Publikation Staat / Demokratie - Gesellschaftstheorie - Globalisierung Menschenwürde, Armut und Befreiung

Utopie Kreativ Heft 119 September 2000

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Zeitschrift «Utopie Kreativ» (Archiv)

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September 2000

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UTOPIE kreativ, H. 119

(September 2000),

S. 853-864

Menschenwürde und Armut

Menschenwürde zählt unter die Begriffe, die sich gegen die Absicht sperren, sie in sauberen und handlichen Definitionen gleichsam einzufangen. Ihm haftet, wie allen, die sich auf menschliche Wirklichkeit historisch und konkret beziehen, notwendig etwas Unscharfes an.1 Ein Bild läßt sich nicht von ihr entwerfen, weil sie am ehesten noch konkret faßbar wird in ihren Verletzungen, in dem, was sie gerade nicht ist. Das rechtfertigt es, sich an dieser Stelle auf einige Hinweise zu beschränken, die freilich auf das Zentrum der Sache hinzeigen sollen.

Der Begriff der Menschenwürde bezeichnet die Erscheinung wie die Anerkennung der Autonomie und Integrität der Person. Von ihr geht Würde aus, und Würde kommt ihr zu. Es sollten die Menschen einander niemals als bloße Mittel gebrauchen, sondern jeden anderen, jede andere, als Zwecke für sich selbst anerkennen. So hat Kant dem Gedanken der persönlichen Freiheit die Form einer Maxime der Vernunft des praktischen Handelns gegeben.2 Demnach bezieht ein Mensch, der dem Wesen der Menschengattung entspricht, sich bewußt auf den Zusammenhang seiner Gaben, Fähigkeiten und Kräfte als Inbegriff seiner Person, und bestimmt selbst, diese Person und die sie ausmachenden Eigenarten zu sein und zu entfalten. Ist der Mensch derart sich selbst Zweck, so geht von ihm eine Aura aus und dazu wie selbstverständlich eine Forderung, so als Person anerkannt und geborgen zu sein, wie er andere Personen anerkennt und in seiner Sympathie birgt. Die Menschenwürde ist die Aura, in der die freie Selbstbestimmung der Person erscheint, und die immer schon in Geborgenheit bestätigte Forderung nach Anerkennung, von der die freie Person getragen wird. Diese Aura und jene Forderung machen die Würde des Menschen aus. Sie bestimmen auch sein Verhältnis zu sich selbst und geben ihm in dieser reflexiven Bewegung seine Ehre. Würde, so sehen wir bis hierher, ist strikt geforderte und verantwortlich gewährte Autonomie und freie Selbstbestimmung, innere Zweckhaftigkeit. Das führt zu der weiteren Bestimmung, sie sei unantastbar. Nur als unantastbare vermag Würde real zu bestehen. Als Forderung, die selbstbestimmte Zweckhaftigkeit eines jeden Menschenwesens anzuerkennen, bedarf sie der Bekräftigung und des Schutzes. Sie kann nur gewahrt werden, wenn sie auch gewährt und anerkannt wird, wenn die freie Selbstbestimmung der jeweils ganz distinkten Menschenperson, deren Glanz die Würde ist, statt gehindert gefördert wird.

In der Menschenwürde sind das ethische und das ästhetische Moment der menschlichen Existenz miteinander versöhnt. Unmöglich ein Mensch mit Würde, dem nicht auch Schönheit zukäme. Selbstzweckhaftigkeit realisiert in freier Bestimmung das ethische Wesen der menschlichen Existenz. Diese Existenz ist zugleich schöne Form in ihren leibhaftigen und sinnlichen Erscheinungen. Das sinnliche Erscheinen der Würde in ihrer Aura ist an ihr das Moment der Schönheit.

