Publikation Ungleichheit / Soziale Kämpfe - Staat / Demokratie - Demokratischer Sozialismus - Gesellschaftstheorie Eine Fundamentalkritik mit Folgerungen. »Radikale Kritik und Rebellion«

Utopie Kreativ Heft 115-116 Mai-Juni 2000

Information

Reihe

Zeitschrift «Utopie Kreativ» (Archiv)

Erschienen

Mai 2000

Bestellhinweis

Nur online verfügbar

Zugehörige Dateien

UTOPIE kreativ, H. 115/116

(Mai/Juni 2000),

S. 590-592Den heutigen Kapitalismus als »parasitären, faulenden und sterbenden« zu verstehen, wie ein anderer berühmter Autor meinte, erscheint im Buch von Robert Kurz als Minimalposition. »Der Kapitalismus ist am Ende seines Blindflugs durch die Geschichte angelangt, er kann nur noch zerschellen.« Die irrationale neoliberale Politik mit ihrer Abrüstung der in mehr als hundert Jahren aufgebauten staatsökonomischen Strukturen bedeute, daß »ein buchstäblich irre gewordener Kapitalismus seine sämtlichen Sicherungen ausbaut und seine eigenen Rahmenbedingungen niederreißt.« Dieses System werde reproduktionsunfähig.

»Was tun?« – Die Besprechung dieses Buches mit dieser Frage zu beginnen, die auch dem Entdecker des sterbenden… usw. einen Buchtitel wert war, empfiehlt sich vor allem deshalb, weil Robert Kurz nicht, wie in Büchern mit ähnlichem Gegenstand, den Leser gerade mit dieser Frage, die ihn am meisten interessiert, entläßt; hier erhält er hinreichend klare Auskunft. Vor allem aber erschließt sich von dieser Frage her der Charakter dieses Werkes am deutlichsten: Es ist ein fundamentalistisches Werk.

Also, was tun? »Radikale theoretische Kritik und Rebellion müssen zusammenkommen.« Jegliche Versuche, innerhalb heutiger Gesellschaften mehr Gerechtigkeit, Mitwirkungsrechte erstreiten zu wollen, hält Robert Kurz für vergeblich, unangebracht. Der Begriff »soziale Gerechtigkeit« gehöre zum »Plastikwortschatz der Medienpolitiker und damit zum Diskurs der demokratischen Krisenverwaltung«. Befreiung der Reichtumsproduktion von den kapitalistischen Restriktionen sei nötig, nicht eine »›gerechte‹ protestantische Zuteilung von Notrationen«. Umverteilungsethik sei genau so sinnlos geworden wie Verzichtsethik.

Dieser ganze kapitalistische Betrieb, meint der Autor, könne nur noch stillgelegt werden. Hierzu bedürfe es eines weltweiten sozial-ökonomischen Maschinensturms, eines regelrechten Aufstands, der Rebellion gegen die kapitalistische Krisenverwaltung. Der kürzeste Weg in den sozialen Erschütterungen der nächsten Jahre wäre die Besetzung der Produktionsbetriebe, Verwaltungen und sozialen Einrichtungen durch eine Massenbewegung, die sich die gesellschaftlichen Potenzen direkt aneignet und die gesamte Reproduktion in eigener Regie betreibt. Bliebe diese radikale Gegenbewegung aus, wäre für eine Minderheit immer noch eine Kultur der Verweigerung möglich. Auf jeden Fall dürfe man sich von der eigenen Ohnmacht nicht dumm machen lassen. Und das könne nur heißen, jede Mitverantwortung für »Marktwirtschaft und Demokratie« zu verweigern, nur noch »Dienst nach Vorschrift« zu machen und den kapitalistischen Betrieb zu sabotieren, wo immer das möglich ist. Selbst wenn nur wenige eine innere Distanz zum Kapitalismus zu gewinnen vermögen, sei es immer noch besser, Emigrant im eigenen Land zu werden, »als in den inhaltlosen Plastikdiskurs der demokratischen Politik einzustimmen. Die Gedanken sind frei, auch wenn sonst gar nichts mehr frei ist.« Das ist der letzte Satz des Buches.

