Publikation Ungleichheit / Soziale Kämpfe - Staat / Demokratie - Gesellschaftstheorie - Wirtschafts- / Sozialpolitik Gibt es einen Ausweg aus der Massenarbeitslosigkeit?

Utopie Kreativ Heft 115-116 Mai-Juni 2000

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Zeitschrift «Utopie Kreativ» (Archiv)

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Mai 2000

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UTOPIE kreativ, H. 115/116

(Mai/Juni 2000),

S. 454-462Seit Ende der siebziger Jahre nimmt die Arbeitslosigkeit in der BRD stetig zu. Inzwischen hat sie den Charakter von Massenarbeitslosigkeit angenommen. Diese Entwicklung ist tendenziell in allen kapitalistisch dominierten Ländern in etwa gleich, auch wenn sich durch unterschiedliche statistische Erfassungen oder als Folge des Gewichts irregulärer Beschäftigungsarten (zum Beispiel Teilzeitbeschäftigungen und Billigjobs) oder durch unterschiedlich starke Einschnitte ins soziale Netz in einigen Ländern auf den ersten Blick ein anderes Bild ergibt.

Wie von einem unheilbaren Krebsgeschwür mit seinen zerstörerischen Auswirkungen sind Wirtschaft und staatliche Ordnung – die Gesellschaft überhaupt – zunehmend betroffen. Was Arbeitslosigkeit für den einzelnen bedeutet, kann nur derjenige ermessen, der selbst davon betroffen ist oder dies längere Zeit war. Trotz aller Versprechen von Regierung und Parteien, einen entschlossenen und erfolgreichen Kampf gegen die Arbeitslosigkeit zu führen, hat sich bisher keine der angepriesenen oder angedachten Maßnahmen als geeignet und wirkungsvoll erwiesen.

Die Verteilung der Arbeit als volkswirtschaftliches Organisationsproblem

Es darf nicht verwundern, wenn in einem von der Herrschaft des Geldes dominierten Wirtschaftssystem suggeriert wird, daß vor allem Einschnitte und Belastungen auf der Arbeitnehmerseite und Entlastungen auf der Kapitalseite als Wunderwaffe gegen Arbeitslosigkeit wirken würden. Dabei wird gegen alle Vernunft außer acht gelassen, daß Produktion, Kaufkraft, Steueraufkommen und Wirtschaftswachstum in unauflösbarem Zusammenhang miteinander verbunden sind (sogenannte Interdependenz). Sinkt – aus welchen Gründen auch immer – die Kaufkraft, hat dies unausweichlich Rückwirkungen auf das Steueraufkommen und die Angebotsseite der Wirtschaft. Wird die Massenarbeitslosigkeit nicht gebremst und tritt hier keine Umkehr ein, entwickelt sich ein Teufelskreis des allgemeinen Niedergangs, aus dem es im herrschenden kapitalistischen System offenbar keinen Ausweg gibt.

Wer näher hinschaut, stellt schnell fest, daß überall auf der Welt mit Zunahme der Arbeitslosigkeit gleichzeitig Verschuldung und Zinslasten von Staat, Wirtschaft und Privatpersonen in entsprechendem Verhältnis gestiegen sind. Die die gesamte Volks wirtschaft überziehenden Zinslasten engen die wirtschaftlichen Aktivitäten immer mehr ein mit der Folge weiter zunehmender Arbeitslosigkeit. Dies legt es nahe, in der mit dem Kapitalismus unlösbar verbundenen Kredit- und Zinswirtschaft die Wurzel aller wirtschaftlichen Übel und somit auch der Massenarbeitslosigkeit zu sehen.

Wenn Sozialismus – richtig verstanden – nichts anderes zum Ziele hat als soziale Gerechtigkeit für jedermann und hierfür die Abschaffung der Kredit- und Zinswirtschaft die unabdingbare Voraussetzung ist, dann ist mit diesem Systemwechsel auch der Weg für die Beseitigung der Arbeitslosigkeit geöffnet. Die Verteilung der Arbeit auf alle erwerbsfähigen Personen ist dann nur noch ein volkswirtschaftliches Organisationsproblem.

