Publikation International / Transnational - Europa Krise der parlamentarischen Linken

Nach den Parlamentswahlen stehen Polens linksgerichteten Kräften in den kommenden Jahren vor der schweren Aufgabe eines Neubeginns. Text der Woche 41/2005 von Holger Politt

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Reihe

Online-Publ.

Autor

Holger Politt,

Erschienen

Oktober 2005

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Der Text erscheint zeitgleich in der Online-Ausgabe der Zeitschrift „Sozialismus“
www.sozialismus.deNach den Parlamentswahlen stehen Polens linksgerichteten Kräften in den kommenden Jahren vor der schwere Aufgabe eines Neubeginns

Ob Polens Bürger mit ihrer Wahl eine für sie gute Wahl getroffen haben, wird wohl erst die Zukunft zeigen. Diese wird beginnen, wenn das höchste Staatsamt nach der nunmehr nötigen Stichwahl vergeben sein wird. Ein Blick zurück indes verheißt, dass eigentlich alle demnächst in höchste politische Verantwortung schlüpfenden Köpfe bereits auf der politischen Bühne Polens – und zwar wenig erfolgreich - zugange waren. Ihrer Abstrafung durch den Wähler sind sie vor vier Jahren nur deshalb entgangen, weil sie noch rechtzeitig ein anderes Parteikostüm sich zulegen konnten.

Kurz vor dem Ende der 1997-2001 regierenden rechten Wahlaktion Solidarität (AWS) entstanden die in das liberale Lager gerichtete Bürgerplattform (PO) und als Angebot für die eher nationalkatholisch ausgerichteten Wähler die Gruppierung Recht und Gerechtigkeit (PiS). Die gemeinsame Klammer AWS indes überstand die damaligen Parlamentswahlen nicht mehr. PO übernahm zudem Teile der 2001 ebenfalls an den Hürden parlamentarischer Zugehörigkeit scheiternden liberalen Freiheitsunion (UW). Die beiden neu-alten Gruppierungen mussten sich vier Jahre mit einer vergleichsweise bescheidenen Oppositionsrolle begnügen, bevor sie sich anschicken konnten, in Polens politischem Leben endgültig die ersten Geigen zu spielen.

Bei den Parlamentswahlen erreichten sie zusammen knapp 52% der abgegebenen Stimmen (mit leichtem Vorsprung für die PiS), in der ersten Runde der Präsidentschaftswahl bekamen ihre beiden Kandidaten zusammen stolze 70% (mit leichtem Vorsprung für den PO-Kandidaten). Auch wenn Donald Tusk (PO) und Lech Kaczyński (PiS) in den verbleibenden Tagen bis zum wahlentscheidenden 23. Oktober miteinander verbissen „um jede Stimme“ kämpfen werden, der „gedeihlichen“ Zusammenarbeit ihrer beiden Parteien in einer sich konservativ verstehenden Koalition dürfte der zeitlich kurze und auf Personen begrenzte Kampf nicht im Wege stehen. Während Tusk nun vor allem im feinen freundlich-liberalen Kostüm wandelt, stellt Kaczyński sein kurioses Bild eines solidarischen Polen voran. Darin wagt er zu pfeifen auf einen Gutteil freiheitlich-emanzipatorischer Werte, die er als Unglück für ein katholisch sich empfindendes Land ansieht.

Kostproben dieses Gesellschaftsverständnisses gab er bereits als amtierender Warschauer Stadtpräsident. Der Konkurrent will ebenfalls Ballast von Bord werfen, zeigt er sich doch überzeugt, dass alle Chimären des „alten europäischen Sozialstaats“ Gift für die so bitter benötigte Entwicklung des Landes seien. Polen sei ein individualistisch geprägtes Land und komme deshalb ganz gut ohne ungerechtfertigte, außerdem zukünftige Generationen belastende Wohltaten zurecht. Vor dem Wähler hat sich vor der Stichwahl scheinbar die Alternative aufgebaut, zwischen einem zukünftig solidarischem Staat, dem vor allem um das Wohl des Bürgers gelegen ist, und einem sich wirtschaftsfreundlich verstehenden Staat, dessen Führungspersonal Polens drängendstes soziales Problem – die anhaltend hohe Arbeitslosigkeit insbesondere unter jüngeren Menschen – nur auf dem Wege hohen Wirtschaftswachstums als lösbar erachtet.