Die Ursache des Übels und der Ausweg

Nicht nur das Kapitalverhältnis, sondern Verhältnisse, in denen menschliche Arbeit als abstrakte Arbeit – als allgemeine Verausgabung von Hirn, Muskelkraft etc. – die Reproduktion sozialer Lebensgrundlagen bewirkt, sei die Ursache allen Übels. Die Geldform überhaupt müsse abgestreift werden; denn sie sei eben »keine Form menschlicher Verständigung, sondern umgekehrt werden alle menschlichen Beziehungen dem Diktat eines rasend prozessierenden, verständigungslosen und unansprechbaren Dings unterworfen«.

Aufgrund der offensichtlichen ›Rückgriffe‹ auf Gedanken von Karl Marx drängen sich einige Bemerkungen zu den Aussagen von Robert Kurz, die Marx betreffen, auf:

Erstens vermerkt Kurz mehrmals, daß Marx den Fetischcharakter von Ware und Geld bloßgelegt hätte. Er schwächt diese Aussage aber nicht nur immer wieder ab, sondern behauptet auch das (unwahre) direkte Gegenteil: »Auch der Marxismus hat den Geldfetisch niemals als solchen kritisiert.« Kurz vermeidet offenbar die klare Aussage, daß Marx seine emanzipatorische Idee nicht nur mit der Überwindung des Kapitalverhältnisses, sondern der Warenproduktion und des Geldes verbunden hat. Das ist vielleicht einem Großteil der Marxisten nicht geläufig, aber dennoch eine eindeutige, gar nicht ausdeutbare Marxsche Vorstellung, die zwingende Konsequenz seines Weltverständnisses. Jemand, der genau diese Marxsche Idee als eigenen Kern seiner Weltsicht verkündet, sollte in seiner Berufung auf Marx keine Zweideutigkeiten zulassen. Die Behauptung von Robert Kurz, daß der Marxismus »hochgradig ambivalent« sei in der Orientierung entweder auf eine bewußt emanzipatorische Antimoderne und andererseits auf eine Modernisierungstheorie »auf dem Boden des warenproduzierenden Systems«, mag für alle möglichen Marxismen zutreffen, auf das Werk von Karl Marx eindeutig nicht. Der Unterstellung, daß Marx der »Brückenschlag« zur emanzipatorischen Idee »nicht gelungen« sei, weil ihm »selber die liberalen Elemente seiner Theorie im Weg standen«, kann nur entgegnet werden: ›Marx lesen‹. Das jedenfalls ist schlichter Unfug: »Weil die emanzipatorische Sozialrevolte und die Marxsche Theorie sich historisch verpaßt und gegenseitig nicht abgeholt hatten, reduzierte sich der Marxismus auf eine alternative bürgerliche Fortschrittstheorie … in den Grenzen des warenproduzierenden Systems und der Gesetze der Staatsbürgerlichkeit.«

Zweitens geht die Geringschätzung bis Verneinung jeglicher Möglichkeiten, im Kapitalismus soziale Verbesserungen zu erreichen, bei Robert Kurz wesentlich auf die Bagatellisierung des Verhältnisses von Kapital und Arbeit zurück, das für Marx die zentrale Achse der sozialen Beziehungen im Kapitalismus darstellt. Diese Bagatellisierung wiederum geht bei Kurz auf die hypertroph herausgehobene Rolle der »abstrakten Arbeit«, und die wieder auf die absolut negative Wertung von Arbeit überhaupt zurück.

