Hintergrund | Rosalux International - Iran - Libanon / Syrien / Irak - Türkei Was ist eigentlich kurdisch?

Selbstverständnis, politische Organisierung und Herausforderungen einer der größten Bevölkerungsgruppen im Nahen Osten

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Autorin

Linda Peikert,

Die kurdische Flagge wird bei Newroz, dem traditionellen kurdischen Neujahrsfest, gezeigt (23. März 2013 in Bonn). Foto: IMAGO / Manngold

Wer sind Kurd*innen?

Kurd*innen sind eine ethnische Bevölkerungsgruppe im Nahen Osten bzw. in Westasien mit geschätzt 30 Millionen Angehörigen. Sie gelten als größte ethnische Gruppe ohne eigenen Staat und als viertgrößte Ethnie im Nahen Osten. Ihre Heimat, oft als «Kurdistan» bezeichnet, erstreckt sich über Teile der Türkei, des Irans, des Irak und Syriens. Die Gebiete Kurdistans haben in etwa eine Fläche einer halben Million Quadratkilometer – das entspricht der Größe Spaniens.

Linda Peikert arbeitet als freie Journalistin im In- und Ausland. Sie war mehrfach in Irakisch-Kurdistan und in der kurdisch geprägten Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien unterwegs und publiziert regelmäßig zu der Region.

Die dominierenden Sprachen sind Kurmancî, Soranî und Gûranî. Die meisten Kurd*innen sind sunnitische Muslim*innen, einige aber auch Schiit*innen oder Alevit*innen. Außerdem sind manche Kurd*innen jesidisch, christlich, jüdisch oder konfessionslos. Etwa seit dem 17. Jahrhundert streben die Kurd*innen einen eigenen Staat an. Die Unabhängigkeitsbestrebungen sehen die Machthaber der Länder, in denen sie leben, als Bedrohung an. Das führt zu Diskriminierung und Ausgrenzung, zu Verfolgung und Gewalt.

Geschichte der Kurd*innen

Die Ursprünge der Kurd*innen sind unklar. Einige Historiker*innen verbinden sie mit den Medern, die im 7. Jahrhundert v. Chr. auf dem heutigen Staatsgebiet Irans ein Reich errichtet hatten. Während des Mittelalters spielten kurdische Fürstentümer eine bedeutende Rolle. Bis heute gibt es mehrere Hundert kurdische Stämme, die sich aus verschiedenen Klans zusammensetzen. Ihre Identitäten entwickelten sich unter fremder Herrschaft, insbesondere unter dem Osmanischen und dem Persischen Reich (etwa 16. bis 19. Jahrhundert). Trotzdem bewahrten Kurd*innen ihre Sprachen und ihre Kultur.

Nach dem Ersten Weltkrieg und dem Zerfall des Osmanischen Reiches im Jahr 1920 wurde im Vertrag von Sèvres ein kurdischer Staat vorgesehen. Vom Osmanischen Reich sollte nur ein kleiner türkischer Rumpfstaat übrigbleiben. Mustafa Kemal, Gründer und erster Präsident der Republik Türkei, organisierte daraufhin Widerstandskämpfer, unter ihnen auch viele Kurd*innen. Sie schlossen sich in der Hoffnung auf Autonomie in der neuen Republik an. Der «Türkische Befreiungskrieg» (1919-1923) mit kurdischer Unterstützung richtete sich gegen Minderheiten, vor allem gegen christliche Armenier*innen.

Der Vertrag von Sèvres scheiterte schließlich. Als Belohnung für die Unterstützung von Kemal hofften Kurd*innen auf Selbstbestimmung. Doch im darauffolgenden Vertrag von Lausanne im Jahr 1923 wurden die kurdischen, erdölreichen Gebiete unter der Türkei, dem Iran, Irak und Syrien aufgeteilt. Seitdem leben die Kurd*innen in verschiedenen Nationalstaaten.

