Publikation Ungleichheit / Soziale Kämpfe - Geschlechterverhältnisse - Kapitalismusanalyse Haushaltspolitik zu Lasten des Sozialen - durch die Geschlechterbrille gesehen

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Online-Publ.

Erschienen

Juni 2002

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Thesenpapier

  1. Fraueninteressen spielen in der deutschen Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik nur eine marginale Rolle. Dies widerspricht den im GG kodifizierten gleichstellungspolitischen Zielen und dem reformierten EU-Vertragswerk von 1997. Mit diesem "Amsterdamer Vertrag" verpflichtet sich auch Deutschland zur Verwirklichung von Chancengleichheit als einer der vier Pfeiler aktiver Beschäftigungspolitik. Die Implementierung des Gender-Mainstreaming in alle EU-Programme soll die Mitgliedsländer veranlassen, geschlechtsspezifische Ungleichheiten in allen Politikbereichen abzubauen. Diese positiven Ansätze werden jedoch durch den ebenfalls in Amsterdam verabschiedeten Stabilitäts- und Wachstumspakt konterkariert: höchstens 3% Neuverschuldung (Anteil am BIP), mittelfristig Rückführung auf Null und perspektivisch Haushaltsüberschüsse sollen die Mitgliedsstaaten - unter Androhung von Sanktionen - an eine strikte, neoliberale Haushaltsdisziplin binden.
  2. Diese EU-Politik (verantwortet im wesentlichen von den Regierungschefs der EU-Länder im Europäischen Rat) übt einen starken Konsolidierungsdruck auf die nationalen Haushalte aus, der mit der Expansion sozialpolitischer Maßnahmen wie Programme zur Arbeitsförderung oder zur Verbesserung von Chancengleichheit kaum vereinbar ist. Sie kann aber auch die Unterlassung offensiven politischen Handelns rechtfertigen: Deutschland bewegt sich mustergültig im europäischen Konzert der wirtschaftspolitischen Konvergenz. Die Haushaltsdefizite bewegen sich seit 1996 unter 3% (z.Zt. 2%), die Steuerquote wurde in dieser Zeit drastisch zurückgefahren (vor allem bei den Unternehmensteuern) und die Ausgabenquote abgesenkt.
  3. Staatliche Aufgaben verursachen Ausgaben bei Bund, Länder und Gemeinden, die in erster Linie über Steuern finanziert werden. Die Sozialversicherungsträger finanzieren sich überwiegend aus Beiträgen. Seit Keynes wissen die Ökonomen, dass Verschuldung Konjunktureinbrüche überwinden hilft: öffentliche Aufträge erhöhen Beschäftigung, damit Steuer- und Sozialversicherungseinnahmen, Zinsen und Tilgungen können bedient werden (von denen im übrigen der private Bankensektor profitiert). Eine konsequente quantitative und qualitative Verbesserung der Frauenbeschäftigung wäre folglich nicht nur gleichstellungspolitisch, sondern zugleich finanz- und wirtschaftspolitisch sinnvoll. Öffentliche Aufträge sollten deshalb mit Auflagen zur Frauenförderung verbunden werden. Ein Anstieg der Frauenerwerbsquote induziert zusätzliche Beschäftigung im Konsumgütersektor, Haushaltsproduktion wird mit Hilfe von Maschinen rationalisiert und bislang im Haushalt erbrachte Dienstleistungen werden kommerzialisiert. In den letzten 30 Jahren sind in Westdeutschland durch diese Effekte knapp 1 Mio. neue Arbeitsplätze entstanden.