Die Verwirklichung der inneren Zweckhaftigkeit des Menschenwesens ist beim einzelnen wie bei der Gattung vorgängig von Geborgenheit wie von Anerkennung bedingt. Daher ist sie nicht nur Aufgabe und Verpflichtung, sondern zuerst Gabe und Geschenk. Diese konstitutive Grunderfahrung der conditio humana versucht, die religiöse Rede von der Ebenbildlichkeit des Menschen im Verhältnis zu Gott auszudrücken.3 Ein Geschenk der Liebe sind sowohl die Gaben wie die Freiheit, sie selbstbestimmt zu verwirklichen. Zuerst sind die Gaben da, ehe sie Aufgaben werden, zuerst kommt die angebotene, gewährte Freiheit, ehe sie Selbstverantwortung der sich frei bestimmenden Person wird. Die Freiheit und ihre Gaben kommen aus der Liebe anderer Menschen für die, die sie vertrauend aufnehmen, und aus der Liebe Gottes für die, die ihre Begabungen im Vertrauen auf die Wirklichkeit einer absoluten Liebe empfangen können. Weil frei geschenkt, werden die Gaben aus freier Dankbarkeit zur doppelten Aufgabe: für sich und für andere.

Selbstbestimmung heißt, die Verwirklichung der Gaben sich zur Aufgabe zu machen. Daher wächst im Verlaufe der Selbstbestimmung in Würde aus den inneren Potentialen der Person durch ein aktives Entwerfen wie durch ein eher passives, gleichwohl höchst bestimmtes und konkretes Geschehen- und Fließenlassen der Reichtum des personalen Daseins. Menschenwürde ist so Erscheinung des reichen Seins der menschlichen Person.4

Dialektik von Armut und Reichtum

Behinderung der freien Bestimmung der Person, Verneinung statt Anerkennung und Förderung, führen dazu, daß der Mensch in seiner Würde zwar noch existiert, jedoch in spezifisch depravierter Form, daß er nämlich das vielfältig konkrete und negative Bild verletzter Würde zeigt. Das Wesen dieser Verletzungen der Menschenwürde besteht in den Einschränkungen und Verhinderungen – statt Bestätigungen und Förderungen – der Freiheit der einzelnen Person, sich selbst als Zweck zu setzen durch die Entfaltung ihres inneren Reichtums an Gaben und Kräften. Menschliche Existenz in verletzter Würde besteht also in den realen, konkreten und vielfältigen Unfreiheiten innerhalb der kulturellen, sozialen und politischen Wirklichkeit des menschlichen Lebens. Diese konkreten Unfreiheiten, die die Würde verletzen, haben daher statt eines Lebens in Reichtum eines in der Armut der Person zur Folge.

Für die uns interessierende Frage nach dem Verhältnis von Würde und Armut ergibt sich bis hierher: In der Würde erscheint ein sich als Zweck setzendes und so sich selbst anerkennendes wie anerkanntes, selbstbestimmt sich entfaltendes Dasein der Menschenperson. Solche Entfaltung geschieht in personal besonderen mitmenschlichen und mit-natürlichen Beziehungen und in der personal besonderen Vielfalt der Werke. Diese Entfaltung bedeutet den Aspekt des Reichtums im personalen Dasein. Hingegen machen die Behinderungen, Störungen, Zerstörungen der freien Selbstbestimmung, der entfalteten Zweckhaftigkeit der Menschenperson das Dasein in Armut aus und erscheinen als verletzte Würde. Leben in wahrgenommener und gewährter Würde ist reiches Dasein. Leben in verletzter Würde ist armes Dasein. Elend kommt nahezu zerstörter Würde gleich. Wir sind jetzt auf die Fragen vorbereitet: Worin besteht menschliche Armut als Würde im Zustande der Verletzung? Was verursacht die so verstandene Armut?5

Die äußeren Verhältnisse, als Bedingungen der personalen Freiheit und sozialen Gleichheit, können ein reales Dasein in Würde zulassen, bestätigen, fördern oder sie umgekehrt einschränken, Würde verletzen, armes Dasein bedingen. Es sind zwei große soziale Ordnungsbereiche, die bisher die zwischenmenschlichen Beziehungen geformt haben, in denen über ein Dasein in Würde und Reichtum oder in Entwürdigung und Armut entschieden wird: das sind die Sphäre der Ökonomie und die der Politik.