Volkswirtschaftliches Gleichgewicht ist nur zu erreichen, wenn – grob gesagt – Produktion und Kaufkraft wertmäßig einander die Waage halten. Im kapitalistischen System ist dieses Ziel aus systembedingten Gründen nicht mehr zu erreichen, wenn die Zinsforderungen durch Wirtschaftswachstum nicht mehr ausgeglichen werden können (vgl. UTOPIE kreativ, Heft 52, S. 42). Obwohl an der Richtigkeit dieser Aussage nicht gezweifelt werden kann, streiten sich weiterhin Verfechter der Angebots- bzw. der Nachfragetheorie darüber, ob zur Wiederherstellung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts wie zur Beseitigung der Massenarbeitslosigkeit in erster Linie die Kapitalbasis der Produktion oder die Nachfrage durch entsprechende Maßnahmen zu stärken sei. Bewußt außer Betracht gelassen wird dabei, daß in Wirklichkeit die die Volkswirtschaft überziehenden Zinslasten der unüberwindliche Störenfried sind, wodurch eine Wiederherstellung volkswirtschaftlichen Gleichgewichts dauerhaft verhindert wird. Dies bedeutet für die Massenarbeitslosigkeit, daß, weil unvermeidliche Folge des kapitalistischen Systems, es in diesem System keinen Weg zu ihrer Beseitigung gibt.

Dessenungeachtet weisen die Betreiber des Systems die eigene Verantwortung für den wirtschaftlichen Niedergang und die Massenarbeitslosigkeit in erster Linie immer wieder mit dem Argument zurück, ›Arbeit‹ sei zu teuer, die Lohnkosten müßten sinken. Diese auf betriebswirtschaftliche Vorteile reduzierte Sichtweise erweist sich gesamtwirtschaftlich als falsch, irreführend und verhängnisvoll.

Niemand wird ernsthaft bestreiten wollen, daß ausreichend qualifizierte Arbeitskräfte und ausreichend verfügbare natürliche Reichtümer in der Lage sind, allgemeinen Wohlstand zu begründen, wenn sie organisatorisch optimal zusammen gebracht werden. Die Apologeten der ›freien Marktwirtschaft‹ halten dennoch mit dem Hinweis auf die sich vermeintlich dadurch ergebende höhere Effektivität ertragbringendes Geldkapital als wesentliches Funk tionselement, über das die Verbindung von Arbeit und Rohstoffen bewerkstelligt werden soll, für unerläßlich. Dies führt zu der Frage, wie die Welt der Wirtschaft ohne ertragbringendes, alle ihre Bereiche wie eine Krake überziehendes Geldkapital aussehen würde. Auch unter derartigen Verhältnissen würde niemand seine Arbeitskraft zur Verfügung stellen, wenn er dafür kein angemessenes Äquivalent erhalten würde.

Am Beginn der arbeitsteiligen Wirtschaft stand der Tauschhandel: Ware gegen Ware oder Ware gegen Arbeitskraft. Indem den zum Tausch bereitgestellten Gütern im Laufe der Zeit ein bezifferbarer Wert – Geld genannt – beigemessen wurde, konnte das diesen Wert repräsentierende Geld seine bis heute andauernde Funktion als Tausch- und Zirkulationsmittel übernehmen. Geld als Tauschmittel unterscheidet sich grundlegend vom gleichgenannten Begriff des »Geldes«, soweit darunter die ertragbringende Kapitalanlage (Geldkapital) verstanden wird. »Geld« in diesem Sinne ist untrennbar mit Kredit und Zins verbunden. Und genau diese Form der Geldwirtschaft gilt es zu überwinden. Die Funktion des Geldes als Tausch- bzw. Zirkulationsmittel muß selbstverständlich erhalten bleiben. Die Abschaffung der Kredit- und Zinswirtschaft ist deshalb nicht gleichbedeutend mit einer Rückkehr zur Naturalwirtschaft und der Abschaffung der Geldwirtschaft überhaupt.

Soll gesamtwirtschaftliches Gleichgewicht erreicht und erhalten werden, muß die Summe der auf der Produktionsseite erzielten Warenerlöse mit den Konsumausgaben auf der Verbraucherseite übereinstimmen, wobei ein Teil des Verbrauchs produktive Konsumtion (Ersatz der verbrauchten Produktionsmittel und investive Erweiterung der Produktion) darstellt. Die Höhe der Löhne und Gehälter bestimmt den Umfang des Verbrauchs. Gehen bei gleichbleibendem Preisniveau Löhne und Gehälter zurück oder werden die darauf ruhenden Zinslasten durch Einkommenserhöhungen nicht ausgeglichen, sinkt auch die Nachfrage mit der Folge einer geringeren Auslastung der Produktionskapazitäten. Damit geht zwangsläufig auch das Sozialprodukt zurück. Für das kapitalistische Wirtschaftssystem bedeutet es unausweichlich wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und staatlichen Verfall, wenn die als Folge der Zinswirtschaft erforderlichen gesamtwirtschaftlichen Wachstumsraten nicht mehr erreicht werden und dadurch das gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht dauerhaft gestört wird. Dies ist der wahre Hintergrund für die derzeit zunehmende Massenarbeitslosigkeit. Lohnabbau und Einschnitte ins soziale Netz vermögen an dieser Entwicklung nichts zu ändern. Im Gegenteil, derartige Maßnahmen sind Kennzeichen anhaltenden gesamtwirtschaftlichen Verfalls, der dadurch weder aufgehalten wird noch aufgehalten werden kann.

