Publikation Nachhaltigkeit und soziale Gerechtigkeit im 21. Jahrhundert - Der World Summit in Johannesburg 10 Jahre Rio-Prozess - ist das multilaterale Verhandlungssystem in Johannesburg an seine Grenzen gestoßen?

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Reihe

Online-Publ.

Autorin

Christa Wichterich,

Erschienen

Dezember 2002

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Beitrag zur Podiumsdiskussion

Meine Doppelbilanz des Johannesburg Gipfels kondensiere ich mit Blick auf unsere Fragestellungen: die Gerechtigkeitsagenda ist in Johannesburg durch die Freihandelsagenda überformt und an die Wand gedrückt worden, und der Multilateralismus ist ebenfalls vom Freihandelsregime überwölbt und an die Wand gespielt worden.

Meine Sicht des Rio-Prozesses ist die Erfahrungsperspektive einer teilnehmenden Beobachterin, die die Serie der großen UN-Konferenzen der neunziger Jahre in einer Doppelrolle als Journalistin, aber immer auch mit einem NGO-Herz, das sich als Teil der internationalen Frauenbewegung versteht, begleitet hat. Am Ende des zehnjährigen Rio-Prozesses als einem politischen Lernprozess bin ich bei attac gelandet, und die Analyse des Prozesses erklärt warum.

Zur Erinnerung: das Leitthema von Rio war, mit dem Konzept der Nachhaltigkeit die Doppelkrise von Umwelt und Entwicklung zu lösen, Ökonomie, Ökologie und soziale Ziele zu integrieren. Internationale Frauennetzwerke bezogen vor Rio eine klare Position: es ging ihnen zu allererst um Gerechtigkeit in einer endlichen Welt, um Gerechtigkeit in den vier Dimensionen: um globale Gerechtigkeit zwischen Norden, Süden und Osten, 2) um soziale Gerechtigkeit, zwischen den Armen und der globalen Konsumklasse, bzw. der Dominanzbevölkerung und den Indigenen, ethnischen Minderheiten oder MigrantInnen, 3) um Umwelt- und Ressourcengerechtigkeit, sprich: Zugangsrechte, Schutzpflichten und Belastung durch Umweltschäden und Verarmung und 4) um Geschlechtergerechtigkeit.

In Rio war der Kernkonsens der Vereinten Nationen, nach dem Ende der bipolaren Weltordnung ein Regime von Global Governance aufzubauen, d.h. ein supranationales Steuerungs- und Regulierungsinstrumentarium festzulegen, um globale Probleme, und zwar vor allem soziale und Umwelt-Probleme, durch eine Serie großer UN-Konferenzen in den politischen Griff zu nehmen. Damals bestand eine gewisse politische Gestaltungsentschlossenheit auf der staatlichen Seite und ein großer Optimismus über die Gestaltungsmöglichkeiten durch multilaterale Politik nach dem Ende des ideologischen Systemwettbewerbs. Genau das machte den vielgerühmten Geist von Rio aus. Auch bei zivilgesellschaftlichen Kräften ging damals der politische Adrenalin- und Erwartungsspiegel hoch in bezug auf den neuen Multilateralismus in UN-Format. In der Hoffnung auf Beeinflussungsmöglichkeiten erstritten viele NGOs sich Zugänge und Partizipation, NGOs, die Menschen- und Frauenrechte und unterschiedliche Dimensionen von Gerechtigkeit als handlungsleitenden normativen Bezugsrahmen haben.

Die Aushandlungsstrategien der Agenda 21 auf Basis dieses Grundkonsenses stellten die Weichen für den dominanten Politikstil der neunziger Jahre: Kernfeld war die Verhandlung multilateraler Abkommen und von Kompromissdokumenten. Dazu luden die UN zivilgesellschaftliche Kräfte sozusagen in die Außenbezirke der Macht zur Partizipation ein, immer in gebührender Entfernung zur politischen Entscheidungsmacht.