Das aktuelle Kräfteverhältnis

Auch wenn das Pendel nach dem deutlichen „Linksdrall“ von 2001 nun wieder kräftig nach rechts ausschlug, lassen sich in Polens politischer Landschaft nach wie vor vier größere Lager ausmachen, zu denen die einzelnen Parteien zuzuordnen wären. Die eher atmosphärische Unterscheidung in das so genannte Ethos-Lager und in die Postkommunisten hat in den letzten Jahren hingegen an Bedeutung verloren. Zu unterscheiden sind ein linksgerichtetes, ein liberales, ein bauernpolitisches und ein national-katholisches Lager. Alle Lager könnten im Grunde mit einem Wählerpotenzial von etwa 20-25% rechnen. Wird bei Wahlen oder in Umfragen das Potenzial nicht ausgeschöpft, kann von einer Krise des betreffenden politischen Lagers gesprochen werden. Insofern befindet sich laut jüngstem Wahlergebnis das linksgerichtete Lager in einer solchen Krisensituation, da es mit den insgesamt erreichten knappen 15% deutlich unter seinen bisherigen Möglichkeiten blieb.

Die bisher regierende Demokratische Linksallianz (SLD; 11,3%) zieht ins Parlament ein, die Polnische Sozialdemokratie (SdPl; 3,9%) und die Polnische Partei der Arbeit (PPP; unter 1%) nicht. Das bauernpolitische Lager, bestehend aus Samoobrona (11,4%) und Bauernpartei (PSL; 7%) kam auf über 18% und erreichte eines der besten Ergebnisse der letzten Jahre. Auf dem Lande war es mit 36% nur dem national-katholischen Lager unterlegen. Das liberale Lager – vor allem in den Großstädten und unter jüngeren, gut ausgebildeten Wählern überdurchschnittlich stark vertreten – kam zusammen auf knapp 27%, wobei die sich liberal-konservativ verstehende PO (24,1%) den Löwenanteil stellt und die eigentliche liberale Musterpartei Demokraten (DP; 2,5%) deutlich an der 5%-Hürde scheiterte.

Deutlicher Sieger ist mit knapp 35% das national-katholische Lager, wesentlich bestehend aus der national-konservativ sich verstehenden PiS (27%) und der nationaler ausgerichteten LPR (Liga der polnischen Familien; 8%). Bereits dieser kleine Überblick macht deutlich, welchen dramatischen Einbruch das linksgerichtete politische Lager, welches 2001 insgesamt noch 44% erreichte, zu verzeichnen hat. Dass diese Niederlage sich bereits seit längerer Zeit anbahnte, steht freilich auf einem anderen Blatt.