Kurz hält Marx vor, daß er die positive Wertung der Arbeit samt dem abstrakten Arbeitsbegriff vom Liberalismus übernahm. Schon die »Gründungsvätergestalten des modernen arbeiterbewegten Sozialismus waren weniger Rebellen als vielmehr ursprünglich Sonntagsschüler des Liberalismus … domestizierte und moralisch geschockte Liberale«. Kurz erinnert in diesem Zusammenhang daran, daß Marx selbst Vorsitzender des Kölner Arbeiterbildungsvereins, einer dieser »liberalen Sonntagsschulen«, gewesen sei. Zunächst werde von Marx angeblich die Arbeit gegen die »vermeintliche ›Nichtarbeit‹ in Szene gesetzt, gegen das ›arbeitslose Einkommen‹ der Kapitalisten, die sich den ›Mehrwert aneignen‹«. Aber dem sei »leicht« mit dem Hinweis beizukommen, »daß die so genannten Kapitalisten auch selbst ›arbeiteten‹, wenn auch in anderen Funktionsbezügen«. Und »weil also die ›abstrakte Arbeit‹ nicht insgesamt als Bestandteil des Kapitals dechiffriert werden konnte, lag es nahe, den Begriff der ›Nichtarbeit‹ zu verengen, entweder auf den Handel, der ›nichts herstellt‹ und sich angeblich bloß parasitär zwischen Produzenten und Konsumenten schiebt oder auf die (wie Friedrich Engels sich ausdrückte) ›Kuponschneider‹, die reinen Geldkapitalisten, die anscheinend wirklich ohne jeden Handschlag in Form des Zinses ›arbeitsloses Einkommen‹ beziehen. Nun ist auch diese Argumentation nicht in sich stimmig, denn natürlich ist der Handel in einem warenproduzierenden System völlig unvermeidlich …«

Nicht stimmig, einfach unwahr ist, daß Marx seine Mehrwerttheorie durch eine »Einengung des Begriffs der Nicht-Arbeit« zu retten versuchte. Marx darauf aufmerksam zu machen, daß die Unterscheidung von produktiver und unproduktiver Arbeit keine sozialen oder moralischen, sondern rein ökonomische Gründe habe, ist auch nur möglich, wenn man vorher Marx’ Auffassungen verfälscht. Des Pudels Kern in der Kritik von Kurz ist, »… daß die Arbeiterklasse im Zuge ihrer Verinnerlichung des Fabriksystems ausgerechnet die kapitalistische Zentralkategorie der ›Arbeit‹ positiv vom Liberalismus übernehmen und vermeintlich gegen das kapitalistische Wirtschaftssystem richten konnte«. Sie habe nicht begriffen, daß die »abstrakte Arbeit« der »Kern des Kapitals« sei, weshalb Auseinandersetzungen zwischen Kapital und Arbeit auf einem Boden geführt würden, der beiden gemeinsam sei. Klassenkampf ist für Robert Kurz nichts anderes als »die immanente Bewegungsform eines bereits domestizierten verhausschweinten Bewußtseins«. Wenn in den Auseinandersetzungen zwischen Kapital und Arbeit im Kapitalismus kaum etwas – und heute angeblich gar nichts mehr – zu gewinnen sei, dann mag es berechtigt sein, von einem vom Kapitalismus »verhausschweinten Arbeiterbewegungs-Marxismus«, einer »arbeitszuchthäuslerisch sozialisierten sozialdemokratischen Bewegung« … zu sprechen und den Gewerkschaften den schlichten Rat zu geben, sich selber aufzulösen. Heute wäre der Kapitalismus in einer Situation, in der gar nichts mehr geht, in welcher selbst systemimmanente Gegenwehr nur noch möglich sei, indem das System selbst zur Disposition gestellt wird. »Damit sind die Gewerkschaften mit ihrem Latein am Ende … Die Konsequenz wäre eigentlich der eigenhändig zu vollziehende Gnadenschuß.«