Ein auf Abschaffung der Kredit- und Zinswirtschaft beruhendes sozialistisches Wirtschaftssystem (vgl. hierzu UTOPIE kreativ, Heft 105, S. 27 – 41) ist demgegenüber in seinem Bestand wachstumsunabhängig. Gehen – aus welchen Gründen auch immer – Konjunktur und Sozialprodukt zurück, können zur Wiederherstellung des wirtschaftlichen Gleichgewichts die Löhne, auch in Form einer Verkürzung der Arbeitszeit, zurückgenommen werden, ohne daß die Gesamtzahl der Beschäftigten verändert werden muß. Dasselbe Ziel wäre auch auf dem Wege zu erreichen, daß einer Erhöhung der Preise kein entsprechender Lohnzuwachs folgt. Dies wäre eine Verfahrensweise, die relativ leicht zu praktizieren ist. Anders als im kapitalistischen System ist hier eine solche Operation geeignet, das verlorene Gleichgewicht wieder herzustellen, weil keine wachstumsmindernden Zinslasten den konjunkturellen Abschwung beschleunigen.

Entscheidend bleibt immer, daß unter Berücksichtigung der jeweiligen gesamtwirtschaftlichen Lage bei voller Wahrung der Lohngerechtigkeit ein ausgewogenes Verhältnis von Löhnen und Preisen herbeigeführt wird. Wird so vorgegangen, ist Vollbeschäftigung im sozialistischen System in erster Linie nur noch eine Frage der Arbeitsverteilung und des Arbeitseinsatzes. Je höher der Arbeitskräftebedarf zur Erreichung des angestrebten allgemeinen Wohlstands, desto höher bei gleichmäßiger Arbeitsverteilung die erforderliche Arbeitsbelastung eines jeden Arbeitnehmers.

Im kapitalistischen Wirtschaftssystem betrifft ein Konjunktureinbruch meistens zunächst nicht die gesamte Volkswirtschaft, sondern in unterschiedlichem Maße einzelne Produktionsbereiche, was am Ende die übrige Volkswirtschaft, neben den dadurch verursachten großen materiellen Schäden, insbesondere auch die Zahl der Beschäftigten nicht unberührt läßt. Ursache hierfür sind vielfach aus betrieblichem Eigennutz, Überschätzung der eigenen wirtschaftlichen Kräfte und Fehleinschätzung der mittel- und längerfristig zu erwartenden Marktlage entstandene Überkapazitäten.

Solchen Entwicklungen vorzubeugen, ist nur mit einer volkswirtschaftlich abgestimmten Globalsteuerung möglich, wie sie dem sozialistischen Wirtschaftssystem eigen ist oder sein sollte. Sofern Überkapazitäten drohen – und dies ist in aller Regel schon länger vorhersehbar –, kann mit vorausschauender Planung und notfalls mit einem volkswirtschaftlich organisierten Umbau der Produktionsstruktur – wie schwierig dieser auch sein mag – Konjunktureinbrüchen dieser Art vorgebeugt werden, wie sie zur Zeit wieder einmal dem Automobilbau und der Bauwirtschaft drohen.

Führt bei Vollbeschäftigung die Beschäftigung aller Arbeitnehmer zu gesamtwirtschaftlichem Wachstum, hat dies bei gerechter Verteilung von Arbeit und Löhnen größeren Wohlstand für jedermann zur Folge. Ist der angestrebte Wohlstand erreicht, bedarf es nur noch der Arbeitsleistung, die zur Erhaltung des allgemeinen Wohlstands erforderlich ist. Hier wird ein gravierender Unterschied zum herrschenden kapitalistischen Finanzierungs- und Wirtschaftsmodell sichtbar, wo selbst nicht unerhebliche Wachstumsraten, sofern sie – wie in der BRD seit langem – die Zinslasten nicht ausgleichen, zu Einkommenseinbußen für breite Massen führen, statt den allgemeinen Wohlstand zu mehren.

Im Gegensatz zum kapitalistischen System, das auf die Wunderwirkung und die Selbstheilungskräfte des Marktes vertraut und von ihnen – bisher allerdings ohne jeden Erfolg – auch eine Lösung der Arbeitsmarktprobleme erwartet, ist die Regulierung des Arbeitsmarktes in einem sozialistischen System ein volkswirtschaftliches Organisationsproblem. Ein Brachliegen von Arbeitskräften (Arbeitslosigkeit) kann es bei richtig gelenkter Arbeitsverteilung nicht geben.