Der Rio-Prozess war ein politisches Projekt, ein Testlauf für die neue multilaterale Konsenskultur unter Beteiligung zivilgesellschaftlicher Kräfte. Was sich am Ende des Testjahrzehnts in Johannesburg darstellte, war - um meine Doppelbilanz in anderen Worten zu wiederholen: 1. ein Strukturwandel internationaler Politik, die es 2. mit ihren multilateralen Mitteln nicht geschafft hatte zu verhindern, dass in genau diesem Jahrzehnt die sozialen Ungleichheiten weltweit gewachsen sind.

Nicht nur die internationale Frauenbewegung, sondern viele andere mehr, wussten bereits in Rio, dass, wer über Nachhaltigkeit redet, über Gerechtigkeit nicht schweigen kann. Erstaunlicherweise können das aber die in Johannesburg uneinig vereinten Regierungen: im Implementierungsplan von Johannesburg kommt der Begriff Gerechtigkeit kein einziges Mal vor und das Adjektiv "gerecht" auf 54 Seiten nur ein einziges Mal, nämlich "gerechte und demokratische Gesellschaft". Was sagt uns das? Ist Gerechtigkeit keine Norm für die multilaterale Politik?

Auch das Menschenrechtsparadigma kommt im Implementierungsplan de facto nicht vor: das Recht auf eine gesunde Umwelt wie das Recht auf Information und Beteiligung wurden aus dem Dokument gekippt, ein Recht auf Wasser hatte keine Chance reinzukommen. Zum einen waren es Länder des Südens, die sich keine Rechtsnormen vorschreiben lassen wollten, weil sie dadurch eine weitere Schwächung ihrer Position und Standorte gegenüber den Industrienationen befürchten, zum anderen waren es neokonservative und fundamentalistische Kräfte, die emanzipatorischen und demokratischen Kräften keinen Vorschub leisten wollen, weil sie eine Law- und Order-Politik oder ein kulturrelativistisches Recht gegen die Globalisierung von Menschen-, Frauen- und Kinderrechten setzen. Lediglich das Recht auf Gesundheit konnte vom Frauen-Caucus und der liberalen Länderfraktion kurz vor Toresschluss in das Dokument gegen massive Widerstände hineingekämpft werden.

Was war zwischen Rio und Johannesburg geschehen?

  1. die Wucht der neoliberalen Globalisierung in den 90er Jahren hat nicht nur den Weltmarkt, sondern auch die Weltpolitik umgekrempelt. An die Stelle des Systemwettbewerbs ist der Standortwettbewerb getreten, der die Staaten in die Rolle von Standortwettbewerbern und -sicherern drängt. Deshalb kamen die meisten Regierungen mit einer Verhandlungsbereitschaft nach Johannesburg, die gegen null tendierte. Sie ordneten soziale, umweltpolitische und Menschenrechtsziele ihren ökonomischen Standortinteressen unter. Das führte zu einer weiteren Ausdifferenzierung der Positionen der Länder des Südens und zu einer verschärften Konkurrenz gerade der ärmsten Länder. Es war auch die Grundlage des US-amerikanischen Unilateralismus und Interesses, die US-Hegemonie weiter auszubauen. Konkurrenz einerseits und Hegemoniestreben andererseits sind jedoch das direkte Gegenstück zu multilateraler Kooperation, um ein globales Gemeinwohl und globale Gerechtigkeit jenseits nationalstaatlicher Partikularinteressen zu sichern.

  2. Dies ist ein Aspekt der Verschiebung politischer Machtkonstellationen in der internationalen Arena. Die markanteste Veränderung politischer Kräfteverhältnisse liegt allerdings im Bedeutungs- und Machtzuwachs der Privatwirtschaft. Das zeigte sich nicht nur beim Gipfel in Johannesburg in ihrer Omnipräsenz. Vorausgegangen war, dass die UNO die Kooperation mit der Privatwirtschaft offensiv vorangetrieben hatte, um ihre institutionelle und finanzielle Krise in den Griff zu bekommen. Der Global Compact von UN und Unternehmen akzeptierte statt der Verpflichtung auf Menschenrechte und der Verbindlichkeit von Regeln das Prinzip der Freiwilligkeit als Leitorientierung für unternehmerisches Handeln. Er nahm damit das Primat der Politik als Steuerungs- und Regulierungsinstanz gegenüber dem Markt zurück und brachte die Privatisierung der Weltpolitik voran, die sich in Johannesburg in der neuen Zauberformel der Public Private Partnership ausdrückte. Das heißt, die UN selbst unterminierten aktiv den Multilateralismus und setzen einzelne bi- und plurilaterale Partnerschaftsprojekte an seine Stelle.