Kurd*innen in der Türkei

In der Türkei lebt die größte kurdische Bevölkerungsgruppe mit etwa 15 Millionen Menschen und ist damit die größte ethnische Minderheit des Landes. Ihr Siedlungsgebiet liegt vor allem im Südosten des türkischen Staatsgebiets. Die Geschichte der Kurd*innen in der Türkei ist geprägt von Marginalisierung und einem jahrzehntelangen Konflikt mit der türkischen Regierung. Es gab zwar Phasen politischer Öffnung, diese wurden jedoch immer wieder durch neue Repressionswellen zunichtegemacht.

Die türkische Republik unter Mustafa Kemal (1923-1938), auch bekannt als Atatürk, unterdrückte die kurdische Bevölkerung und ihre Identität massiv. Die kurdischen Sprachen wurden verboten, traditionelle kurdische Namen, Bräuche oder kurdische Kleidung ebenfalls. Auch Bücher, Musik und Medien in kurdischer Sprache waren jahrzehntelang nicht geduldet.

Nach dem Militärputsch von 1980 erklärte die neue türkische Verfassung die Einheit der türkischen Nation als unantastbar. Ethnische Vielfalt war weiterhin unerwünscht. Kurdische Parteien und Bewegungen wurden erneut verboten, kurdische Aktivist*innen zum Ziel staatlicher Repressionen.

Die bereits Ende der 1970er Jahre gegründete PKK (Arbeiterpartei Kurdistans) begann 1984 mit dem bewaffneten Kampf gegen den türkischen Staat, um sich der Unterdrückung und der Assimilationspolitik des Staates entgegenzustellen. Der Gründer und ideologische Anführer Abdullah Öcalan und seine Mitstreiter*innen kämpften ursprünglich für einen unabhängigen Staat Kurdistan. Seit etwa Ende der 1990er Jahre veränderte sich ihre Ausrichtung hin zur Forderung nach mehr Rechten und einer kurdischen Autonomie. Das neue Ziel scheint unter den politischen Gegebenheiten realistischer und beruht auf Öcalans Konzept des «demokratischen Konföderalismus», eine der Theorie nach basisdemokratische Organisierung aller Kurd*innen in allen vier Staaten, auf die sich die kurdischen Siedlungsgebiete erstrecken. Diese Konföderation sieht keine eigene Staatsbildung vor.

Die türkische Regierung reagierte auf den bewaffneten Kampf der PKK mit einem enormen militärischen Aufgebot im kurdischen Südosten der Türkei. Die 1990er Jahre wurden so durch heftige Konflikte geprägt, tausende Dörfer wurden zerstört und etwa drei Millionen Kurd*innen vertrieben. Die meisten sind in größere Städte wie Istanbul, Izmir oder Ankara geflüchtet. Die Vertreibung führte zu sozialen Problemen wie Arbeitslosigkeit und Armut. Außerdem kam es in der Zeit zu Folter, Hinrichtungen und Vermisstenfällen.

1999 wurde Öcalan im kenianischen Exil gefasst, zurück in die Türkei gebracht und dort zu lebenslanger Haft verurteilt. In den frühen 2000er Jahren schien sich die Lage erstmal zu entspannen: Die von der AKP (Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung) geführte Regierung unter Präsident Recep Tayyip Erdoğan erlaubte Kurdisch als Wahlfach in der Schule und Medien in kurdischer Sprache. Anfang der 2010er-Jahre kam es zu Friedensverhandlungen und einem Waffenstillstand zwischen der AKP und der PKK. 2015 eskalierte die Situation jedoch erneut. Seit dem Scheitern der Friedensgespräche hat sich die Situation der Kurd*innen in der Türkei drastisch verschlechtert, eine Entwicklung, die bis heute anhält. Die türkische Armee führte großangelegte Operationen in kurdischen Städten durch, bei denen ganze Stadtteile zerstört wurden und es erneut zu Berichten über massive Menschenrechtsverletzungen kam. Die anhaltende Gewaltspirale zwischen der PKK und der türkischen Regierung führt auch zu Kritik aus der kurdischen Community an der PKK.