Drittens führt die extrem negative Wertung der Arbeit bei Robert Kurz zu extremistischen Folgerungen, die m.E. nicht mehr diskutierbar sind, sondern nur noch mit Entrüstung zurückgewiesen werden können. Die »Arbeit« ist für ihn das gemeinsame Band von Arbeiterbewegung und Rassismus! »Die entscheidende Schnittmenge von Sozialismus und Rassismus/Antisemitismus war der positiv besetzte Begriff der ›Arbeit‹. In dem Maße, wie die sozialistische Arbeiterbewegung das Selbstverständnis der alten Sozialrevolten, die sich auf tradierte ›Rechte‹ und in diesem Kontext auf Muße (›Müßiggang‹!) bezogen hatten, durch die Leistungskategorie der ›Arbeit‹ selber ersetzte, diese zum positiven Kern ihrer Identität machte, und damit die vom Liberalismus seit Beginn der Neuzeit betriebene bürgerliche Kampagne (›Müßiggang ist aller Laster Anfang‹) übernahm, mußte sie auch anfällig werden für Ressentiments gegen Leistungsschwache, ›Ungläubige‹ in Sachen Religion der ›Arbeit‹ und vermeintliche ›Nichtarbeiter‹. Damit war jenes bis zu einem gewissen Grad ›erlaubte‹, weil das bürgerliche Universum nicht in Frage stellende Ausspielen der einen kapitalistischen Kategorie gegen die andere, der ›Arbeit‹ gegen das Geld, schon grundsätzlich angelegt – und genau diese Schwachstelle mußte zum Einfallstor für Biologismus, Rassismus und Antisemitismus werden.« Einfach unerträglich: »Die Parole ›Arbeit macht frei‹ über dem Tor von Auschwitz enthüllte das wahre Wesen jenes zu sich gekommenen Selbstbewußtseins der ›Arbeit‹, das die Arbeiterbewegung stets als emanzipatorisches Prinzip mißverstanden hatte.«

Freiheit sei nur jenseits von Staat und Markt, jenseits des Systems der »abstrakten Arbeit« und des Lohnsystems zu gewinnen. Freiheit würde darin bestehen, daß die Menschen sich zur Reproduktion ihres Lebens freiwillig zusammenfinden, gemeinsam über den Inhalt ebenso wie über die Vorgehensweise beraten und beschließen und »die Produkte ganz einfach unabhängig von der ›Arbeitsleistung‹ der einzelnen verteilt werden«.

Technisch und organisatorisch wäre solche Selbstverwaltung überhaupt kein Problem, heute weniger denn je, denn die Kommunikationstechnologie habe durchaus mit dem Grad der Vernetzung und Vergesellschaftung mitgehalten. Es bedürfe für eine Beratung und Entscheidung aller beteiligten Gesellschaftsmitglieder über den Einsatz der gemeinsamen Ressourcen keiner ihnen äußerlichen Behörde, keiner Bürokratie und keiner Weltregierung, überhaupt keines »allwissenden Zentrums«. Eine »Palaverkultur« würde nötig und möglich. Diese Kommunikation würde nicht auf der dem Kapitalverhältnis immanenten »vertikalen« Ebene über verschiedene Hierarchiestufen erfolgen, sondern auf der horizontalen Ebene, als Verständigung zwischen Gleichen.

Tiefe Einsichten, aber auch Überhöhungen und Einebnungen

Dieses Buch von Robert Kurz ist jedoch auch ein historisch angelegtes Werk. Es schlägt den Bogen von vorkapitalistischen Perioden bis in die Gegenwart. Hervorhebenswert sind die hierin eingebetteten Analysen der drei industriellen Revolutionen, die in vieler Hinsicht anregend sind. »War die Erste industrielle Revolution durch die Anwendung von Kohle und Dampfkraft gekennzeichnet, die den Ruin der traditionellen handwerklichen Produzenten nach sich zog, so beruhte die Zweite industrielle Revolution auf dem Verbrennungsmotor, dem Fließband und der betriebswirtschaftlichen ›Arbeitswissenschaft‹, verbunden mit einer sozialökonomischen Spaltung der Epoche in die Zeiten der industrialisierten Weltkriege und der fordistischen Nachkriegsprosperität. Die Dritte industrielle Revolution sollte ihre technologische Basis in der Elektronik und den ›Informationswissenschaften‹ haben, um zu einer qualitativ neuen Stufe der Massenarbeitslosigkeit und damit der Systemkrise zu führen.« Nicht nur in der Charakterisierung der industriellen Revolution läßt sich Robert Kurz von seiner zentralen Idee leiten; er bewertet historische Vorgänge nach ihrer Bedeutung für die Konstituierung, Entfaltung, Befestigung und schließliche Selbstzerstörung des »warenproduzierenden Systems ›abstrakter Arbeit‹«.

