Publikation Globalisierung Die Zeit des Erdrutsches

Beitrag auf der Konferenz "Information and culture, human kind`s resources; from a monopoly based system to the individual and social rights" am 7.11.2002 im Rahmen des European Social Forum in Florenz

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Reihe

Online-Publ.

Autor

Rainer Rilling,

Erschienen

November 2002

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Beitrag auf der Konferenz "Information and culture, human kind`s resources; from a monopoly based system to the individual and social rights" am 7.11.2002 im Rahmen des European Social Forum in Florenz

I

In seinem Buch "Das Zeitalter der Extreme" nannte der englische Historiker Eric Hobsbawn das letzte Viertel des vergangenen Jahrhunderts die "Zeit des Erdrutsches". Für ihn war dies die Periode nach dem goldenen Zeitalter des Fordismus und sein zentrales Charakteristikum war für ihn ein ökonomisches: der Triumph des Neoliberalismus und seines Hauptprojekts der Privatisierung vormals staatlichen, öffentlichen oder gesellschaftlichen Eigentums:

  1. Riesige Sektoren der traditionellen Infrastruktur (Energie, Wasser, Verkehr, Bildung, Kommunikation, Kultur) wurden privatisiert und die Umwandlung des staatlichen Eigentums in Privateigentum in einem großen Teil der Welt führte zum ersten Mal in der Geschichte zu einer wirklich globalen Totalität kapitalistischer Eigentumsverhältnisse;
  2. Weiter entstand eine völlig neue Qualität der Privatisierung: die private Aneignung der Natur ("Patente auf Leben");
  3. Schließlich vollzog sich eine neuartige Kommodifizierung des Prozesses der Produktion, Zirkulation und Verteilung immaterieller Güter (Wissen, Information, Daten, Kultur). In gerademal drei Jahrzehnten entstand ein riesiger Korpus intellektueller Eigentumsrechte.

[Dazu nur ein Beispiel: Es ist schwer zu glauben - aber bis 1998 gehörte das Recht der Vereinigten Staaten von Amerika einer amerikanischen Firma, dem Verlagshaus West. Dieser Firma West gehörte das amerikanische Recht. Nun freilich: die Meinungen des Obersten Gerichts der USA und der anderen Gerichte befanden sich im öffentlichen Raum ("Public domain") und konnten von ihnen jederzeit und überall publiziert werden. Doch die Firma West besaß das Copyright auf die Paginierung der Rechtsfälle. Wer immer zitieren wollte, musste die Seitenzahlen zitieren - und diese gehörten einer privaten Firma, die im Jahr 1998 daran runde 1,3 Mrd $ verdiente. Immerhin: das hat sich mittlerweile geändert].

Wie sie alle wissen, ist das Internet das wichtigste Beispiel dieser neuen Kommodifizierung. Vor vier Jahrzehnten entstand das Internet als nicht-kommodifiziertes und öffentliches Artefakt. In einer zweiten Phase wurde seine physische oder materielle Infrastruktur privatisiert und erhielt Warencharakter, wurde also kommodifiziert. Gegenwärtig befinden wir uns inmitten einer dritten Periode: der Phase der Kommodifizierung des Inhaltes ("Content"). Die Informations- und Kommunikationsfunktion des Internets wird immer stärker davon überlagert, dass die Inhalte privates intellektuelles Eigentum werden.

So können wir hier die gleiche Entwicklung beobachten wie einst im Falle des Radios oder des Fernsehens. Das Internet ist freilich nicht nur ein Verteilmedium wie Radio oder Fernsehen. Als ein "allgemeines Medium" existiert das Internet in allen wesentlichen sozialen Systemen unserer Gesellschaft oder ist an sie anschlußfähig. Es ist die neue universelle Zentraltechnologie des globalen Kapitalismus und ist die notwendige Bedingung der technischen Basis, welche der nunmehr postfordistische Kapitalismus im globalen Maßstab entwickelt. Seine Funktion besteht darin, die Globalisierung des postfordistischen Kapitalismus möglich zu machen. Das Internet funktioniert als ein "allgemeines Medium" (Marx) - gleichsam äquivalent dem Geld auf dem Felde der Waren. Wenn somit um die Privatisierung und Kommodifizierung des Internets gekämpft wird, bedeutet es, um das Eigentum an der und die Kontrolle über die Kerntechnologie des zukünftigen globalen Kapitalismus zu kämpfen.