In diesem, auf der Abschaffung von Kredit- und Zinswirtschaft beruhenden System hängt die richtig bemessene Lohnhöhe allein von der Höhe und dem Wert der Produktion und damit des erwirtschafteten Sozialproduktes ab. Produktionsseite (Warenangebot) und Kaufkraft (Nachfrage) müssen ausgeglichen sein. Das je- weils produzierte Warenangebot und sein Preis bestimmen die Lohnhöhe. Die insgesamt erwirtschaftete Kaufkraft ist auf die Gesamtheit der erwerbsfähigen und arbeitswilligen sowie der wegen Krankheit oder Alter aus dem Berufsleben ausgeschiedenen Bevölkerung und die noch nicht arbeitsfähigen und in Ausbildung befindlichen Bevölkerungsgruppen zu verteilen. Jeder Produktivitätszuwachs, sofern er nicht zur Senkung der Arbeitszeit genutzt wird, führt zu höherem allgemeinen Wohlstand. Reicht dieser aus und soll er zur Schonung von natürlichen Reichtümern und Umwelt nicht erhöht werden, muß jeder Produktivitätszuwachs zu verminderter Arbeitszeit bei bisheriger Lohnhöhe führen.

In der aktuellen Verfallsphase des kapitalistischen Systems wird von verschiedenster Seite ebenfalls eine Neuverteilung der Arbeit gefordert – wie etwa Abbau von Überstunden und Ausdehnung der Teilzeitbeschäftigung. Es trifft zwar zu, daß Vollbeschäftigung in erster Linie eine Frage der Arbeitsverteilung ist. Dies gilt aber nur für ein stabiles Wirtschaftssystem. Wenn, wie derzeit, die die kapitalistischen Volkswirtschaften überziehenden Zinslasten durch Wirtschaftswachstum nicht mehr kompensiert werden, produziert dies immer neue Ungleichgewichte. Eine Umverteilung der Arbeit würde hieran nichts ändern. Sie wäre nichts als aktionistische Schönfärberei. Der Verfall der Volkswirtschaft würde anhalten und immer neue Arbeitskräfte würden freigesetzt.

Wenn es im kapitalistischen System zu Massenentlassungen kommt, stehen im Hintergrund vielfach Rationalisierungsmaßnahmen, die mit dem Ziel der Senkung von Lohnkosten einzelbetrieblichen Gewinn versprechen. Für die Volkswirtschaft insgesamt kann jedoch durch betriebswirtschaftlich sinnvolle Rationalisierungsmaßnahmen – und das müßte das eigentliche Ziel sein – ein wirtschaftlicher Gewinn nur dann erzielt werden, wenn es gelingt, frei werdende Arbeitskräfte ohne finanzielle Belastung für die Gemeinschaft produktiv an anderer Stelle einzusetzen. Die mit Rationalisierungsmaßnahmen angestrebte Erhöhung der Produktivität darf nie ausschließlich einzelbetriebliche Vorteile zum Ziele haben, sondern muß immer auch das gesamtwirtschaftliche Wohl im Auge behalten.

Die Entscheidung hierüber darf deshalb nicht dem Belieben der Unternehmen überlassen sein, wenn die gesamtwirtschaftliche Stabilität gewährleistet bleiben soll.

In der freien Marktwirtschaft gilt das freie Spiel der Kräfte, das von den Gewinnerwartungen der Einzelunternehmen angetrieben wird. Die Kräfte des Marktes sollen alle wirtschaftlichen Aktivitäten zum allgemeinen Wohl von sich aus richten. In der Realität ist von Beachtung des Gemeinwohls wenig zu spüren.

»Deregulierung« heißt das Zauberwort für die Befreiung von staatlicher Einflußnahme und Bevormundung. Gewinnerzielung um jeden Preis wird zum Credo für das betriebliche Überleben, wenn die Gewinnmarge immer kleiner wird. Rücksichten auf das Gemeinwohl geraten ins Hintertreffen. Rationalisierung zum Zwecke der Gewinnverbesserung heißt deshalb im Kapitalismus auch immer Freisetzung von Arbeitskräften zu Lasten der Gemeinschaft, wenn ausreichendes Wachstum für neue Beschäftigungsmöglichkeiten fehlt.