Die prokurdische Partei HDP (Demokratische Partei der Völker) erlitt ebenfalls staatliche Repressionen. Tausende HDP-Mitglieder, darunter der Parteivorsitzende Selahattin Demirtaş, wurden inhaftiert. Viele sitzen bis heute in Haft. Die HDP wurde zwar nicht vollständig verboten, aber die Partei steht unter konstantem Druck und rechtlichen Angriffen. Das macht ihre politische Arbeit schwierig. Die DEM (Demokratische Partei der Völker) agiert deshalb heute als Nachfolgepartei der HDP. Bei den Kommunalwahlen 2024 konnte die DEM-Partei in den kurdischen Regionen große Wahlsiege erlangen. Allerdings wurden innerhalb von vier Wochen bereits vier von zehn der von der DEM-Partei gestellten Bürgermeister*innen vom Innenministerium von ihren Ämtern enthoben.

Kurd*innen in Syrien

In Syrien leben etwa zwei bis drei Millionen Kurd*innen. Damit sind sie, wie in der Türkei auch, die größte ethnische Minderheit im Land. Die kurdischen Siedlungsgebiete liegen vor allem im Nordosten Syriens, insbesondere in den Regionen rund um Qamishli, Kobanê und Hasaka.

Nach der Unabhängigkeit Syriens vom französischen Mandat im Jahr 1946 wurde der arabisch-nationalistische Diskurs stärker. Im Zuge einer Volkszählung 1962 hat die syrische Regierung etwa 120.000 Kurd*innen die Staatsbürgerschaft entzogen. Damit waren sie offiziell staatenlos. Das hatte zur Folge, dass die Kinder keine Möglichkeit hatten, in die Schule zu gehen. Zudem verloren Kurd*innen ihr Anrecht auf Landbesitz. Die kurdische Sprache wurde sowohl in der Schule als auch in den Medien verboten. Feste wie das kurdische Neujahrsfest Newroz durften nur noch stark eingeschränkt gefeiert werden und traditionell kurdische Namen und Kleidung wurden nicht toleriert.

In den 1970er Jahren unter dem Präsidenten Hafez al-Assad und seiner Baath-Partei (Arabische Sozialistische Partei der Wiedererweckung) wurden außerdem arabische Bürger*innen in kurdischen Siedlungen angesiedelt, um so die kurdische Community zu schwächen. In dieser Zeit gab es erste Kontakte zwischen der PKK und der kurdischen Bevölkerung in Syrien. Bei heimlichen Treffen auf Feldern wurden Ideen entwickelt und Ideologien verfestigt. 2003 wurde schließlich die PYD (Partei der Demokratischen Union) auf Beschluss der PKK gegründet. Auch die PYD vertritt die Idee des demokratischen Konföderalismus.

2011 begannen die Aufstände und dann der Krieg in Syrien. Der sogenannte arabische Frühling führte zum Machtvakuum im Norden des Landes und die Kurd*innen riefen nur ein Jahr später die Revolution von Rojava in der kurdischen Stadt Kobanê aus. Die Truppen des Baath-Regimes zogen sich aus dem Norden Syriens weitestgehend zurück und die PYD, die ideologisch der PKK nahesteht, übernahm die Führung.

So begann der Aufbau einer autonomen, demokratischen Selbstverwaltung mit multiethnischem Selbstanspruch und Gleichstellung der Geschlechter. Die autonome Region wird in Räten und Strukturen organisiert, immer mit einer Doppelsitze mit Frau und Mann. Außerdem haben Minderheiten so wie Frauen innerhalb des Rätesystems ihre autonomen Strukturen. Zusätzlich gelten in den Gemeinderäten Quoten für Frauen sowie für ethnische und religiöse Minderheiten, um so für mehr Gleichberechtigung zu sorgen. Innerhalb der autonomen Selbstverwaltung werden drei Sprachen offiziell anerkannt: Arabisch, Kurdisch und Aramäisch. Auf vielen Verkehrsschildern oder Hinweistafeln sind alle drei Sprachen zu lesen. Der Name «Rojava», was auf Kurdisch Westkurdistan bedeutet, weicht 2016 der etwas sperrigen, dafür inklusiveren Bezeichnung Autonome Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien (AANES). Die neue Bezeichnung soll das Projekt anschlussfähiger machen. Außerdem wurden im Kampf gegen den sogenannten Islamischen Staat (IS) Regionen befreit, die nicht zu dem von den Kurd*innen als Kurdistan beanspruchten Gebiet gehören und eher arabisch geprägt sind. Das Selbstverwaltungsprojekt sieht sich selbst weiterhin im Aufbau. Immer wieder kommt es dabei zu Vorwürfen bezüglich mangelnder Meinungsfreiheit oder Kaderstrukturen innerhalb der Partei PYD.

