Wulff, Ex-Parteichef Wolfgang Schäuble und anderen CDU-Granden – bot den Grünen Gespräche über die Bildung einer Jamaika-Koalition an und äußerte auch nach dem Treffen am 23. September 2005, dass für sie die Option eines schwarz-gelb-grünen Bündnisses weiter bestehe. 2 Für Die Grünen eröffnete sich damit strategisch eine schwarz-grüne Option auf Landes- und Bundesebene – die sie allerdings vorerst ausschlugen. Diese Option ist die zweite wichtige Veränderung im politischen Koordinatensystem.


Auf der Bundesdelegiertenkonferenz (BDK) von Bündnis 90/Die Grünen in Oldenburg Mitte Oktober 2005 war die schwarze Offerte Grund genug zu verkünden: „Unsere Türen sind offen.“ Aber – so die frisch gekürte Fraktionsvorsitzende der Öko-Partei, die bisherige Verbraucherschutzministerin Renate Künast: „Wir geben hier keine Kontaktanzeige auf.“ 3 Will heißen: Wir haben sehr wohl registriert, dass in Zukunft schwarz-grüne Koalitionen möglich sind, aber gegenwärtig ist es dafür zu früh. Denn die Parteibasis ist noch längst nicht so weit, einen solchen Schritt mit zu tragen.


Zwar gibt es mit dem neoliberalen Flügel um Oswald Metzger, Christine Scheel, Margareta Wolf und Klaus Müller sowie einigen smarten Jungpolitikern wie Matthias Berninger eine agile Truppe in den Grünen, die lieber heute als morgen mit der Union ins Regierungsbett steigen würde, doch bayerischen Delegierten gingen schon die Gespräche der Parteiführung mit der CDU/CSU zu weit. Die Stimmung auf dem Parteitag in Oldenburg wurde eher von jenen geprägt, die meinen, Die Grünen müssten sich nach dem Scheitern der Koalition mit der SPD auf Bundesebene wieder mehr auf ihre linken Wurzeln besinnen. Symptomatisch dafür waren die stehenden Ovationen, die Christian Ströbele für seine Rede auf der BDK erhielt, in der er erklärte, er sei im Berliner Wahlkreis Friedrichshain-Kreuzberg als „Linker in den Grünen“ gewählt worden. Er habe sein Direktmandat erhalten für linke Positionen in den Fragen Frieden und soziale Gerechtigkeit. Seine Schlussfolgerung: Ökologie, soziale Gerechtigkeit, Frieden – das seien die drei Standbeine der Grünen.


Parteichef Reinhard Bütikofer erklärte angesichts dieser Stimmungslage in der letzten Zeit mehrfach, die Partei solle in der Zukunft nicht nur auf Rot-Grün setzen. Ein unverändertes Festhalten an der alten Lagerausrichtung würde neue Optionen verstellen. Gleichzeitig unterstrich er aber wie die Ko-Vorsitzende Claudia Roth, dass es keine Äquidistanz zu CDU/CSU und SPD gebe, sondern mit den Sozialdemokraten nach wie vor mehr Gemeinsamkeiten existierten als mit der Union. Und in der Tat sind die Gräben zwischen Grünen und CDU/CSU tief: Kopfpauschale versus Bürgerversicherung heißen die Stichworte in der Gesundheitspolitik; „Zukunft für Kernenergie“ oder Festhalten am Ausstiegsszenario lauten sie in der Umweltpolitik; reaktionäre Law-and-Order-Politik steht gegen Vorstellungen von einer multikulturellen Gesellschaft und der Verteidigung von Bürgerrechten auf dem Feld der Innenpolitik...


Die Parteiführung der Grünen war auf der BDK in Oldenburg sichtlich bemüht, zum gegenwärtigen Zeitpunkt einen Streit darüber zu vermeiden, ob sich die Partei stärker in Richtung Rot-Rot-Grün oder in Richtung Schwarz-Grün bzw. Schwarz-Gelb-Grün bewegen solle. Notwendig sei es, in den kommenden Monaten das politische Profil der Partei zu schärfen und an inhaltlichen Projekten wie Bürgerversicherung, armutsfeste Grundsicherung und Mindestlohn weiter zu arbeiten. Damit ist aber offen geblieben, wie der künftige Kurs der Grünen aussehen wird.


Wenn vom „Öffnen der Partei“ die Rede sei, dann – so Bütikofer – müssten sich Die Grünen für die Menschen öffnen, nicht für konkurrierende Parteien. Sie müssten mehr grün in die Realität bringen über die Inhalte grüner Politik. Sie müssten mit ihren Politik-Konzepten wie einer „Energiepolitik weg vom Öl“, mit ihrer Kinder- und Bildungspolitik oder mit ihren Vorstellungen von der „solidarischen Modernisierung“ des Sozialstaates Menschen aus unterschiedlichen Schichten und Gruppen ansprechen, die sie bisher nicht erreicht hätten.