Der Vorwurf fundamentalistischer Weltsicht ist nicht ein vorgefaßter Vorwurf gegen die von Fundamentalisten verkündeten Wahrheiten, sondern gegen deren Umgang mit ihren Wahrheiten. Fundamentalismus ist die kompromißlose Prolongierung der mehr oder weniger axiomatisch gebrauchten (fundamentalen) Ideen. Unwahrheiten, Fehlurteile schleichen sich zwangsläufig ein, weil retardierende Tendenzen, durch die »bunte Wirklichkeit« verursachte Modifizierungen nicht respektiert, die sich hierauf Berufenden als »Abweichler«, als Unzuverlässige, Opportunisten und Schwächlinge usf. denunziert werden.

Die Bannung der Menschen in das warenproduzierende System, in die Allmacht des Geldes ist eine fundamentale Tatsache, ihre Wucherung in alle Lebensbereiche hinein eine verhängnisvolle Tendenz. Deren Fortsetzung kann nur den Tod von Gesellschaftlichkeit, von lebensfähigen sozialen Organismen bedeuten. Dem mit gewissenhafter, sorgfältger Analyse, mit hoch intellektueller Potenz und zugleich mit tief empfundener Solidarität für die Opfer »der Modernisierung« nachgegangen zu sein, ist das Verdienst des Autors. An diesem Buche kann keiner vorbeigehen, dessen Sache kritische Kapitalismus-Analyse ist. Er wird es mit großem Gewinn lesen. Aber da sind eben auch die »Prolongationen«. Ein Beispiel am Rande: Für mich war der Bauhausstil ein wirtschaftlich wie ästhetisch gelungener Versuch, Zweckmäßigkeit und Schönheit in Einklang zu bringen, mit diesem Ziel die Potenzen industrieller Produktion für die Bevölkerungsmehrheit zu erschließen, eine kulturell-demokratische Angelegenheit sozusagen. Robert Kurz sieht das so: »Aus dem Bauhaus-Stil ging nicht nur in der Architektur die Form hervor, die auch äußerlich das Wesen der ›abstrakten Arbeit‹ auszudrücken vermochte: einheitliche, genormte Baukastensysteme, passend zum Ford-Taylorschen Fließprozeß der rationalisierten Produktion und ›gereinigt‹ von allen ästhetischen Elementen, die nicht der kapitalistischen ›Zweckform‹ entsprechen.«

Folgt man der historischen Vorgehensweise des Autor so kommt herausragende Bedeutung in der Geschichte sozialer Bewegung der Ludditenbewegung, den »Maschinenstürmern« im England Anfang des 19. Jahrhunderts zu. Sie bildeten den Kern der sozialen Revolten gegen das aufkommende Fabriksystem. Robert Kurz hebt hervor, daß es sich hier durchaus nicht um eine blinde Maschinenstürmerei gehandelt hat. Sie war einerseits getragen von einer sehr starken historischen Überlieferung, einem militant antiautoritären Geist offenbar hochorganisierter Gruppen. Sie hatte einen starken Rückhalt in der Bevölkerung und war nur die Speerspitze einer in ganz Europa verbreiteten fundamentalen Opposition der Produzenten. Kurz betont den ambivalenten Charakter dieser Bewegung, mit halb rückwärtsgewandten, an der handwerklichen Tradition orientierten Motiven und halb zukunftsträchtiger Orientierung, die auf die historische Möglichkeit verweist, eine selbstbestimmte Vergesellschaftung durch direkte menschliche Verständigung zu finden. Zwei Momente sind hier hervorzuheben, gegen die manches eingewandt werden müßte. Kurz hält es für möglich, daß diese soziale Revolte historisch auch erfolgreich hätte sein und der ganze Kapitalismus hätte vermieden werden können. Die handwerkliche Tradition mit ihrer »Borniertheit des Zunftwesens hätte auch abgelöst werden können durch einen bewußten Konsens über die Entwicklung der Produktivkräfte, in dem das Verhältnis von Erweiterung der Produktion und der Bedürfnisse einerseits, der Verkürzung der Arbeits- und der Vermehrung der Mußezeit andererseits ständig neu diskutiert und gemeinschaftlich festgelegt wird«. M.E. ein herrlich tröstlicher Gedanke: Der Kapitalismus als Irrweg der Geschichte! Nur kann ich es nicht glauben. Weil da die Marxsche Idee ist, daß der Sozialismus erst möglich werde, wenn die vorhergehende Gesellschaft die materiellen Voraussetzungen für eine Gesellschaft schafft, deren Ziel die allseitige und freie Entwicklung des Individuums ist. Genau dies ist für Marx die historische Mission des Kapitalismus. Ist das sozialistische Desaster nicht auch eine Bestätigung dieser Vorstellung?