Krise der parlamentarischen Linken

Von allen damaligen Wahlversprechen konnte die seit 2001 regierende SLD (im Bunde mit der kleinen Union der Arbeit, UP) eigentlich nur zwei Dinge erfüllen: den erfolgreichen Beitritt zur EU und das angepeilte Wirtschaftswachstum von durchschnittlich 5% jährlich. Da die Zuwächse des BIP jedoch keine spürbare Entlastung auf dem angespannten Arbeitsmarkt brachten, blieb die erhoffte politische Dividende vor allem bei den jüngeren Menschen aus. Wenn die offizielle Arbeitslosenquote (landesweit um 18%) bei den unter 30-jährigen weit über 30% liegt, kann die Enttäuschung bei vielen jüngeren Menschen nachvollzogen werden. Die deutlichsten Verluste musste die SLD bei den Parlamentswahlen gerade in dieser Altersgruppe hinnehmen und verzeichnete hier gerade einmal 7%. Der 2001 von Leszek Miller und anderen erträumte Aufbruch der SLD heraus aus der linken Ecke und hinein in die Mitte der Gesellschaft wurde vor allem von jüngeren, gut ausgebildeten Menschen getragen. In diesem Jahr hat diese Wählerschicht ganz eindeutig der PO (32%) und PiS (26%) den Vorzug gegeben. Lediglich in der Gruppe der über 60-jährigen konnte die SLD mit 17% ein überdurchschnittliches Ergebnis einfahren. Aber sogar hier ist man zusammen mit der PO und deutlich hinter PiS (28%) nur zweiter Sieger.

Die erhofften politischen Auswirkungen aus dem EU-Beitritt sind ebenfalls ausgeblieben. Einerseits wird der Beitritt in der öffentlichen Wahrnehmung mittlerweile als ein ganz normaler und sich eigentlich von selbst verstehender Vorgang angesehen, andererseits sollte auch heute nicht vergessen werden, dass beim letztlich erfolgreichen Referendum über den EU-Beitritt im Frühsommer 2003 eine Mehrheit der wahlberechtigten Bevölkerung nicht Ja gesagt hat – also entweder mit Nein gestimmt hat oder dem Referendum einfach ferngeblieben ist. Grundsätzlich hat sich an dieser Teilung in der Gesellschaft nichts geändert, auch wenn die Zustimmung zur EU punktuell wächst. Außerdem – und hier wurde aus linker Sicht urteilend die Rechnung wohl gänzlich ohne Rücksicht auf den Wirt erstellt – wurde die Zustimmung im EU-Referendum recht teuer erkauft. Um die obligatorische 50%-Hürde bei der Wahlbeteiligung zu überspringen war die Partnerschaft mit dem Episkopat der katholischen Kirche notwendig geworden. Die EU-freundlichen öffentlichen Äußerungen führender Kirchenvertreter kurz vor dem Referendum wurden stillschweigend aber gründlich vergolten mit einem totalen Verzicht auf alle emanzipatorisch-weltanschaulichen Dinge, die noch vor Regierungsantritt versprochen waren. So blieb den Polinnen in der Regierungszeit der Linkskräfte das rigideste Abtreibungsrecht aller EU-Staaten erhalten.

Die Omnipotenz der katholischen Kirche im öffentlichen Raum wurde nicht nur nicht angetastet, sie ist in den zurückliegenden Jahren weiter kräftig gewachsen. Argumentiert wurde von SLD-Seite immer mit dem Verweis auf die „schlechten Erfahrungen“ der VRP-Zeit, weshalb gerade die Linke auf diesem Gebiet viel gutzumachen habe. So wurde also das eigentlich verfassungsmäßig vorgeschrieben Gebot der strikten Trennung von Staat und Kirche auch in den zurückliegenden vier Jahren stetig ausgehöhlt. Der Witz liegt darin, dass die Auseinandersetzung auf diesen für das gesellschaftliche Zusammenleben wichtigen Feldern zunächst einmal keine Haushaltsmittel verschlungen hätte. Die Verantwortlichen geben heute stillschweigend zu, dass hier ohne Not gehandelt wurde.