Ab 2014 breiten sich in Syrien die Terroristen des IS aus. Die Kurd*innen spielen im Kampf gegen den IS in Syrien eine Schlüsselrolle. Die bewaffneten Einheiten der PYD sind YPG (Volksverteidungseinheit) und YPJ (Frauenverteidigungseinheit). Sie kämpften an der Seite der internationalen und von den USA angeführten Koalition gegen den IS. Während die USA den IS aus der Luft angriff, stellten YPG und YPJ die Bodentruppen. Außerdem verteidigten sie 2014 bis Anfang 2015 erfolgreich die Stadt Kobanê, in der nur zwei Jahre zuvor die Revolution von Rojava ausgerufen worden war. YPG, YPJ, arabische und assyrische Kräfte schlossen sich schließlich zu den SDF (Syrian Democratic Forces) zusammen und agieren nach wie vor in dieser Konstellation in Nord- und Ostsyrien gegen den IS und andere Angriffe auf die Selbstverwaltung.

Noch vor der militärischen Zerschlagung des IS im Jahr 2019 griff der Nachbarstaat Türkei unter Präsident Erdogan das junge Autonomieprojekt an. Die türkische Regierung betrachtet die bewaffneten Einheiten der Selbstverwaltung als PKK-Ableger. Unter dem euphemistischen Namen «Olivenzweig» eroberte das türkische Militär mithilfe syrischer Söldner die kurdisch geprägte Region Afrîin im Norden Syriens. Über 100.000 kurdische Zivilist*innen wurden vertrieben. Es kam zu Enteignungen und Menschenrechtsverletzungen. Ein großer Teil der Geflohenen lebte bis Ende 2024 in provisorischen Zeltstädten in der Region Tel Rifat. 2019 griff die Türkei erneut an und besetzte Gîre Spî und Serê Kanyiê. Enteignungen und Menschenrechtsverletzungen wiederholten sich. Seitdem fliegt die Türkei gezielte Drohnenangriffe auf Funktionär*innen der PYD und der SDF. Immer wieder werden dabei auch Zivilist*innen und Kinder getötet. Der Plan der Türkei: eine 30 bis 50 Kilometer breite «Sicherheitszone» zwischen der türkisch-syrischen Grenze, in der die türkische Regierung syrische Geflüchtete, die aktuell in der Türkei leben, ansiedeln möchte.

Seit Herbst 2022 greift die Türkei in unregelmäßigen Abständen, vor allem im Herbst und Winter, auch die Infrastruktur der Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien an. Ziele sind beispielsweise Elektrizitätswerke, Lebensmittelverarbeitungsfabriken, Ölraffinieren oder Vorratssilos. Die Schäden sind für die Zivilbevölkerung deutlich spürbar und führen zu enormer Knappheit und teilweise steigenden Preisen. Da die Selbstverwaltung international nicht anerkannt ist, gibt es nur sehr eingeschränkte Unterstützung aus dem Ausland. Allerdings unterstützen zahlreiche internationale linke Gruppen das kurdisch geprägte Selbstverwaltungsprojekt.