Dienstleistungsgesellschaft und Massenarbeitslosigkeit

Wenn es um die Bekämpfung von Arbeitslosigkeit geht, wird immer wieder die Ausweitung des Dienstleistungsbereichs als eine wichtige Lösungsmöglichkeit angesehen. Dabei wird übersehen, daß zwischen Dienstleistungsbereich und wirtschaftlichem Wachstum ökonomische Gesetzmäßigkeiten bestehen, die dem Abbau von Arbeitslosigkeit von vornherein Grenzen setzen. Es bleibt dabei unbestritten, daß der Dienstleistungsbereich innerhalb jeder Volkswirtschaft eine wichtige Rolle spielt und viele Dienstleistungen auch im Interesse des Gemeinwohls eine Ausweitung vertragen.

Dem Dienstleistungsbereich zuzurechnen sind alle privaten wie auch öffentlichen Leistungen und Tätigkeiten, die nicht der unmittelbaren Gütererzeugung dienen. Es ist an Hand statistischer Zahlen leicht nachzuweisen, daß im Laufe der volkswirtschaftlichen Entwicklung die Zahl der Beschäftigten im Dienstleistungsbereich immer stärker angestiegen ist, während, vor allem in den letzten Jahrzehnten, die Zahl der Beschäftigten im produzierenden Gewerbe und in der Landwirtschaft drastisch zurückging. Von vielen Politikern und Ökonomen wird diese Entwicklung positiv bewertet, weil damit der Anschein erweckt wird, als ob mit dem Aufbau einer Dienstleistungsgesellschaft das brennende Problem der Arbeitslosigkeit gelöst werden könne. Bei näherer Betrachtung erweist sich diese Annahme als irrig, ja im Gegenteil als geeignet, den weiteren Verfall der Volkswirtschaft zu fördern.

Wer im Dienstleistungsbereich tätig ist, muß von den Gütern mitversorgt werden, die die unmittelbar im Produktionsprozeß Beschäftigten erzeugen und zum Verbrauch bereitstellen. Anders formuliert heißt dies, daß der Dienstleistungsbereich vom Produktionsbereich alimentiert wird. Ohne ausreichende Gütererzeugung fehlen die materiellen Voraussetzungen für jede Form von Dienstleistung.

Diese Gesetzmäßigkeit hat zwangsläufig bedeutsame Auswirkungen auf die Höhe von Löhnen und Sozialleistungen. Die vom Produktionsbereich bereitgestellten Güter müssen auf die im Dienstleistungsbereich Beschäftigten mitverteilt werden. Je größer die Zahl der im Dienstleistungsbereich Beschäftigten und je größer die darauf entfallenden Aufwendungen, desto geringer der verbleibende Anteil für jeden einzelnen der übrigen Gesamtbevölkerung. Der Anteil des einzelnen an der Gesamtkaufkraft geht zurück, es sei denn, die Güterproduktion und die daraus fließenden Einkommen wachsen im gleichen Zeitraum entsprechend. Je größer die Gesamtaufwendungen für den Dienstleistungsbereich, desto mehr werden die die Kaufkraft widerspiegelnden Reallöhne der im Produktionsbereich Beschäftigten wie auch die Sozialleistungen negativ betroffen. Sie müssen zwangsläufig entsprechend zurückgehen.

Weil dies so ist, darf nie übersehen werden, daß jede Ausweitung des Dienstleistungsbereichs ohne entsprechendes und gleichzeitiges durch Ausweitung des Produktionsbereichs erzeugtes Wirtschaftswachstum einen Rückgang der auf jeden einzelnen entfallenden Kaufkraft nach sich zieht. Dies gilt in gleichem Maße für die kapitalistische wie die wachstumsunabhängige sozialistische Wirtschaftsordnung. Geht die Güterproduktion zurück und sollen Löhne und Sozialleistungen nicht überproportional zurückgehen, muß notwendigerweise der Dienstleistungsbereich in gleichem Umfang wie die Güterproduktion zurückgenommen werden. Damit ergibt sich für jede Wirtschaftsordnung das unverzichtbare Gebot, daß der Dienstleistungsbereich nicht hemmungslos und unkontrolliert ausgeweitet werden darf. Er kann ohne negative gesamtwirtschaftliche Rückwirkungen, insbesondere auf Löhne und Sozialleistungen, immer nur soweit bestehen oder ausgeweitet werden, wie die Alimentierung durch den Produktionsbereich ohne Benachteiligung der in diesem Bereich beschäftigten Arbeitnehmer ausreicht. In jeder Gesellschaft gibt es eine Vielzahl für das Leben des einzelnen und das Gemeinschaftsleben notwendiger und unverzichtbarer Dienstleistungen, die um jeden Preis erbracht werden müssen (z.B. Kindererziehung, medizinische Versorgung, Altenpflege, Schul- und Berufsausbildung, Verkehrs-, Post- und Fernmeldewesen, kulturelle Aktivitäten). Dies nötigt dazu, wie die Güterproduktion so auch den Dienstleistungsbereich vorrangig am Gebot der Sozialnützlichkeit auszurichten und auf sozial unnütze Dienstleistungen (z.B. Bank-, Kredit- und auf Kapitalansammlung ausgerichtetes Versicherungswesen, übertriebene Werbung) weitgehend zu verzichten. Ein auf einem verkümmernden Güterproduktionsbereich aufbauender und sich hemmungslos immer mehr ausweitender Dienstleistungsbereich befördert unausweichlich den gesamtwirtschaftlichen Verfall. Unnütze und übersteigerte Dienstleistungen sind sozialschädlich, weil sie Löhne und Sozialleistungen ohne sozialen Nutzen mindern. Wer dennoch eine solche Entwicklung zuläßt und fördert, ist einem verhängnisvollen Irrglauben erlegen, unter dem am Ende die gesamte Bevölkerung leiden muß.

