Die Stadtregierung von Montevideo hat im April 2005 ein Projekt der Casa Bertolt Brecht zum städtischen Interesse erklärt. Bemerkenswert an der Auszeichnung des mit Unterstützung der Rosa Luxemburg Stiftung durchgeführten Projektes "Bürgerbeteiligung und Dezentralisierung kommunaler Strukturen in Montevideo/Uruguay" ist der Verweis darauf, dass die Maßnahme einen besonderen Beitrag zur Analyse und Korrektur des Dezentralisierungsprozesses in Montevideo geleistet habe.
Fünfzehn Jahre Dezentralisierung in Montevideo
Das Linksbündnis Frente Amplio, das im Oktober 2004 die Präsidentschaftswahlen in Uruguay gewinnen konnte, hatte vor fünfzehn Jahre die Stadtregierung in Montevideo übernommen und einen weit reichenden Dezentralisierungsprozess in der Hauptstadt eingeleitet. Montevideo wurde in 18 Verwaltungszonen eingeteilt. Jede Zone besteht aus einer Delegiertenversammlung, dem kommunalen Zentrums und dem Nachbarschaftsrat, der so genannte Consejo Vecinal. Die Nachbarschaftsräte stellen das Herzstück der Bürgerbeteiligung und Mitbestimmung dar. Ihnen gehören zwischen 25-40 Mitgliedern an, die auf lokaler Ebene von der Bevölkerung gewählt werden. Diese Mitglieder sind Vertreter von lokalen Organisationen oder Einzelpersonen. Im Rat werden Resolutionen der Stadtverwaltung besprochen und Entscheidungen über lokale Baumaßnahmen oder andere Aktionen getroffen. In ihnen werden die Probleme der Zone analysiert und Lösungsstrategien entworfen.
Schwindende Bürgerbeteiligung
Die Casa Bertolt Brecht (CBB) versteht sich als eine interkulturelle Organisation. 1964 wurde sie von einer Gruppe Urugayer mit deutschen Wurzeln gegründet und bietet heute neben den Sprachkursen politische und kulturelle Veranstaltungen und Diskussionszyklen an. An wichtigen politischen Prozessen, wie beispielsweise die Volksabstimmung zur Privatisierung der Wasserversorgung, beteiligt sich die Casa Bertolt Brecht.
In ihrem Antrag 2002 an die Rosa Luxemburg Stiftung betonte die CBB die Notwendigkeit, den Dezentralisierungsprozess auf lokaler Ebene zu stärken. In ihrer Begründung verwies sie darauf, dass die Nachbarschaftsräte verschiedene Probleme aufwiesen, die gelöst werden müssten. Genannt wurden eine abnehmende Beteiligung der Ratsmitglieder, zunehmende Distanz zwischen ihnen und den Organisationen, die sie gewählt hätten und Unausgewogenheit bezüglich der Organisationen und Bevölkerungsgruppen, die im Rat vertreten seien. Das Interesse an den Wahlen der Nachbarschaftsräte habe zudem deutlich nachgelassen, sowohl von Seiten der Wählerinnen und Wähler als auch von Seiten der potentiellen Kandidaten. Deutlich wurde in verschiedenen Untersuchungen auch, dass die Bürgerinnen und Bürger sich eher um konkrete Aspekte des Alltagslebens im Stadtteil bemühen als um längerfristige Verantwortlichkeiten oder Probleme, die über ihr unmittelbares Lebensumfeld hinausgingen. Diese Probleme wurden und werden verstärkt durch die allgemeine Verschlechterung der wirtschaftlichen und sozialen Situation in Montevideo und in Uruguay insgesamt.
Jugend, Kultur und Siedlungspolitik als Projektschwerpunkte
Zu Beginn des Projektes, das ab Juni 2003 mit vergleichsweise bescheidenen Mitteln durchgeführt wurde, fand ein intensiver Planungsworkshop mit Bewohnern des Stadtteils Cerro in Montevideo, mit Vertretern der Stadtverwaltung, der Casa Bertolt Brecht und der RLS statt. Zuvor war der Cerro, die 17. Zone in Montevideo, mit Grund als Projektregion ausgewählt worden. Die Bevölkerung des Cerros leidet unter hoher Arbeitslosigkeit und ist von einer zunehmenden sozialen Ausgrenzung bedroht. Zum Cerro gehören 75 so genannte irreguläre Siedlungen, in denen die Lebensbedingungen überdurchschnittlich hart sind. Betroffen sind hier insbesondere Jugendliche, weil sie von der Wirtschaftskrise stark betroffen sind. Der Planungsworkshop verdeutlichte, dass die Jugendlichen in den Nachbarschaftsräten unterproportional vertreten sind. Im Folgenden wurde entschieden, die Jugendliche als Hauptzielgruppe zu definieren und zwei Themenschwerpunkte festzulegen, die Kultur und die Problematik der irregulären Siedlungen, mit denen selbst die Mehrheit der Ratsmitglieder nicht vertraut sind.