Auch dem Anfang Dezember 2024 gestürzten und nach Moskau geflohenen syrischen Machthaber Bashir al-Assad war der de facto autonome Norden ein Dorn im Auge. Seitdem Sturz ist die Zukunft der Selbstverwaltung ungewiss. Zwar gab es bereits positive Signale von den machthabenden HTS-Milizen (Haiʾat Tahrir asch-Scham) aus Damaskus, gleichzeitig greifen die türkisch unterstützen Milizen der SNA (Syrische Nationale Armee) Stellungen der Selbstverwaltung an. Schon kurz nach Assads Sturz haben sie kurdische Binnengeflüchtete in Richtung Raqqa vertrieben. Bisher sind noch etwa 800 US-Soldaten im Gebiet der Selbstverwaltung stationiert. Sie sollen die SDF im Kampf gegen die sogenannten Schläferzellen des IS unterstützen. Mit ihrer Präsenz schützen sie de facto auch die Selbstverwaltung vor flächendeckenden Angriffen ihres Nachbars Türkei.

Kurd*innen im Irak

Etwa 15 bis 20 Prozent der Gesamtbevölkerung im Irak sind kurdisch. Das kurdische Siedlungsgebiet liegt, wie auch in Syrien, im Norden des Landes. Darunter fallen Städte wie Erbil, Sulaymaniyah und Dohuk. Schon während der irakischen Monarchie von Anfang der 1920er bis 1958 kam es immer wieder zu kurdischen Aufständen, die gewaltsam niedergeschlagen wurden. Eines der bekanntesten Gesichter der kurdischen Aufständischen ist Mustafa Barzani, ehemaliger Präsident der 1946 gegründeten KDP (Kurdische Demokratische Partei). Der im Exil in der Sowjetunion militärisch ausgebildete Barzani kehrte nach dem Sturz der Monarchie 1958 in den Irak zurück. Doch auch unter dem neuen Premierminister Quasim hielt der Friede nur kurz. 1961 entbrannten unter Barzanis Führung die kurdischen Aufstände und das Ringen nach Autonomie erneut. Erst 1970 einigten sich die irakische Regierung und die Kurd*innen auf einen Friedensvertrag und die Anerkennung eines kurdischen autonomen Gebietes. Doch der Aufbau scheiterte unter anderem wegen Uneinigkeiten bezüglich der Grenzziehung.

Unter der Baath-Partei und Saddam Hussein spitzte sich die Lage für Kurd*innen weiter zu: Nachdem sie sich im Irak-Iran-Krieg (1980-1988) wegen struktureller Unterdrückung auf die Seite des Feindes Iran stellten, führte der irakische Machthaber 1986 bis 1989 die berüchtigte Operation «Anfal» durch. Teile der Zivilbevölkerung im Nordirak sollten «ausgelöscht» und die Region anschließend arabisiert werden. Das irakische Militär zerstörte massenhaft kurdische Dörfer und Siedlungen, massakrierte kurdische Zivilist*innen und zahlreiche Menschen wurden vertrieben. Besonders der Giftgasangriff auf die Stadt Halabja erlangte internationale Aufmerksamkeit: Etwa 5.000 Zivilist*innen starben bei dem Chemiewaffenangriff. Nach dem zweiten Golfkrieg (1990-1991) kam es erneut zu massiven kurdischen Aufständen gegen Hussein. Die Vereinten Nationen setzen sich daraufhin für den Schutz der Kurd*innen im Irak ein. Durch eine von den internationalen Kräften durchgesetzte Flugverbotszone im Norden (1991-2003) konnten die kurdischen Kräfte eine De facto-Autonomie errichten.

Nach dem Sturz Saddam Husseins im Jahr 2003 nutzten die Kurd*innen das Machtvakuum, um ihre autonome Region auszubauen. Zwei Jahre später wurde die autonome Region Kurdistan offiziell in der irakischen Verfassung anerkannt. Die KRG (Kurdistan Regional Gouvernement), so lautet der offizielle Name der Autonomie, hat ihren Sitz in Erbil und wird von der KDP und der PUK (Patriotische Union Kurdistans) regiert. Während die KDP eher konservativ und wirtschaftsliberal ist, ist die PUK als sozialdemokratisch und mitte-links einzustufen. Zwischen den Parteien kommt es immer wieder zu Auseinandersetzungen. In den 1990er Jahren führten die Spannungen sogar zu einem mehrjährigen Krieg, bei dem die KDP von der irakischen Regierung und die PUK vom Iran unterstützt wurden. KDP hat ihre Wählerschaft tendenziell in Erbil und im Norden der Autonomieregion, die PUK rund um Sulaimaniyya. Die Unstimmigkeiten und Rivalitäten der beiden Parteien haben negativen Einfluss auf die politische Stabilität der Region. Zusätzlich stellt der Streit mit der irakischen Zentralregierung um die Öleinnahmen die KRG zunehmend vor Herausforderungen.