Damit fällt das Licht auf einen dritten Aspekt im politischen Koordinatensystem: Am 18. September 2005 erzielten Die Grünen mit 8,1 Prozent der Zweitstimmen (2002: 8,6 Prozent) ihr drittbestes Ergebnis bei Bundestagswahlen in ihrer Geschichte – doch mit einer bemerkenswerten Besonderheit: Leichten Rückgängen im Westen stehen deutliche Stimmenzuwächse im Osten gegenüber. Neun der zehn Wahlkreise, in denen Die Grünen ihre höchsten Stimmenzuwächse verbuchen konnten, liegen in Ostdeutschland. Anderthalb Jahrzehnte nach der Herstellung der staatlichen Einheit Deutschlands bilden sich in Groß- und Universitätsstädten im Osten sowie im Speckgürtel von Berlin langsam jene postmaterialistischen Milieus in nennenswerter Größe heraus, die den Humus für das prächtige Gedeihen der Grünen im Westen bildeten. Damit eröffnen sich für die Öko-Partei gute Chancen, bei den kommenden Landtagswahlen in Ostdeutschland nach Sachsen in weitere Landtage der neuen Bundesländer einzuziehen.


Das Zweitstimmenergebnis der Grünen mit einem vergleichsweise geringen Verlust per Saldo von 270.000 Stimmen bedarf dennoch einer näheren Betrachtung. Während Die Grünen nach der Analyse von Infratest dimap 110.000 Stimmen an die Unionsparteien, 50.000 an die FDP und 80.000 an das Lager der Nichtwähler verloren, wanderten unter dem Strich 220.000 bisherige Grün-Wähler zur Linkspartei. Andererseits konnten Die Grünen der SPD 210.000 Wählerstimmen abspenstig machen. 4 Sie konnten mehr Jungwählerinnen und Jungwähler für sich mobilisieren als FDP und Linkspartei. Berücksichtigt man zudem, dass das (nach der Umweltpolitik mit 51 Prozent) zweitwichtigste Motiv, grün zu wählen, mit 41 Prozent das der sozialen Gerechtigkeit war, konturiert sich ein besonderes Konkurrenzverhältnis der Öko-Partei zur Linkspartei. 5


Die großspurige Ankündigung von Fraktionschefin Renate Künast, die Meinungsführerschaft in der Opposition anzustreben, 6 darf sicher zu Recht als Kampfansage an die Linkspartei verstanden werden, der Die Grünen Strukturkonservatismus und Populismus vorwerfen. Wie man der FDP nicht die Frage der Bürgerrechte abtreten könne, betonte Claudia Roth, so dürfe man nicht der Linkspartei das Politikfeld der sozialen Gerechtigkeit überlassen. 7 Die Grünen werden aber in der Opposition ihr eigenes Profil entwickeln müssen, sich absetzen müssen von der FDP auf der einen Seite und von der Linkspartei auf der anderen Seite.


Schließlich muss auf einen vierten Aspekt im politischen Koordinatensystem aufmerksam gemacht werden: Die Bundestagswahl hat gezeigt, dass es eine deutliche strukturelle Mehrheit diesseits von CDU/CSU und FDP gibt. Die Grünen werden sich in Zukunft fragen lassen müssen, was sie dazu beitragen, dass die rechnerische linke Mehrheit auch politisch fruchtbar gemacht wird. Christian Ströbele hatte in Oldenburg bereits eine Lanze für Rot-Rot-Grün gebrochen und seine Partei aufgefordert, die linke Mehrheit im Bundestag langfristig zu nutzen. 8


Obwohl nach dem Umbruch in der Mitgliedschaft der Grünen im Verlauf der 90er Jahre heute eine pragmatisch-realpolitische Strömung dominiert, existiert in der Partei nach wie vor eine breite linke Grundstimmung. Ein Fingerzeig dafür, wohin das politische Pendel bei den Grünen künftig ausschlägt, wird ihr Verhalten in der Opposition sein. Reinhard Bütikofer kündigte auf der BDK in Oldenburg an, Die Grünen werden in der Opposition sowohl mit der FDP als auch mit der Linkspartei gegen die Große Koalition zusammenarbeiten, wo es der Sache dienlich sei. Die entscheidende Frage ist aber: Stimmen sie mit der FDP für eine Verschärfung des marktliberalen Kurses der von der CDU geführten Bundesregierung oder mit der Linkspartei für Maßnahmen, die zu mehr sozialer Gerechtigkeit in der Gesellschaft führen?

Stand: 27. Oktober 2005



1  Siehe Frankfurter Rundschau, Frankfurt am Main, 20.09.2005.
2  Siehe Neues Deutschland, Berlin, 24./25.09.2005.
3  Zit. in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Frankfurt am Main, 17.10.2005.
4  Siehe DER SPIEGEL, Hamburg, 2005, Wahlsonderheft 05, S. 62.
5  Deren Wähler benannten die Frage der sozialen Gerechtigkeit mit 60 Prozent als ihr wichtigstes Motiv, Linkspartei zu wählen. Siehe DER SPIEGEL, Hamburg, 2005, Wahlsonderheft 05, S. 62.
6  Siehe junge Welt, Berlin, 29.09.2005.
7  Siehe: Claudia Roth: „Opposition ist kein Mist!“ Rede [...] auf der BDK [der Grünen am 14. Oktober 2005 in Oldenburg], [Berlin] 2005, S. 4.
8  Siehe Süddeutsche Zeitung, München, 17.10.2005.