UTOPIE kreativ, H. 115/116
(Mai/Juni 2000),
S. 508-511Der Morgen graute. Schwefelgelbe Streifen zeigten sich am Himmel, die sich bald zu orangefarbenen Wolkenklumpen zusammenballten und schwerfällig vorbeizogen. Der Tag begann. Was für ein Tag? Durchnäßt, bis auf die Knochen erfroren, warteten die Frauen, die sich nur aneinanderlehnend auf den Beinen halten konnten, in einem Zelt, bis zu den Waden im Wasser stehend, auf den anbrechenden Tag. Frauen in gestreifter Kleidung, mit einem roten, grünen oder schwarzen Winkel und einer hochstelligen Nummer am Arm, trugen Totenbahren vorüber. Endlos schien die Reihe, immer dasselbe Bild. Mit wachsgelber Haut überzogene Skelette lagen übereinandergeworfen auf der Bahre. Die Augen starrten wie Glaskugeln in das Nichts, der Mund war offen, ein erstarrter Schrei, die letzte und stumme Anklage. Ausgemergelte Mütter, deren Haare verklebt in Strähnen herunterhingen, Mädchen, deren Gesichter dem eines toten Kindes glichen.
Es war das Ergebnis einer Nacht. Wie viele Morgen hatte der Tod hier schon geerntet und wie lange wird er noch ernten?
Die neuangekommenen Frauen konnten die Blicke nicht abwenden und fragten sich, wann sie an der Reihe sein würden.
Dann wurde es im Lager lebendig.
Die Lagerpolizistinnen, selbst Häftlinge, machten die Runde. »Ihr Schweine, ihr Säue«, unflätigste Schimpfworte sprudelten nur so aus ihren Mündern. Häftlinge gegen Häftlinge, und manche trugen einen roten Winkel, waren also politische Gefangene?!
Lisa verstand nichts mehr vom Leben, lernte aber bald die mächtigste Waffe Hitlers, Menschen gegen Menschen für Privilegien zu hetzen, kennen. Nicht die SS und SA waren das Neue, das Schreckliche. Von diesen konnte man nichts anderes erwarten, das waren entartete Feinde. Das Erschauernde war, daß die Häftlinge selbst zu Henkershelfern geworden waren und in ihrem Handwerk gar keine Hemmungen an den Tag legten, sondern wegen eines Postens, wegen etwas Eßbarem aus der Küche, wegen Angst um ihr Leben, erfinderisch in Grausamkeiten, verroht bis ins Herz, der SS gleich geworden waren. In dieser Hölle, die Dantes Hölle weit in den Schatten stellt, wurden manche Menschen zu einem Rätsel. Wie grauenhaft mußte das Leben hier sein, wenn Menschen, um ihre Haut zu retten, ihr ganzes Leben auf den Schutt warfen.
Die Fortsetzung dieses tiefsten Verfalls jedes Menschentums erlebte Lisa am Nachmittag bei der Einkleidung. Nackt mußten sich die Frauen ausziehen. Ihre Kleider, alles Mitgenommene wurde auf einen Haufen geworfen, auf den sofort die Aasgeier, die diensthabenden Häftlinge stürzten und nach guten Sachen herumwühlten. Eine SS-Aufseherin, ein blondes Mädchen mit gebürstetem Haar und tadellos sauberer Uniform, führte die Aufsicht, gab Befehle, die mit Beschimpfungen und Püffen in den Rücken der nackten, frierenden Mütter und Mädchen leidenschaftlich ausgeführt wurden. Die Arbeit ging wie am laufenden Band. Zuerst auf einem Operationstisch, wo eine österreichische Hebamme mit Gummihandschuhen an den Händen die Geschlechtsteile der Frauen nach verstecktem Schmuck untersuchte. Dann stießen Fäuste in den Rücken, und irgendwo kam die Frau zu sitzen, um nach Läusen abgesucht zu werden. Gab es Läuse, mußte sie ins andere Zimmer und wurde geschoren. Dann bekam sie die Bekleidung: eine Hose, manchmal auch keine, ein gestreiftes Kleid und Holzpantinen. Dann ging es in den Zuzugsblock. Es waren stinkende Baracken mit eingeschlagenen Fenstern und Holzgestellen mit verlausten Strohsäcken, auf denen fünf oder mehr Frauen je auf einer Pritsche lagen. Wer schlafen wollte, mußte sich, ohne zu fragen, zwischen schwitzende Körper drängen, seinen Kopf auf die Brust irgendeines fremden Menschen, die Füße unter den Leib einer anderen Frau legen, um sofort mit Füßen weggestoßen zu werden.
Um drei Uhr morgens war Appell.
Lange Züge von Schatten zogen in Reih und Glied zum Lagerplatz, nahmen blockweise Aufstellung und standen, standen bei Regen und Schnee, bei der Kälte des Winters bis sieben Uhr früh. Dann kam die Lagerleiterin und nahm den Rapport jeder Blockältesten über den Stand in ihrer Baracke ab. Stimmte die Zahl nicht, so mußte der ganze Block den ganzen Tag über, manchmal Tag und Nacht, stehen.