Das zweite Moment ist eine m.E. idealisierende Vorstellung vom Mittelalter. Mit dem Scheitern dieser emanzipatorischen Sozialrevolte »erlosch auch die alte bäuerlich-handwerkliche Kultur der Muße, der damit verbundenen sozialen Kompetenzen, der kulturellen Selbsttätigkeit, des gehaltvollen Nichtstuns, geradezu des Träumens. Auch diese Kultur der Muße wurde nicht im Kontext sozialer Selbstbestimmung und Selbstverständigung weiterentwickelt, sondern liquidiert und allmählich durch kapitalistischen Warenkonsum ersetzt«. Heute gäbe es nur noch schwache Erinnerungen an die »einst reichhaltige Produzenten- und Mußekultur der alten Agrargesellschaften«.

Anklänge an diese herausragende soziale Revolte im Kapitalismus, die allerdings sehr schnell verhallten, sieht Robert Kurz in den Räten in den russischen Revolutionen Anfang des 20. Jahrhunderts und in der deutschen November-Revolution, sowie in der 68er Bewegung in Westeuropa. Die Pariser Kommune dagegen steht für ihn überhaupt nicht in der Tradition emanzipatorischer Kämpfe. Warum? Weil »von einer emanzipatorischen Kritik der ›abstrakten Arbeit‹ … in ihren Dekreten niemals die Rede« war.

Dieser verkürzte Bezug auf pro und kontra System »abstrakter Arbeit« veranlaßt Robert Kurz zu einer Vielzahl m.E. fragwürdigen historischen Analogien, angeblichen Verwandtschaften. Zum Beispiel, wenn er behauptet, daß die Paulskirchen-Demokratie von 1848 in einer geraden Spur zu den Nazis führt, weil die linksdemokratischen Intellektuellen nie den Rubikon der kategorialen Kritik am warenproduzierenden System überschritten hätten.

Aussichten

Die düstere Vision, die Robert Kurz in diesem Buche zeichnet, der Fall kapitalistischer Gesellschaften in die Barbarei, kann als ein Szenario möglicher Entwicklungen nicht einfach beiseite geschoben werden. Er hat recht darin, daß die heutige Art von Globalisierung keine positive Überwindung des Nationalstaates zur Weltgesellschaft hin bedeutet, sondern eher eine Verwilderung in die Strukturlosigkeit hinein; daß neue reproduktionsfähige Strukturen des Kapitalismus kaum auszumachen sind; daß wir es eher mit dem Zerbrechen der strukturellen Polarität von Staat und Markt, Ökonomie und Politik, Mikroökonomie und Makroökonomie, Individuum und Gesellschaft zu tun haben, die Kapitalismus überhaupt erst möglich macht; daß die gegenwärtige Form von »Modernisierung« zugleich Tendenzen der Selbstauflösung und Selbstzerstörung der Moderne einschließe; daß die »alten Dämonen« wieder erwachen: der entfesselte Marktliberalismus, ein neuer Schub in der »Naturalisierung« des Sozialen bis hin zur »Genetisierung« der sozialen Degradation und Propagierung von »Menschenzucht«; grassierende Esotherik; zugleich auch die faschistoide Pseudokritik des Liberalismus, das antisemitische Syndrom; die Eskalation ethnischer, nationaler Differenzen in mörderische Auseinandersetzungen.