Diese neue Ausdehnung der privaten Eigentumsform, welche Eric Hobsbawn als "Erdrutsch" bezeichnet hat, steht im Zentrum des historischen Projekts der "Umwandlung der Welt in eine Ware."

Dieser Prozess ist als die zweite große Einhegungsbewegung beschrieben worden. Bei der historisch ersten Einhegungsbewegung ging es um die private Aneignung der "Commons".

Die erste Einhegungsbewegung begann im späten 15ten Jahrhundert in England. Im Verlauf der folgenden Jahrezehnte passierten rund 4000 Gesetze und Verordnungen das englische Parlament und arrangierten die private Aneignung von ungefähr 7 Millionen Morgen vormals gemeinschaftlichen Landes, der Allmende. Rund zwei Drittel dieses Landes bestand aus Feldern, die von Bauern gemeinschaftlich genutzt wurden, der Rest bestand aus Wäldern und Moor. 1876 dann gehörte die Hälfte des landwirtschaftlich genutzten Bodens rund 2 250 Personen. Dies war das Ergebnis der ersten Einhegungsbewegung.

Die zweite Einhegungsbewegung hat eben erst begonnen. Dieser Erdrutsch hat eben erst begonnen. Es gibt einen globalen Kampf um das intellektuelle Eigentum. Man kann diesen Erdrutsch in jedem Land in Europa und darüber hinaus beobachten. Sie brauchen nur einen Blick auf die Website der Weltbank werfen ("Private Sector Development") oder die Rede von George W. Bush lesen, die er im Juni 2002 in West Point gehalten hat. Für Bush ist die "Achtung des Privateigentums...nicht verhandelbar".

Diese zweite Einhegungsbewegung hat eine Vorgeschichte.

Im Jahr 1710 gab es in England ein Statut, welches das Copyright auf 14 Jahre beschränkte. Dieses Statut kontrollierte nur den Druck - und wie viele Leute hatten Drucker? Man konnte mit diesen Arbeiten tun, was man wollte. Was geschützt war, war freier Code (Lessig). Man konnte die Werke Shakespeare`s nehmen und die Quellen lessen - das Buch war die Quelle. Es gab Transparenz. Man brauchte keine Erlaubnis von irgendjemandem, um ein Produkt zu nehmen, es zu nutzen und darauf aufzubauen.

14 Jahre - das war 1710.

1790 wurden daraus 28 Jahre, 1831 42, 1909 dann 56 Jahre. Seit 1962 hat der amerikanische Kongress das Copyright für existierende Rechte elf Mal verlängert. 1976 wurde es auf 76Jahre ausgedehnt und 1998 wurde versucht, mit dem neuen "Copyright Extension Act" die Gültigkeit auf 98 Jahre auszudehnen.

Welche Idee steckt dahinter? Nicht Autorenschutz oder Innovationsstimulation. Die Idee ist: Kultur ist nichts als proprietärer Kode. Wer sie nutzen will, begibt sich zugleich in eine Situation des Kontrolliertseins. Es geht also nicht um Produktion oder Erfindung. Es geht um Nutzung. Es geht nicht um Drucken, sondern um Lesen.

Ich möchte ein Beispiel dafür geben, das ich von einem wunderbaren Artikel Lawrence Lessigs gestohlen habe. Das ist mein Organizer, auf dem sich der Adobe eBook Reader befindet. Hier ist ein elektronisches Buch: George Eliot`s (Mary Anne Evans) Middle March. Dieses Buch befindet sich in der public domain. Und hier sind die "Genehmigungen" für mein Umgehen mit diesem öffentlich verfügbaren Text. Ich habe das Recht, innerhalb von zehn Tagen genau zehn Ausschnitte in meine Zwischenablage zu kopieren. Ich kann ebenfalls alle zehn Tage genau zehn Seiten aus diesem 938 Seiten umfassenden Werk drucken. Ich habe dir Freiheit, mir das ganze Buch von meinem Reader vorlesen zu lassen. Und hier ist noch ein Buch: Aristoteles "Politik". Ein Buch, das sicherlich kaum einem Copyright unterlag. Hier nun gibt mir mein eBook-Reader keinerlei Recht, etwas zu kopieren oder zu drucken. Ich kann mir allerdings auch dieses Werk vorlesen lassen.