Wer niederfiel, durfte nicht aufgehoben werden. Dann ging es zur Arbeit. Eine wilde, panische Angst und Flucht ergriff die Massen. Obwohl fast aussichtslos, versuchte jede doch, Tag für Tag, sich zu verstecken, sich in abtretende Gruppen zu schwindeln. Die Eingänge zu den Straßen, die zu den Baracken führten, waren versperrt. Die Lagerpolizistinnen schwangen die Ledergürtel, ließen die Eisenschnallen auf die Körper sausen, zogen alte Mütter bei den Haaren aus ihren Verstecken, stießen mit den Schuhen in den Bauch und Rücken. War die notwendige Zahl an Arbeitskräften erreicht, wurden Schaufeln verteilt, und mit dem Gesang »O, Tirolerland, du bist so schön, so schön« verließen, an der Lagerleiterin vorbeimarschierend, lange Züge von Sterbenden das Lager, um Planierungsarbeiten durchzuführen. Die reizenden, mit Gärten umsäumten Villen der SS, die, wie aus dem Baukasten entnommen, das Todeslager umsäumten, waren auf diese Weise entstanden.
Ja, die Menschen waren im Irrenhaus Hitlers, dem Konzentrationslager, zum Rätsel in den Abgründen ihrer Seele geworden.
Das Möglichsein des Unmöglichsten, die Grenzenlosigkeit der pervers »wissenschaftlich« ausgedachten Methoden, machten so manche Schwächlinge toll. Der Selbsterhaltungstrieb, die Gier nach Leben, ließ wie aus einer Eiterwunde alle Instinkte stinkend fließen, peitschte sie zum Wahnsinn, bis zur Groteske. Einmal der Anfang gemacht, die Wirbelsäule des Charakters geknickt, versanken so manche bisher als anständige, brave Menschen gegoltene Geschöpfe in wilde Bestialität.
Hitler hatte sie mitschuldig gemacht, und wie in einem Morast glitten sie Schritt für Schritt tiefer, bis sie selbst erstickten. Nur so kann erklärt werden, daß eine Rachel, eine schöne Norwegerin, Frau eines deutschen Kommunisten, aus dem Kleiderhaufen der Neuangekommenen Spitzennachthemden herauszog oder mit einem schwarzen Taftkleid, mit Flitter benäht, sich stolz zeigte und dazu bemerkte, sie habe es genommen, um bei einem eventuellen Fest vortanzen zu können. Manche Frau nähte sich Lippenstifte in die Kleider ein, obwohl dafür 25 Schläge auf dem Bock befohlen waren. Eine junge Österreicherin, in der Arbeitsvermittlung beschäftigt, Jungkommunistin, spazierte in einem weißen Cape mit hohen Stöckelschuhen auf der Lagerstraße herum, um die Häftlinge einzufangen. Bei der Entlausung, angesichts der verstörten, nackten Frauen, setzte sich die kleine zarte Tschechin Margit auf den Tisch und spielte auf einer Gitarre, die sie unter den Kleidern gefunden hatte, sang ein sentimentales Liebeslied, begann plötzlich hellauf zu lachen und meinte: »Das ist die Revue der Girls des 20. Jahrhunderts.« Dieselbe Margit war es aber auch, die mit Lisa die halbtoten, von Läusen zerfressenen Frauen langsam unter eine warme Dusche trug und ihnen die Perücke von Läusen vorsichtig mit der Schere durchschnitt und gute warme Worte den Sterbenden sagte.
War es nicht Wahnsinn, daß die Zigeunermütter dem Versprechen der SS folgten, ihre Töchter kastrieren zu lassen, um frei zu werden, und gar nicht überrascht waren, als sie die armen mit elektrischem Strom verbrannten Dinger auf dem Boden vor Schmerzen sich wälzen sahen, jedoch von der Freiheit keine Rede mehr war?
War es nicht Wahnsinn, wenn die Frauen in den Krankenblöcken die Ärztin bestürmten, sie auf die Liste für das »Erholungsheim« zu setzen, obwohl sie in der Nacht von dem Gestank der verbrannten Knochen und Menschenfleisch nicht schlafen konnten, die Flammen des Krematoriums wie das ewige Licht der unbekannten Freiheitskämpfer in den Himmel züngelten? Natürlich wußten sie, daß die Liste Gastod bedeutete, und waren in der wahnsinnigen Angst doch bereit, alles zu glauben. Auch ein Erholungsheim.
Wahnsinn war es, wenn die Saarländerin Lenchen, die ihr Leben tollkühn eingesetzt hatte, um drei vom Kommandanten gesuchte österreichische Genossen in Strohsäcke einzunähen, einige Tage vor der Befreiung der Vorladung zum Hinrichtungskommando Folge leistete und nicht mehr wiederkam.