Dies sollte auch immer im Auge behalten, wer eine sich immer mehr ausweitende Informationsgesellschaft anpeilt. Für die meisten der in diesem Wirtschaftszweig tätigen Unternehmer geht es nicht so sehr um die den Produktionsbereich betreffende Herstellung und Bereitstellung der hierfür benötigten technischen Geräte und Einrichtungen, sondern um deren Verwendung als Dienstleistungsangebot. Wenn daraus kein langfristiger volkswirtschaftlicher Schaden entstehen soll, müssen die gesamtwirtschaftlichen Vor- und Nachteile vor der weiteren Ausweitung dieses Bereichs sorgfältig gegeneinander abgewogen werden, wobei selbst vor notwendigen Einschränkungen nicht zurückgeschreckt werden darf.

In einer »regulierten« Wirtschaft, wie sie für eine sozialistische Gesellschaft charakteristisch wäre, können derartige Lenkungsmaßnahmen so geplant und in den allgemeinen Wirtschaftsablauf eingebunden werden, daß sie das Wohl des Einzelbetriebes fördern, ohne gleichzeitig gesamtwirtschaftlichen Schaden anzurichten. Dies setzt in allen wirtschaftlichen Bereichen eine umfassende Technikfolgenabschätzung voraus – nicht nur unter dem Blickwinkel der Beschäftigungssicherung, sondern auch in bezug auf Umwelt- und Ressourcenschutz, Abfallvermeidung, Gentechnik etc.

Da die Einführung neuer Techniken im allgemeinen mit hohen finanziellen Aufwendungen verbunden ist, bedarf es hier im Interesse des Gemeinwohls stets einer sorgfältigen Prüfung und Abwägung, ob Aufwand und Nutzen längerfristig in angemessenem Verhältnis zueinander stehen. Das Gerangel um den »Transrapid« führt diese Notwendigkeit deutlich vor Augen. Die Beachtung des Gebots der Sozialnützlichkeit und -verträglichkeit hat oberste Priorität. Für eine zu institutionalisierende Technikfolgenabschätzung ergibt sich also ein wichtiges, bisher vernachlässigtes Aufgabenfeld.

Zur Vollbeschäftigung gehört auch, daß sich die Beschäftigung wegen vermeintlicher Standortvorteile nicht auf Ballungsräume konzentrieren darf. Alle größeren Volkswirtschaften haben mit dem Problem zu kämpfen, daß in den einzelnen Regionen unterschiedliche wirtschaftliche Bedingungen bestehen. Es ist kein Zufall, wenn von Ballungsgebieten und weniger besiedelten bzw. weniger entwickelten Gebieten gesprochen wird. Die daraus für die Gesamtwirtschaft und Gesellschaft sich ergebenden Probleme sind bekannt. Ziel der volkswirtschaftlichen Planung muß es sein, die schwächer entwickelten Gebiete an das allgemeine Wirtschaftsniveau heranzuführen. Viele moderne Techniken sind weitgehend standortunabhängig. Unter diesem Gesichtspunkt ist es heute wie zu keiner Zeit vorher möglich, schwächer entwickelte Gebiete relativ schnell auf ein höheres Niveau anzuheben.