Der Punkt ist: in die Technologie ist die Kontrolle eingebaut. Niemals wurde Kultur so kontrolliert. Niemals in unserer Kulturgeschichte haben weniger Leute mehr kontrolliert, wie Kultur gebraucht, genutzt, gelesen, gehört, gefühlt oder gesehen wird. Niemals.

Wie denken diese Kontrolleure darüber? Ein Beispiel anhand eines verwandten Bereichs - dem der Softwarepatente - und einer einschlägigen Person - nämlich Bill Gates. Dieser schrieb zu Softwarepatenten: "If people had understood how patents would be granted when most of today's ideas were invented and had taken out patents, the industry would be at a complete standstill today." Nun, das ist ein Problem. Und Gates hat auch die Lösung des Problems: "The solution is patenting as much as we can. A future startup with no patents of its own will be forced to pay whatever price the giants choose to impose. That price might be high. Established companies have an interest in excluding future competitors."

II

Aber es kommt noch mehr. Ich bin noch nicht ganz sicher, aber ich vermute: ein zweiter Erdrutsch ist schon unterwegs.

Tony Judt hat diese Entwicklung in der New York Review of Books mit den Begriffen einer neuen globalen Spaltung beschrieben: "Unsere Welt ist auf vielfache Weise geteilt: Reich/Arm; Nord/Süd; Westlich/Nicht-Westlich. Aber mehr und mehr ist die Spaltung, welche zählt, jene, die Amerika von allem anderen separiert." Paul Kennedy, der Autor des Buches "The Rise and Fall of the Great Powers", erklärte erst vor einigen Monaten: "Nicht hat jemals existiert wie diese Dispärität der Macht; nichts." Und plötzlich hat sich die Position Europas verändert: "Willkommen beim Rest der Welt" (Walden Bello).

Fall sie daran grundsätzlich zweifeln sollten, dann brauchen sie bloß einen Blick auf die neue "National Security Strategy of the United States of America", werfen, am 17. September 2002 publiziert wurde. Oder lesen sie den Artikel "American Primacy in Perspective" in der Zeitschrift Foreign Affairs von Brooks / Wohlforth. Sie sind überzeugt: "Die Vereinigten Staaten haben keinen Rivalen in irgendeiner kritischen Machtdimension."

Die globale Kontrolle der Medien- und Informationssysteme ist eine dieser kritischen Machtdimensionen. Die neue große Strategie der gegenwärtigen Bush-Regierung handelt nicht nur von globaler militärischer Überlegenheit oder präventiven Militärschlägen. Es geht auch darum, diese neue globale Spaltung innerhalb eines weiten Spektrums von Machtbeziehungen zu sichern. In dieser Sicht - die mehr oder weniger jene der gegenwärtigen neokonservativen amerikanischen Regierung ist - stellt die Disparität der Kommunikationsmacht eine der wichtigsten globalen Ungleichheiten dar, welche im Interesse von etwas aufrechterhalten werden muss, das mehr und mehr das "Amerikanische Empire" genannt wird.

Wenn wir von der neuen globalen Disparität der Kommunikationsmacht sprechen, müssen wir berücksichtigen, dass sich im letzten Jahrzehnt auf dem Feld der Medien eine wesentliche Veränderung vollzogen hat. Bis zu den 90er Jahren waren Mediensysteme primär national. Seitdem ist endgültig ein globaler kommerzieller Medienmarkt entstanden. Und in vielerlei Hinsicht ist das entstehende globale Mediensystem eine Ausdehnung des amerikanischen Systems und seine politische Ökonomie und Kultur trägt viele Merkmale dieses amerikanischen Systems. Der globale Medienmarkt wurde noch vor kurzem von sieben multinationalen Konzernen dominiert: Disney, AOL-Time Warner, Sony, News Corporation, Viacom, Vivendi und Bertelsmann. Obwohl nur drei Firmen als us-basiert gelten können, wickeln alle Kernoperationen in den USA ab. Diese sieben Firmen besitzen die wichtigsten US-Filmstudios (und die globale Filmindustrie wird von sieben Firmen kontrolliert); ihnen gehören (bis auf eines) die Fernsehnetworks der USA; die globale Musikindustrie wird von fünf Firmen dominiert, die - bis auf EMI - zu dieser Gruppe gehören; sie dominieren die globalen Staellitenausstrahlungen; ihnen gehört ein substantieller Anteil der globalen Buchproduktion und des Zeitschriftenwesens; ihnen gehören fast alle wesentlichen Kabelkanäle; sie kontrollieren einen wesentlichen Teil des terrestrischen Fernsehens in Europa. Dann gibt es noch eine zweite Schicht von vielleicht vier oder fünf Dutzend Firmen, die national oder regional dominieren oder die Nischenmärkte monopolisieren. Rund die Hälfte der Firmen, die zu dieser Gruppe gehören, kommen aus Nordamerika. Diese zusammengenommen 60 oder 70 Firmen beherrschen die Medien unseres Planeten.