Den Rest an Glaubwürdigkeit fraß eine Kette unglaublicher Korruptionsfälle und Skandale auf, in die höchste Funktionsträger und Parlamentarier der SLD verwickelt waren. Damit bereitete die SLD ihren politischen Gegnern eine Steilvorlage, denn das Gerede einer so genannten IV. („sauberen“) Republik gründet sich wesentlich auf das auf diese Fälle gestützte Medienbild der letzten Jahre. Dass die AWS-geführte Regierung zwischen 1997 und 2001 diesbezüglich viel mehr auf dem Kerbholz hatte, war hingegen kaum noch einer Notiz wert. Und so treten als Saubermänner heute Männer erfolgreich vor die Wähler, die alle „dunklen Machenschaften“ der zurückliegenden Jahre dem moralisch anrüchigen Beginn der „Transformationszeit“ anrechnen können, da alles mit einem faulen, weil hinter verschlossenen Türen ausgehandelten Kompromiss zwischen den heutigen „Postkommunisten“ und einem Teil der damaligen „Solidarność“-Elite begann.

Neubeginn mit Fragezeichen

Sei es drum. Vor Polens linksgerichteten Kräften steht in den kommenden Jahren die schwere Aufgabe eines Neubeginns und einer neuen Profilierung. Die zurückliegenden 15 Jahre können als abgeschlossen gelten, auch wenn in Hinsicht der Teilhabe an der politischen Macht nicht wenige Erfolge aufzuweisen gewesen sind: zehn Jahre Präsidentschaft von Aleksander Kwaśniewski, der 1995 als linker Kandidat überraschend das Rennen gegen Amtsinhaber Lech Wałęsa machte. Insgesamt stellte die SLD vier Ministerpräsidenten und befand sich von 1993-1997 bzw. von 2001-2005 in Regierungsverantwortung. Das alles wird in den kommenden Monaten und Jahren nicht mehr entscheidend zählen.

Wohin Polens Linke indes marschieren wird, muss offen bleiben. Bisher glaubten allzu viele Entscheidungsträger, die Bezeichnung „moderne Sozialdemokratie“ gebe am ehesten Sinn und Ausrichtung des eigenen Weges wieder. Modern hieß in diesem Falle aber stets Verzicht auf als überflüssig erachtete sozialstaatliche Leistungen und strikte Hinwendung zur Wirtschaft, die eben beste Bedingungen für ihr Aufblühen erwarten durfte. Alles wurde auf den kleinen Nenner „Chancengleichheit“ zurückgeführt. Man wolle den Menschen eine Angel geben und nicht gleich mit Fisch versorgen. Diskussionen um einen „Umbau des Sozialstaats“ – wie etwa in Deutschland – erschienen ihnen antiquiert, aus einer anderen Zeit stammend und nicht mehr zeitgemäß. Alles vor dem Hintergrund einer ganz prosaischen und erschreckenden Zahl: Nur jeder fünfte der als arbeitslos registrierte Bürger Polens bekommt so etwas wie eine Lohnersatzleistung. Bei einer offiziellen Arbeitslosenquote von etwa 18% ist dies kein Pappenstiel für die Gesellschaft und den betroffenen Einzelnen. Was sollte daran „modern“ gewesen sein?

Nunmehr sieht sich Polens Linke zurückgeworfen auf den Stand von 1990/1991. Damals indes gab es die große Zuversicht, dass durch die sozialdemokratische Orientierung aus der PVAP-Erbmasse heraus eine starke und erfolgreiche Linke sich etablieren ließe. Von dieser Zuversicht, das wenigstens steht fest, ist nicht mehr sehr viel übriggeblieben. So zumindest ist ein langer offener Brief von Mieczysław F. Rakowski an die Tageszeitung „Trybuna“ zu deuten, indem er dieser Tage längere Auszüge seines Referats zitiert, mit dem der damalige letzte Erste Sekretär der PVAP im Januar 1990 ein Schlusswort mit Ausblick in die sozialdemokratische Zukunft wagte: „Sozialismus ist praktisch gesehen die Wahl der Gerechtigkeit, der Freiheit, des gemeinsamen Handelns in der Rivalität, der Solidarität im Individualismus, der Emanzipation in der Abhängigkeit, der Subjektwerdung in den versachlichten Beziehungen. Vor allem aber ist Sozialismus Emanzipation der Arbeitenden und Humanisierung der Arbeit“.