Publikation Kapitalismusanalyse - Ungleichheit / Soziale Kämpfe Die Ideologie des "Reformstaus" und das Doppelgesicht des Wohlfahrtsstaats

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Reihe

Online-Publ.

Autor

Stephan Lessenich,

Erschienen

Juni 2002

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Nur online verfügbar

Thesen zu einem Vortrag im Rahmen der RLS-Tagung "Die Sirenen der Ökonomie" Hamburg, 21./22. Juni 2002

Die Ideologie des "Reformstaus"

  1. Alle Jahre (insbesondere natürlich Wahljahre) wieder wird das deutsche Lied vom "Reformstau" angestimmt - und wenn sich nicht gerade der Bundespräsident (wie weiland Roman Herzog) dafür hergibt, den "Verlust wirtschaftlicher Dynamik, die Erstarrung der Gesellschaft, eine unglaubliche mentale Depression" (so Herzog vor fünf Jahren) zu beklagen, dann springen eben die großen deutschen Wochenschriften für die akademisch-intellektuelle Avantgarde in die Bresche. Dabei ist doch unverkennbar nicht das derzeit besonders gerne von der "ZEIT" gegeißelte "Immer-so-weiter", sondern umgekehrt gerade das allwöchentlich wortreich suggerierte "Nichts-bewegt-sich" die wahre "deutsche Ideologie".
  2. Nichts bewegt sich? "Der Wandel hat in Deutschland keine Lobby"? In Deutschland wird die Gesetzliche Rentenversicherung abgeschmolzen, das Krankenhauswesen zur Privatisierung genötigt, die Arbeitslosenhilfe zum Abschuss freigegeben. In der Pflegeversicherung ist das Bedarfsprinzip von Beginn an ausgehöhlt gewesen, die Sozialhilfeleistungen verlieren beständig an Kaufkraft, in der kommunalen Hilfe zur Arbeit ist die allseits geforderte härtere Gangart den Erwerbslosen gegenüber Realität, der angeblich gleichmacherische Flächentarifvertrag wird betrieblich beinahe nach Gutdünken unterlaufen. Ach ja: Und die Arbeitsverwaltung wird nur noch an jenen Eingliederungsbilanzen gemessen, deren erfolgsorientierte Schönung ihr dann (zufällig?) auch prompt zum Verhängnis gerät, den privaten Vermittlern zum Wohlgefallen.
  3. Bedarf der Wandel also wirklich noch "ideologischer Arbeit"? Offenbar schon. Den Kräften der "Moderne", die den Zeit- und Weltgeist auf ihrer Seite sehen, werden die Kräfte des "Konservatismus" gegenübergestellt: Betonköpfe, Besitzstandswahrer, Bremser. Dabei ist es erstaunlich, mit welch paternalistischer Selbstverständlichkeit bei den Bannerträgern der "Neuen Mitte" und des "Dritten Weges" über "das Gemeinwohl" (im Singular) gesprochen wird, das es gegen die Koalition der Ewiggestrigen durchzusetzen gelte. Mit einer so angelegten Gemeinwohlprogrammatik wird es dann auch politisch möglich, verbürgte Rechte wenigstens moralisch zu diskreditieren und dem Bürger aufzuerlegende Rechtspflichten auszuweiten. Die Politik der "Aktivierung" bietet hierfür ein lehrreiches Beispiel (vgl. dazu die weiteren Vorträge).

 

Das Doppelgesicht des Wohlfahrtsstaats

 

  1. Die neosozialdemokratische Kritik des Wohlfahrtsstaates richtet sich gegen dessen sogenannte "Dekommodifizierungs"-Funktion, sprich gegen die öffentliche Gewährleistung gesellschaftlicher "Alternativrollen" zum Lohnarbeiter und damit individueller Existenzsicherungsmöglichkeiten außerhalb des Arbeitsmarktes. Insbesondere Wolfgang Streeck, prominenter wissenschaftlicher Berater im "Bündnis für Arbeit", hat in jüngster Vergangenheit vehement vor der Realutopie einer "entkommodifizierten Gesellschaft" und der drohenden Kreuzbergisierung der Republik gewarnt. Es gelte, so Streeck in Anlehnung an die "kollektiver Freizeitpark"-Terminologie eines früheren Bundeskanzlers, die Tendenz zur Errichtung und ständigen Erweiterung "solidarisch finanzierter Ruhezonen" jenseits der Leistungszumutungen des Arbeitsmarktes zu brechen. Notwendig sei die neuerliche "Anerkennung wirtschaftlichen Zwanges als charakterbildende Kraft", überfällig die heilsame "Rückkehr der Ökonomie in die Demokratie einer ‚guten Gesellschaft'".
  2. Diese Kritik ist schlicht und einfach - und falsch. Ihre offensichtlichen Einseitigkeiten in der Diagnose wohlfahrtsstaatlicher Funktionen und Dysfunktionen hervorzuheben erscheint beinahe überflüssig. Bei genauerer Betrachtung lässt sich leicht erkennen, dass der kapitalistische Wohlfahrtsstaat niemals nur der grosse Dekommodifizierer war - der Sinn für die nicht bloß charakterbildende, sondern eben auch wertschaffende Kraft wirtschaftlichen Zwangs ist ihm nicht einmal zu Zeiten des "goldenen Zeitalters" abhanden gekommen; stets war er Instanz der Kommodifizierung und Dekommodifizierung zugleich. Im übrigen - und davon abgesehen - zeitigt de-kommodifizierende Sozialpolitik selbstverständlich keineswegs nur ökonomisch und sozial zerstörerische Effekte, sondern ist von konstitutiver Bedeutung für die individuelle Vermarktung von Arbeitskraft bzw. für die fortgesetzte Funktionsfähigkeit von Arbeitsmärkten. Was ist bloß passiert, wenn man Arbeitsmarktsoziologen an die Grundlagen der Arbeitsmarktsoziologie erinnern muss?
  3. Der moderne Wohlfahrtsstaat ist ein institutionalisierter Modus der permanenten politischen Neujustierung des Verhältnisses von kommodifizierender und dekommodifizierender Sozialpolitik. Diese konstitutive, unhintergehbare Doppeldeutigkeit wohlfahrtsstaatlicher Intervention - ihr "konservativ-revolutionäres Doppelwesen" (Heimann) - hat der Kern einer realistischen Theorie der Sozialpolitik zu sein. Es wäre schon viel gewonnen, wenn diese konkurrierenden Realitäten des Wohlfahrtsstaates in der wissenschaftlichen Debatte wieder wahrgenommen würden. Dies würde die mittlerweile gängige Praxis, ein einseitiges Zerrbild des "alten Wohlfahrtsstaates" für die reformpolitischen Zwecke der "neuen Sozialdemokratie" zu instrumentalisieren, zumindest erschweren.

Konferenz: Sirenen der Ökonomie. Am 21. und 22. Juni 2002 in Hamburg