Projektresultate
Das Ziel des Projektes, die Stärkung lokaler Organisationen für eine aktivere Beteiligung in den Strukturen des Dezentralisierungsprozesses, wurde in der folgenden Projektlaufzeit mit den genannten Schwerpunkten umgesetzt. Vor und nach den Wahlen der Mitglieder der Nachbarschaftsräte in Montevideo, im Mai 2004, führte die Casa Bertolt Brecht mit den örtlichen Organisationen eine Reihe von Aktivitäten durch, die das Interesse der Bevölkerung an den Wahlen stärkte, die Aufstellung neuer Kandidaten ermöglichte und die Bedürfnisse und Forderungen der Bevölkerung an die zu wählenden Ratsmitglieder deutlich machte. Als Erfolg kann die Casa Bertolt Brecht die Kandidatur und anschließende Wahl von einigen Vertretern aus den irregulären Siedlungen, unter ihnen auch drei Jugendliche, verbuchen. Nach den Wahlen bestand die Herausforderung der Casa darin, durch regelmäßige Aktivitäten die Beziehung zwischen der Bevölkerung der irregulären Siedlungen und den Ratsmitgliedern zu stärken und aktiv zu halten. Dazu gehörte auch die Weiterbildungen für die Ratsmitglieder. Gerade die jugendlichen Ratsmitglieder, die von den Älteren mitunter abgelehnt werden, benötigen kontinuierliche Unterstützung und Begleitung. Von Mai bis Dezember 2004 wurde als regelmäßige Veranstaltung die Seminarreihe „Participar es conocer(nos)“ (Beteiligen bedeutet (uns) kennen lernen) angeboten, in der Themen aufgegriffen wurden, die im Planungsworkshop von der Bevölkerung vorgeschlagen worden waren, wie z.B. Generationenprobleme, Rassismus und Diskriminierung, neue Informationstechnologien, die Funktion der Kultur in der Bürgerbeteiligung. Diese Veranstaltungen trugen zu einem kontinuierlichen Diskussionsprozess im Stadtteil bei, an dem neben den jeweils betroffenen Gruppen immer auch einige Ratsmitglieder teilnahmen.
Der Cerro öffnet sich der Stadt
Zwei weitere wichtige Aktivitäten waren einerseits ein Seminar zur Diskussion der rechtlichen Situation von irregulären Siedlungen und der Möglichkeit der Regularisierung von Grund und Boden. An dieser Veranstaltung nahmen die involvierten Bevölkerungsgruppen, Experten und Ratsmitglieder teil, beispielhaft dafür, wie lokale Probleme gemeinsam angegangen werden können. Auf viel Interesse ist andererseits der Literaturwettbewerb zu Prosa und Poesie für Jugendliche im Cerro gestoßen. Eine professionelle Jury wählte die besten Beiträge aus, die von den Jugendlichen anschließend in gemeinsamer Arbeit veröffentlicht wurden und inzwischen bei verschiedenen öffentlichen Gelegenheiten präsentiert wurden. Der Titel des Buches „Das Schweigen in Stücke reißen“ hat symbolischen Charakter, auch für dieses Projekt. Die Aktivitäten mit den Jugendlichen entwickeln sich seitdem im Cerro und in Kooperation mit der Kulturkommission des Nachbarschaftsrates zu einer kontinuierlichen Jugend-Kulturarbeit, deren besondere Stärke in der Verbindung von Jugend, Stadtteil, Identität und Kultur liegt. Die Jugendlichen beteiligen sich an den Seminaren der Casa, schlagen eigene Aktivitäten wie die Gründung einer Kulturzeitschrift vor und zeigen Interesse an der Entwicklung ihres Stadtteils.
Die beschrieben Projektphase endete im April 2005 mit einer öffentlichen Diskussion zum Dezentralisierungsprozess und zu den Projektergebnissen. Die Veranstaltung stand unter dem Motto „Der Cerro öffnet sich der Stadt“ - das ist ein gutes Ergebnis und ein großer Gewinn für Montevideo. Die Fortsetzung des Projektes wird derzeit zwischen den beteiligten Akteuren beraten.