Im sozialistischen Wirtschaftssystem wird dieses gesamtwirtschaftlich und gesellschaftspolitisch wichtige Ziel viel leichter zu erreichen sein als im bisherigen System, wo der schwer zu überwindende Egoismus der Einzelunternehmen und der Regionen eine hohe Hürde darstellt (siehe hierzu in neuester Zeit auch die Diskussion um den Finanzausgleich der Länder als schlimmes Beispiel staatlicher Entsolidarisierung). Eine sozialistische Wirtschaftsordnung ist in der Lage, im Rahmen der gegebenen ökonomischen Möglichkeiten überall auf der Welt und in allen Regionen für Vollbeschäftigung und allgemeinen Wohlstand zu sorgen.

Voraussetzung hierfür ist allerdings, daß nicht erneut ein Kalter Krieg der Systeme wie nach dem Zweiten Weltkrieg die weltweite Entwicklung sozialistischer Gesellschaften behindert oder gar verhindert. Hegemoniale Ansprüche einzelner Großmächte und der von ihnen repräsentierten Systeme sind der Feind allen weltweiten zivilisatorischen Fortschritts, wie Gegenwart und jüngste Vergangenheit vor dem Hintergrund wachsender Armut und gesellschaftlichen Verfalls in vielen Regionen der Erde beweisen. Wegen der dem Kapitalismus eigenen Zins- bzw. Wachstumsproblematik, die den Zusammenbruch dieses Systems auf Dauer unausweichlich macht, gibt es zum Sozialismus keine Alternative, wenn das Überleben der Menschheit in Frieden, Freiheit und sozialer Gerechtigkeit gewährleistet sein soll. Werden Vernunft und Einsichten in die Bedürfnisse der Erde und ihrer Menschen am Ende gegenüber dem tief eingewurzelten Eigennutz und der daraus resultierenden politischen Unvernunft die Oberhand gewinnen?

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Herbert Niemann – Jg. 1924; Jurist, war langjährig in der Sozialversicherung tätig, veröffentlichte zuletzt in »UTOPIE kreativ«, Heft 105 (Juli 1999): »Kapitalismus weltweit in Schwierigkeiten – Was nun?«.

 

»Die wachsende Polarisierung zwischen Arbeitseinkommen und Einkünften aus Unternehmertätigkeit und Vermögen stellt mit der Zerstörung des Normalarbeitsverhältnisses und der Expansion der prekären Beschäftigungsverhältnisse die Stabilität des kapitalistischen Gesamtreproduktionsprozesses selbst in Frage. Weil in allen kapitalistischen Hauptländern mit relativ wenig lebendiger Arbeit ein sehr hohes Bruttoinlandsprodukt erzeugt werden kann, partizipieren die Arbeitseinkommen immer weniger an der Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums.«
Jochim Bischoff: Strategien für das 21. Jahrhundert, in: Joachim Bischoff, Christoph Lieber, Klaus Steinitz, Michael Wendel: Zukunftsstrategien? Kritik neoliberaler und sozialdemokratischer Politikkonzeptionen, Supplement der Zeitschrift Sozialismus, 11/98, S. 9f.

»Der grundlegende Fehler der Niedriglohn-These besteht in der völligen Abstraktion von den makroökonomischen Rahmenbedingungen. Außerhalb dieser Kunstwelt spricht nichts für diese Hoffnungen. Zunehmend werden Gewinne nicht realwirtschaftlich und im Binnenmarkt angelegt, und zunehmend überwiegen Rationalisierungs- die Erweiterungsinvestitionen. In einem geringen Umfang können sinkende Niedriglöhne die Substitution von Arbeitskräften durch Kapital abbremsen, um den Preis einer gesamtwirtschaftlich verlangsamten Produktivitätssteigerung.«
Michael Wendel: Der Niedriglohnsektor, in: Joachim Bischoff, Christoph Lieber, Klaus Steinitz, Michael Wendel: Zukunftsstrategien? Kritik neoliberaler und sozialdemokratischer Politikkonzeptionen, Supplement der Zeitschrift Sozialismus, 11/98, S. 33.

»Das Kreditgeld entspringt unmittelbar aus der Funktion des Geldes als Zahlungsmittel, indem Schuldzertifikate für die verkauften Waren selbst wieder zur Übertragung der Schuldforderungen zirkulieren. Andrerseits, wie sich das Kreditwesen ausdehnt, so die Funktion des Geldes als Zahlungsmittel. Als solches erhält es eigne Existenzformen, worin es die Sphäre der großen Handelstransaktionen behaust, während die Gold- oder Silbermünze hauptsächlich in die Sphäre des Kleinhandels zurückgedrängt wird.«
Karl Marx: Das Kapital. Erster Band, in: MEW, Bd. 23, S. 153f.