Wie kann man erklären, daß die Rotarmistinnen im Lager Banden bildeten und in der Dunkelheit die Kesselkolonne überfielen, das Essen für eine Baracke wegrissen, um es zu den ihrigen zu bringen, daß eine Komsomolzin, Studentin und Offizier der Roten Armee, in der Entlausung die nackten Frauen schlug und, während diese noch zitternd auf den Hockern saßen, mit deren Kleidern und Schuhen wie auf dem Korso sich herumdrehte? Als Lisa ihr sagte, daß so etwas für einen Sowjetmenschen eine Schande sei, antwortete die Russin höhnisch: »Ty Germanka!«.
Ja, es war das Irrenhaus. Vor den Baracken, in denen Menschen zu Staub zerfielen, von Läusen zerbissen wurden, waren von der SS Blümchen gepflanzt worden, und wehe der Frau, die in dem Gedränge hineingestoßen wurde und etwas Gras zertrat. In allen Arten wurde gemordet. Doch zu Weihnachten stand eine riesige Tanne auf dem Lagerplatz, die wohl Friede den Menschen wünschen sollte.
Diesem von Himmler methodisch gezüchteten Wahnsinn, dem Morden der Seele verfielen nur die Schwächlinge, die um jeden Preis Lebensgierigen. Die anderen wurden zu Propheten, zu reinsten Menschen, blieben Kommunistinnen.
Solche gab es viele. Einfache, ganz bescheidene Frauen stahlen Essen für die Kranken und blieben selbst hungrig, versteckten alte Mütter vor dem Gas, in Kästen und Strohsäcken, fälschten die Nummern und machten aus Lebendigen Tote, um sie der Kontrolle zu entziehen, schnitten bei Kerzenlicht drei von Auschwitz gekommenen Genossinnen die im Arm eingebrannten Nummern heraus, um sie als Französinnen in einen Transport zu schieben und ihnen so das Leben zu retten, blieben selbst im Lager, als die Möglichkeit bestand, sich mit falschem Namen in einen schwedischen Roten-Kreuz-Transport zu schwindeln, und schickten andere aus dem Lager.
So ein einfacher Mensch und Held war die kleine Mitzerl aus Wien. Ein Arbeitermädel, das in seiner Kindheit nichts als dunkelstes Elend gekannt und wegen ihrer tuberkulös verkrüppelten Wirbelsäule drei Jahre in Gips gelegen hatte. Fünf Jahre war sie schon in Ravensbrück und war trotz allem nicht nur ein Mensch mit warmem Herzen geblieben, sondern half allen anderen mit Einsatz ihres eigenen Lebens, nur nicht sich selbst.
Als im April 1945 zwischen Himmler und dem Grafen Bernadotte ein Abkommen getroffen wurde, alle ausländischen Frauen dem Roten Kreuz zu übergeben, und der Befehl kam, die deutschen und österreichischen politischen Frauen zu isolieren, um sie beim Nähern der alliierten Truppen zu massakrieren oder in die Luft zu sprengen, hatte die Gruppe der Kommunistinnen beschlossen, die am meisten Gefährdeten als Französinnen in einen Transport nach Schweden zu schwindeln. Da war es Mitzi, die in der Arbeitsvermittlung die Kartothek fälschte, fünf Genossinnen, darunter auch Lisa, mit falschem Namen in einen Transport schob.
Unvergeßlich, als eine nicht beglichene Schuld, bleibt Lisa der letzte Abend im Lager. Es regnete in Strömen. Eine dunkle Nacht lag über den Baracken, in denen die Frauen an ihr Schicksal dachten. Wird die Befreiung oder eine Metzelei kommen? Wird das Leben beginnen oder ein Blutbad allen Hoffnungen ein Ende bereiten? Draußen auf der Lagerstraße standen die Französinnen und warteten auf die Ankunft des Grafen Bernadotte. Unter ihnen auch die österreichischen Genossinnen und mit ihnen Lisa. Ganz ruhig und heiter, als ob es die natürlichste Sache wäre, im Lager zu bleiben, stand das kleine Ding, das Mitzerl, da, naß wie ein Pudel, und wartete, bis die durch sie in die Freiheit Geschickten das Lager verlassen würden. Eine einfache kleine Frau war zu einem Helden geworden.
Der in Buchenwald umgekommene junge österreichische Dichter Jura Soyfer wußte, was er sagen wollte, als er in einem Gedicht schrieb: »Sei Mensch, Kamerad, bleib Mensch, Kamerad …«
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Lisa Gavric (1907-1974) – österreichische Kommunistin, ging 1936 als Sanitäterin zu den Interbrigaden nach Spanien, anschließend Widerstandskampf in Frankreich und in Österreich, dort verhaftet und ins KZ Ravensbrück verbracht. Nach dem Krieg lebte sie in Jugoslawien.