  3. Parallel fand der Aufbau eines anderen Global Governance Regimes statt, nämlich das WTO-Regime, das von Anfang an durch seine Rechtsinstanz und Sanktionsinstrumente mehr Power hatte als der papiertigerhafte und ressourcenschwache Multilateralismus der UN.

Die Regierungen hatten mit dem Johannesburg-Gipfel die Chance, auf das Primat der Politik gegenüber dem Markt zu pochen und den UN-Multilateralismus, der ein Mandat für den Schutz und die Umsetzung von Menschenrechten und Frieden hat, gegenüber dem WTO-Regime und dem Handelsrecht zu stärken und über ihn zu stellen. Dies aber ist in Johannesburg nicht geschehen. Mit Mühe konnte verhindert werden, dass im Text des Implementierungsplans WTO-Abkommen explizit über UN-Umwelt- und Sozialabkommen gestellt werden. Trotzdem atmet der gesamte Text den Geist des Freihandels und der Liberalisierung. Marktzugang, Marktöffnung und Beteiligung der Privatwirtschaft erscheinen durchgängig als die Problemlösungsformel für Armutsbekämpfung, nachhaltige Entwicklung und Umweltschutz. Genau das Projekt globaler Handelsliberalisierung unter WTO-Regie hat jedoch im vergangenen Jahrzehnt seine Widersprüchlichkeit bewiesen, nämlich einerseits immensen Wohlstand und Warenfülle zu erzeugen, andererseits Armut und Mangel zu schaffen. Ungleichheit, soziale und ökonomische Asymmetrie und ein Demokratiedefizit sind Grundlage dieses Systems und auch wiederum sein Resultat. Damit hat die neoliberale Globalisierung ihrem Anspruch, quasi automatisch Motor für Armutsbekämpfung, Wohlstand für alle, Verteilungsgerechtigkeit zu sein, nicht eingelöst.

Auf dieses Gerechtigkeitsdefizit reagieren seit ein paar Jahren nun massiv neue soziale Bewegungen, Basisbewegungen wie die der Landlosen, kleinbäuerliche Bewegungen für Ernährungssouveränität und gegen genmanipuliertes Saatgut, Anti-Privatisierungsbewegungen in einem Bündnis mit weltweiten globalisierungskritischen Kräften. In dieser neuen Bewegungslandschaft findet derzeit eine politische Identitätsbestimmung in Hinblick auf die Frage statt: was wollen wir, wer sind wir, welchen Namen geben wir dem Kind? Anti-Globalisierungsbewegung, Globalisierungskritisch oder - und das taucht immer profilierter auf - Social Justice Movements und Global Justice Movement. Ihr Kernthema ist die Frage der Verteilungsgerechtigkeit, der Ressourcengerechtigkeit.

Damit sind wir an einem historisch spannenden Punkt der Neuorientierung für Gerechtigkeitspolitik angelangt. Ein UN-Multilateralismus, der sich selbst abbaut und entmachtet, eine Konsenskultur, die sich der Freihandelsagenda und nicht dem Menschenrechtsparadigma unterstellt, NGOs, die sich fragen müssen, was ihre Partizipationsstrategie gebracht hat, und neue soziale Bewegungen, die eine Globalisierung von Menschenrechten und der Gerechtigkeit fordern und die durch ihre politischen Praxen dabei sind, wiederum einen eigenen neuen Multilateralismus zu konstituieren. Das ist der Punkt, von dem wir Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit in die Zukunft hinein denken und handeln sollten. Konferenz: Nachhaltige Politik für Ostdeutschland. 15.-17. November 2002 in Berlin