Mit dem Nachbarstaat Türkei unterhält die KDP im Gegensatz zur PYD im Norden Syriens ein eher entspanntes Verhältnis. So pflegen beide stetige Handelsbeziehungen und diplomatische Besuche. Währenddessen führt die Türkei einen Krieg gegen die Guerillagruppen der PKK im Kandil-Gebirge und hat zahlreiche Militärbasen auf dem Gebiet Irakisch-Kurdistans, wie die Autonomie auch genannt wird.

2002 wurde im Irak die PCDK (Partei für eine politische Lösung in Kurdistan) gegründet. Sie ist Teil der Union KCK (Union der Gemeinschaften Kurdistans), in der auch die PYD aus Syrien, die PKK aus der Türkei und die PJAK aus dem Iran Mitglied sind. Auch die PCDK strebt das Konzept des demokratischen Konföderalismus an und stützt sich auf die Theorie Öcalans, konnte aber bisher keine vergleichbare Bedeutung wie ihre Schwesterparteien in Syrien oder der Türkei erlangen.

Die Milizen der KRG, die Peshmerga, haben im Kampf gegen den IS international für Aufsehen gesorgt und wurden dabei auch von den USA mit Waffen unterstützt.

Kurd*innen im Iran

Im schiitisch geprägten Iran stellen die mehrheitlich sunnitischen Kurd*innen mit acht bis neun Millionen Menschen eine der größten Minderheitsgruppen dar. Entgegen der verfassungsrechtlich garantierten Möglichkeit, Minderheitensprachen im Bildungssystem und in den Medien zu repräsentieren, ist die Umsetzung stark eingeschränkt und Kurdisch nicht offiziell anerkannt.

Zum Ende des Zweiten Weltkriegs hin witterte der kurdische Richter Qazi Muhammad die Chance, mithilfe der Sowjetunion einen kurdischen Staat auf Teilen des iranischen Territoriums zu gründen. 1956 rief er schließlich die kurdische Republik, auch bekannt als Republik Mahabad, aus. Die Regierung stellten Parteimitglieder der sozialdemokratischen DPK-I (Demokratische Partei Kurdistans-Iran). Nach Ende des Zweiten Weltkriegs veränderten sich allerdings die geopolitischen Interessen der Sowjetunion. Die kurdische Republik hielt somit nur elf Monate. Sobald die sowjetischen Gruppen abzogen, zerschlug das iranische Militär den frisch gegründeten Staat. Qazi Muhammad und weitere wichtige Akteure der kurdischen Republik wurden hingerichtet. Dieser gescheiterte Versuch war ein Rückschlag für die gesamte kurdische Autonomiebewegung.

1969 gründen kurdische Studierende die links ausgerichtete Komala-Partei. Wie alle politischen Oppositionsgruppen jener Zeit hat sich auch die Komala im Untergrund organisiert. Sie unterstützten gemeinsam mit anderen kurdischen Gruppen die iranische Revolution. 1979 führte dies zum Sturz des Schahs. Die Kurd*innen im Iran hofften durch einen Machtwechsel auf mehr Recht zur Selbstbestimmung. Doch auch unter dem Obersten Islam-Führer Ayatollah Khomeini wurden die Forderungen der kurdischen Community nach mehr Selbstbestimmung nicht berücksichtigt. Nach der Revolution begannen bewaffnete Kämpfe zwischen kurdischen Gruppen und der Revolutionsgarde. Auch zahlreiche Mitglieder der Komala wurden verhaftet und hingerichtet. Vor allem in Städten wie Mahabad und Sanandaj kam es trotzdem zu Widerstand, sie wurden zu Hochburgen der Rebellion. Tausende Menschen verloren ihr Leben und die Aufstände führten zu einer anhaltenden Militarisierung in der Region. Auch die kurdische Sprache und Kultur wurden weiter unterdrückt: Schulen, die auf Kurdisch unterrichtet hatten, wurden geschlossen, kurdisch-sprachige Medien unterliegen bis heute strenger Zensur.