»Der Kern des Problems sowie der Gegenstand des Hauptkonflikts lassen sich in folgende Alternativen fassen: Entweder integriert man die Arbeit in die Multiaktivität als eines ihrer Bestandteile oder die Multiaktivität in die ›Arbeit‹ als eine ihrer Erscheinungsformen. Entweder integriert man die Arbeitszeit in die differenzierte Zeitlichkeit eines multidimensionalen Lebens in Übereinstimmung mit den herrschenden kulturellen Bestrebungen, oder man unterwirft die Lebenszeiten und -rhythmen den Rentabilitätsansprüchen des Kapitals und den ›Flexibilitäts‹ansprüchen des Unternehmens. Kurz, entweder erobern die lebendigen Aktivitäten die Macht über den gesellschaftlichen Produktionsapparat und -prozeß zurück, oder sie lassen sich von jenen immer umfassender unterwerfen.«
André Gorz: Arbeit zwischen Misere und Utopie, Frankfurt/M. 2000, S. 103f.

»Das neoliberale Projekt einer Standortpolitik bezweckt eine Neuverteilung von Reichtum, Macht und Lebenschancen. Es versteht Globalisierung als ›Gegenreform‹ (Huffschmid), als Restauration des Kapitalismus vor John Meynard Keynes. Was als ›Modernisierung‹ klassifiziert wird, ist teils nur die Rücknahme demokratischer und sozialer Reformen bzw. Regulierungsmaßnahmen, mit denen die Staaten das Kapital einer gewissen Kontrolle unterwarfen. Es geht um die Ökonomisierung (fast) aller Gesellschaftsbereiche, deren Restrukturierung nach dem privatkapitalistischen Marktmodell und die Generalisierung seiner betriebswirtschaftlichen Effizienzkriterien und Konkurrenzmechanismen.«
Christoph Butterwegge: Globalisierung, Standortnationalismus und Sozialstaat, in: Widerspruch, Nr. 38 (Dezember 1999/Januar 2000), S. 74.

»Der höhere Anteil industrieller Tätigkeiten in Westdeutschland ist auf den hohen Exportüberschuß zurückzuführen. Im Unterschied zu den USA und anderen Ländern wird in Westdeutschland wegen des strukturellen Außenhandelsbilanzüberschusses für andere Länder industriell mitproduziert.
In den meisten Analysen des Dienstleistungsanteils und der Lohnspreizung zwischen den oberen und den niedrigsten Arbeitseinkommen in Deutschland wird von den sozialversicherungspflichtigen Beschäftigten ausgegangen und die geringfügig Beschäftigten, die Beamten sowie die selbständig Beschäftigten nicht erfaßt. Dies führt zwangsläufig zu Fehlern im Vergleich mit den USA...«
Michael Wendel: Der Niedriglohnsektor, in: Joachim Bischoff, Christoph Lieber, Klaus Steinitz, Michael Wendel: Zukunftsstrategien? Kritik neoliberaler und sozialdemokratischer Politikkonzeptionen, Supplement der Zeitschrift Sozialismus, 11/98, S. 27.

»Die Analyse der warenförmigen Beziehungen, die sich auf die Verlangsamung von Arbeitskräftezahlen und der Produktion in der Industrie ... und die Beschleunigung des Dienstleistungssektors beschränkt, spart die Ambivalenzen aus, die sich aus der massenhaften und beschleunigten Einbeziehung von Wissenschaft, Information, Kunst, Gesundheit in die Vermarktung ergeben. Die Perspektive des Dienstleistungsbereichs selbst steht wegen dieser Ambivalenzen auf tönernen Füßen. Dort wird sich der Konflikt zwischen den produktionsorientierten und denjenigen Dienstleistungen zuspitzen, welche der unmittelbaren Reproduktion des Lebens dienen.«
Anneliese Braun: Arbeit ohne Emanzipation und Emanzipation ohne Arbeit?, Berlin 1998, S. 79.

»Die wachsende Produktivität einer modernen Volkswirtschaft ist aber nicht nur auf die Ausweitung von Bildung und Wissenschaft angewiesen ... sondern auch auf die Intensivierung all jener Reproduktionsarbeiten, die das soziale Ganze erhalten: Soziale Daseinsvorsorge, Bereitstellung von Beratung und Information für die Bewältigung von Alltagsproblemen, Serviceleistungen für die Selbstorganisationsstrukturen in Kultur und Freizeitgestaltung sowie unterstützende Dienste für Familien und Menschen in besonderen Notlagen sind für die gesellschaftliche Produktivität nicht weniger wichtig, als die Sorge um das materielle Produktionspotential.«
Harald Werner: Mehr als ein Beschäftigungsprogramm, in: Crossover (Hrsg.): Regionales Wirtschaften als linke Reformperspektive, Münster 2000, S. 54.