  4. Die Sparpolitik wird nicht nur rigoros zu Lasten sozialer Leistungen (u.a. Zuschüsse zu den Sozialversicherungsträgern, Sozialhilfe), sondern auch zu Lasten der Länder und Kommunen durchgeführt. Länder sind u.a. Träger der Schul- und Bildungspolitik sowie der Jugendhilfe. Die bessere und flexiblere Versorgung mit Kinderbetreuungseinrichtungen (besonders in Westdeutschland) ist unabdingbar für eine Erhöhung der Frauenbeschäftigung. Die Professionalisierung von Betreuungs-, Erziehungs- und Pflegetätigkeiten statt deren Hausfrauisierung schafft Arbeitsplätze und erhöht die Lebensqualität. Mehr Investitionen in die Bildungspolitik sind für die wirtschaftliche und demokratische Zukunft unerlässlich.
  5. Ebenso wie die Ausgabenseite ist die Einnahmenseite von sozialen und Geschlechterschieflagen bestimmt. Die aktuellen Steuerentlastungsgesetze bedeuten für den Zeitraum 2002-2005 kumulierte Steuerausfälle in Höhe von 18o Mrd. DM bzw. 92 Mrd. Euro. Die immer größer werdende Schere zwischen steigendem Lohnsteueraufkommen und sinkendem Gewinnsteueraufkommen widerspricht dem Prinzip der Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit und verstößt damit gegen den Gerechtigkeitsgrundsatz. Vorrangig profitieren große Kapitalgesellschaften (fördert die Konzentration!) sowie die Bezieher großer Einkommen von den Steuerentlastungen; Niedrigverdiener haben wenig oder keine (Sozialhilfeempfänger) Vorteile. Dabei sind diese Personengruppen mit relativ hoher Konsumquote wichtiger für die wirtschaftliche Entwicklung als Finanzkapitalbesitzer.
  6. Das Ehegattensplitting verfolgt im deutschen Einkommensteuer-recht einen Edukationseffekt: Mit erheblichem finanziellen Aufwand (rd. 20 Mrd. Euro) wird Frauen signalisiert, dass ihre Erwerbstätigkeit nicht mehr erwünscht ist, sobald sie verheiratet sind. Die aus dem Splittingtarif resultierende Steuerklasseneinteilung in III (Alleinverdiener) und V (Zuverdiener) entwertet Frauenarbeit durch einen niedrigen Nettoverdienst und entsprechend niedrigen nettolohnbezogenen Lohnersatzleistungen (z.B. Arbeitslosenunterstützung) und ist mit verantwortlich für die Abdrängung vieler Frauen in prekäre Beschäftigungsverhältnisse. Die traditionelle Versorgerehe mit einem gutverdienenden Ehemann und der nicht erwerbstätigen Ehefrau prägt nicht nur das Steuerrecht und die Sozialversicherungssysteme, sondern ist zugleich Ausdruck eines überkommenden und frauenfeindlichen Gesellschaftsmodells.
  7. Von der Finanzpolitik können fördernde (Beispiel Skandinavien) oder eindämmende Wirkungen auf die Frauenbeschäftigung ausgehen (Beispiel Deutschland). Die energische Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, soziale Sicherung von Kindern und Familien, Alten und Pflegebedürftigen ist vornehmste Aufgabe einer fortschrittlichen Finanzpolitik. Die weitest gehende Privatisierung öffentlicher Aufgaben etwa im Verkehrs- und Gesundheitswesen und die Ignoranz gegenüber gewandelten Ehe- und Familienstilen erreichen dies ebenso wenig wie das neoliberale Grundparadigma, Steuersenkungen für Unternehmen und ausgeglichene Haushalte würden positive Selbstheilungskräfte entfesseln. Vielmehr sind grundlegende Reformen der Ehegattenbesteuerung erforderlich (Individualisierung) sowie durchgängige Mindestsicherungssysteme in der sozialen Versorgung, umfangreiche und qualitativ hochwertige Kinder- und Pflegeeinrichtungen, Wiedereinführung der Steuern auf große Vermögen und neue Steuern (Tobin-Steuer) auf das vagabundierende Finanzkapital.

Konferenz: Sirenen der Ökonomie. Am 21. und 22. Juni 2002 in Hamburg