Was bedeutet das? Schauen wir, was ein internes Memorandum von Michael Eisner, Spitzenmanager der Walt Disney Corp. dazu sagt: "Wir haben keine Verpflichtung, Geschichte zu machen. Wie haben keine Verpflichtung, Kunst zu machen. Wir haben keine Verpflichtung, Erklärungen abzugeben. Wir haben nur ein Ziel: Geld zu machen." [zitiert aus: Mickey Mouse Monopoly-Disney, Childhood & Corporate Power]. Blair Levin, ein Berater der Telekommunikationsindustrie, klärt uns auf: das Ganze ist eine Sache nicht der Kultur, sondern der Ökonomie. "Wenn du die Kanäle hast, kannst du eine gewisse Menge Geld machen...Wenn Du die Kanäle und den Inhalt hast, kannst du mehr Geld machen." Es ist, sagt er, "schlicht die Frage, wem der Konsument gehört - wer die Dollars des Konsumten bekommt und wie sie zwischen den verschiedenen Lieferanten von Inhalten aufgeteilt wird - Kabel, Digital, Film- und Aufnahmestudios." Fabelhafte drei Viertel der weltweiten Ausgaben für Werbung landen in den Taschen von gerademal zwanzig Medienunternehmen. Fünf oder sechs Agenturen kontrollieren den globalen Werbungsmarkt und arrangieren den Handel einer 350 Milliarden Dollar - Industrie. "Werbung", sagt Chuck Blore, der zu dieser Industrie gehört", ist die Kunst, die menschliche Intelleigenz gerade so lange zu blockieren, bis Du Geld herausbekommen hast" [zitiert in Ben H. Bagdikian, The Media Monopoly, Sixth Edition, (Beacon Press, 2000), S.185].

III

Der erste Erdrutsch: das neolibeale Projekt der Privatisierung und Kommodifizierung. Der zweite Erdrutsch: die Stärkung dieser neuen globalen Spaltung.

Wie geht man mit Erdrutschen um?

  • Man kann versuchen, die Situation zu stabilisieren und zu helfen, den Erdrutsch zu verhindern. Das scheint vernünftig - ist aber zu spät.
  • Man kann dem Erdrutsch aus dem Weg gehen: Aber wo soll man hingehen, wenn das Ganze im globalen Maßstab geschieht und es kein außen gibt? Es keinen Ort gibt, wohin man gehen kann?
  • Man kann sich sehr sehr schnell bewegen - vor dem Erdrutsch. Das bedeutet: versuche einfach, ein junger pro-amerikanischer Neoliberaler zu werden; und vergiß einfach diese altertümlichen Ideen von "Commons" und "Gemeineigentum", von "Öffentlichkeit", "Gemeinschaftlichkeit" "Allgemeininteresse";

Oder man kann versuchen, zu widerstehen.

Literatur

Lawrence Lessig: Free Culture. Keynote from OSCON 2002 15.8.2002 www.oreillynet.com/pub/a/policy/2002/08/15/lessig.html

Robert W. McChesney, Dan Schiller: The Political Economy of International Communications: Foundations for the Emerging Global Debate over Media Ownership and Regulation. University of Illinois at Urbana-Champaign. Paper prepared for the UNRISD Project on Information Technologies and Social Development, as part of UNRISD background work for the World Summit on the Information Society, April 2002 

Global Issues. www.globalissues.org/HumanRights/Media.asp