von Marc Temme
Reihe: Texte der Rosa-Luxemburg-Stiftung; Bd. 4
In den zehn Jahren, die seit der Beseitigung der sozialistischen Diktatur in Ostdeutschland vergangen sind, hat die wiedervereinigte bundesdeutsche Gesellschaft sich im wesentlichen mit den aktuellen Problemen beschäftigt, die das Zusammenwachsen beider deutscher Staaten mit sich brachte. Dies hatte seine Rechtfertigung sowohl in den drängenden wirtschaftlichen Problemen als auch im wieder aufkeimenden Rechtsradikalismus. Die in der Öffentlichkeit geführte Diskussion beschränkte sich darüber hinaus in der Hauptsache auf die Prozesse um die Mauertoten und gegen führende SED-Funktionäre. Verschiedene Historiker haben in ihren Abhandlungen die Machtstrukturen der SED-Diktatur untersucht, hierbei aber auch ein neues Tabu geschaffen. In den »Doku’s« der 90er Jahre, die sich mit den Ereignissen des Herbsts 1989 (und nur mit diesen) beschäftigten, wird ein heldenhafter Wiedervereinigungs- und (schon weniger) Befreiungskampf dargestellt, der scheinbar ohne Vorgeschichte durch die sich plötzlich entladende Volkswut entstanden war. Nach der Tabuisierung und der Glorifizierung folgte zum Ende der 90er Jahre hin folgerichtig eine Nostalgiewelle, in der durch Filme wie »Sonnenallee« die DDR-Geschichte im Nachhinein ihre Verklärung erfährt.
Dass die von den Bürgern der DDR initiierte unblutige, aber erfolgreiche Befreiung von einer deutschen Diktatur sich positiv auf das gesamtdeutsche Demokratieverständnis auswirken könnte, wurde bisher in wenigen Ansätzen deutlich. Die Aufarbeitung der Vergangenheit ist nötig für die Bewältigung der Zukunft. Nur hieraus schöpft sie ihre Rechtfertigung. Ausgehend von einem Roman, der zur Widerstandsliteratur gezählt werden darf und der zu einem Höhepunkt des Kalten Krieges und in der Endphase der DDR geschrieben wurde und erschien, möchte ich in dieser Arbeit versuchen, die gesellschaftlichen Entwicklungen zu beschreiben, die den Ereignissen von 1989 vorangegangen sind.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Die Legende vom ewigen Juden
2.1. Heyms Quellen
2.1.1. Die Legende in den Volksbüchern von 1600 und ihre Entstehungsgeschichte
2.1.2. Jüngere Bearbeitungen der Legende
2.1.3. Die Bibel in Heyms Roman
2.1.4. Andere Quellen
2.1.5. Jüdische Schriften
2.2. Die Erzählebenen
2.2.1. Mythologisch-biblische Rahmenhandlung
2.2.2. Reformationszeit
2.2.3. DDR-Gegenwart zu Beginn der 80er Jahre
2.2.4. Verknüpfung der Ebenen
2.3. Die Figuren
2.3.1. Die Heymsche Konzeption der Ahasver-Figur
2.3.2. Die übrigen Figuren des Romans
2.4. Bewertung des Inhalts
3. Die formale Ausgestaltung des Romans »Ahasver«
3.1. Montagetechnik bei Heym
3.2. Sprachliche Gestaltung
3.3. Bewertung des Romankonzepts
4. Das Konzept Heyms als Kritik an der sozialistischen Diktatur
4.1. Mythos versus dialektisch-materialistische Wahrheit
4.2. Die formale Konstruktion des Romans als Kritik
4.3. Die direkte Kritik an der Staatsführung und an der SED
5. Sozialistische Kritik am real existierenden Sozialismus
6. Literaturverzeichnis