2004 wurde die PJAK (Partei für ein Freies Leben in Kurdistan) gegründet. Auch sie teilt die Idee des demokratischen Konföderalismus. Sie hat, wie auch die PKK, Stützpunkte im Nordirak und kämpft für Autonomie im Iran.

Nach dem Tod der jungen Kurdin Jina Mahsa Amini in Polizeigewahrsam im Jahr 2022 brachen große Proteste im Iran, besonders auch in den kurdischen Gebieten, aus. An ihnen beteiligten sich auch die PJAK und die Komala-Partei. Die Proteste in den kurdischen Regionen waren besonders politisiert, da sie nicht nur gegen Gewalt gegen Frauen und das autoritäre Regime des Iran gerichtet waren, sondern auch die kurdische Identität und das Streben nach Autonomie betrafen. Sie wurden zu einer breiten politischen Bewegung, die auch außerhalb des Irans Millionen von Menschen mobilisierte. Die Proteste wurden von den iranischen Revolutionsgarden blutig niedergeschlagen. Es folgten zahlreiche Hinrichtungen, auch von kurdischen Aktivist*innen, tausende sitzen im Gefängnis.

Kurd*innen in Deutschland

Aufgrund der beschriebenen Geschichte der Unterdrückung, Vertreibung und kriegerischer Konflikte verließen viele Kurd*innen ihre Herkunftsregionen gen Europa. Grob kann man von etwa 1,2 Millionen Personen ausgehen, die laut Schätzungen des Kurdischen Instituts von Paris (KIP) in Deutschland leben. In Frankreich sind es etwa 320.000, in den Niederlanden und in Schweden etwa 120.000 Personen. In Deutschland lebt somit die mit Abstand größte kurdische Diaspora. Sie ist nach der türkischstämmigen Community die zweitgrößte migrantische Gruppe in Deutschland. Da das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) allerdings keine Ethnien erfasst und das kurdische Volk staatenlos ist, werden Kurd*innen je nach Herkunftsland als türkische, syrische, irakische oder iranische Migrant*innen geführt.

In Deutschland organisieren sich Kurd*innen in verschiedenen Gruppen, die teilweise im engen Kontakt mit den Parteien und Gruppierungen im Nahen Osten stehen. Es gibt zahlreiche kurdische Kulturvereine und -zentren, kurdische Frauenvereinigungen und kurdische Jugendorganisationen in ganz Deutschland. Auch Parteien wie die KDP aus Irakisch-Kurdistan haben in Deutschland lebende Mitglieder. Die PKK hat in Deutschland vor allem aus dem linken Spektrum Unterstützer*innen. Allerdings leiden PKK-Anhänger*innen und solche, die von den Behörden dafür gehalten werden, oft unter staatlicher Repression. Die PKK gilt in Deutschland als terroristische Vereinigung.

Die verschiedenen kurdischen Bewegungen in Syrien, Irak, Iran und der Türkei sind divers und geprägt von unterschiedlichen politischen und sozialen Zielen, die auch mit der Geschichte der jeweiligen Länder zusammenhängen. Die verschiedenen Gruppen, Parteien oder Bewegungen haben ihre eigenen Strategien und gehen unterschiedliche politische Allianzen ein. Doch sie haben auch vieles gemeinsam: Die lange Geschichte des kurdischen Widerstands und die Forderungen nach politischer Autonomie, Menschenrechten und kultureller Selbstbestimmung. Die kurdische Diaspora, insbesondere in Deutschland, spielt eine wichtige Rolle bei der internationalen Unterstützung dieser Bewegungen.