Was zu bestreiten ist, daß es sich hier um Gewißheiten, um zwangsläufige Entwicklungen handelt. Demokratische Strukturen, wie unvollkommen sie auch sind, haben sich so tief in das Weltbewußtsein eingegraben, daß die Aufklärung der Gefahren, der Wille und die realen Möglichkeiten, ihnen politisch zu begegnen, eine Chance haben. Manches spricht dafür, daß diese Chancen größer geworden sind.

Mich überzeugt auch nicht die von Kurz vorgetragene Logik seines »Schneeballsystems«: Die erste industrielle Revolution habe einen Schneeball des Überspringens industrieller Entwicklung auf weitere Industriezweige ausgelöst; die zweite industrielle Revolution habe dieses Schneeballsystem an seine inneren Grenzen geführt und die dritte industrielle Revolution habe es schließlich zum Stehen gebracht. Der Beweis dafür, daß die menschliche Phantasie im Finden jeweils immer dringender Bedürfnisse schwächer werde im Verhältnis zur Phantasie, die Produktivitätsfortschritt bewirkt, ist immer noch nicht erbracht. Auch Robert Kurz ist gefangen im logischen Widerspruch, der bei den meisten Verkündern eines »Endes der Arbeit« zu finden ist: Einerseits wird behauptet, daß der Arbeitsgesellschaft (infolge der Produktivkraftentwicklung) die Arbeit ausgeht, später heißt es dann: Arbeit ist für alle da! Was denn nun? Läßt die Mikroelektronik nur die Alternative zu zwischen Vergrößerung von Mußezeit und Massenarbeitslosigkeit, wie Kurz immer wieder behauptet, oder wäre doch genügend und dringend zu verrichtende Arbeit vorhanden, wenn …? Eigentlich wäre es, meint Robert Kurz im direkten Widerspruch zu seiner Mikroelektronik-Deutung, »durchaus sinnvoll, wenn die vielen Menschen, die nun nicht mehr im industriellen Produktionsprozeß gebraucht werden, statt dessen im Gesundheits- und Bildungswesen tätig würden oder in der Planung von Reisen, Kunstausstellungen, Sportveranstaltungen usw. Aber die betriebswirtschaftliche Logik macht auch in dieser Hinsicht dem gesunden Menschenverstand einen Strich durch die Rechnung.«

Was jedenfalls als Letztes bleiben sollte, sollte nicht innere Emigration, die Flucht in bloße Gedankenfreiheit sein. Sozialistisches Weltverständnis, sozialistische Politik scheinen nur noch möglich zu sein mit einem »Optimismus wider besseres Wissen«, eines nicht illusionären Pseudooptimismus, im Vertrauen auf die vielleicht nicht sehr große Chance, daß den Verläufen bisheriger Weltentwicklungen, die in die »Finsternis« führen (Eric Hobsbawm), eine andere Richtung gegeben werden könnte. Der Such- und Lernprozeß ist ergebnisoffen. Aufmerksam und kritisch gelesen, vermag dieses Buch manche Anregung zu geben. Daß dieses Nachdenken in den vom Autor gezeichneten sehr verengten »Alternativen« – die er durchgehend apodiktisch vorträgt, an keiner Stelle des Buches zum kritischen Mitdenken über andere Möglichkeiten einladend – sein Ende finden soll, ist nicht ernst zu nehmen.

*************************************

Harry Nick – Jg., 1932, Prof. Dr., Wirtschaftswissenschaftler

 

Robert Kurz: Schwarzbuch Kapitalismus. Ein Abgesang auf die Marktwirtschaft,Eichborn Verlag Frankfurt/M. 1999,816 S. (68 DM)