Zwischen der Armut, begriffen als Summe der Verletzungen der Menschenwürde und der konkreten Unfreiheiten in Herrschafts- verhältnissen, und dem Reichtum, der davon erzeugt wird, besteht bekanntlich ein kausaler Zusammenhang.6 Er hat zugleich eine weniger beachtete Seite. Denn auch der Reichtum, der durch Herrschaft und Armut hervorgebracht und über den die von ihm in ihrem Dasein bestimmten Reichen verfügen, verhindert ein freies und würdiges Dasein der verfügenden Minderheiten. Die Form der Verfügung bringt falschen Reichtum hervor. Er behindert die Möglichkeit eines Daseins als entfaltete Person, reich an Gaben und an Fähigkeiten.

Daher war es auch – ganz abgesehen von der nackten ökonomischen Unmöglichkeit heutzutage – die große Illusion des Reformismus, durch (Sozial-)Demokratisierung dieses falschen Reichtums in der fordistischen Konsumgesellschaft das Armutsproblem lösen zu wollen. Die Konsumenten wurden so erst recht arm in der Seele und als Personen.7 Die Kälte der feinen Leute hat sich in diesem Projekt bloß vermischt mit der Grobheit der durch Armut Entwürdigten zu einer universalen kulturellen Lumpenproletarisierung der Gesamtgesellschaft in den derzeit sich allmählich ihrem Ende zuneigenden Konsumgesellschaften der kapitalistischen Metropolen. So ist die Klassengesellschaft nur negativ aufgehoben worden in der allgemeinen psychischen und kulturellen Verwahrlosung und Verelendung zugunsten der andauernden verdinglichten Gewalt der anonymen Kapitalherrschaft.

»Armut in Würde«, das haben die vorhergehenden Überlegungen gezeigt, kann es nicht geben. Der Ausdruck ist Ideologie. Sie verschleiert und rechtfertigt würdelose Bedingungen und Zustände des Lebens. Reichtum in Würde ist eine Illusion, weil das verfügende Erwerben und Nutzen des anderen abgepreßten Reichtums den Geist und vor allem die Seele verarmt. Darauf haben beispielsweise Hegel und Marx hingewiesen. Der eine mit der Charakterisierung des von Natur und Arbeit entfremdeten Herrn8, der andere mit dem Verweis auf die entfremdete Existenz der prima vista über Kapital Verfügenden, die sich näherer Analyse als Agenten, bloße Vollstrecker, der anonymen Herrschaft einer versachlichten Dynamik der Kapitalverwertung zeigen9. Was solche Theorie entdeckt hat, bestätigt aktuelle Empirie. In den USA sind es Untersuchungen zufolge, die sicher auch anderwärts bestätigt werden könnten, die Wohlhabenden, die unter allen sozialen Gruppen epidemisch von jenen Persönlichkeitserkrankungen befallen sind, nämlich von Angstzuständen, Depressionen und Selbstmordneigungen.10

Man kann die Armut als Folge der Unfreiheit und Entwürdigung und den Reichtum als Folge von Herrschen und Verfügen auch eine falsche Armut und einen falschen Reichtum nennen. Denn beide widersprechen sie einem personalen Dasein als entfaltete, sich selbst durch ihre Gaben und vermittelt durch Anerkennung bestimmende Person. Dialektisch können diese falsche Armut und dieser falsche Reichtum entschlüsselt werden als die auseinandergefallenen und auf diese Weise auch in sich verkehrt gewordenen Hälften einer derart doppelt verneinten wahren Lebensform: des Zusammenhangs von wahrem Reichtum und von wahrer Armut als zwei Seiten eines Lebensprozesses. Wahrer Reichtum wäre die in sich reiche Person, auf zulänglicher materieller Grundlage versteht sich, und wahre Armut der Verzicht auf das besitzende und beherrschende und sich bemächtigende Verfügen über Natur, Menschen und menschliche Erzeugnisse, zugunsten eines reichen Seins.11

Im Übergang von der falschen Dialektik des Entbehrens wie des Habens und Herrschens zum Leben im entfalteten reichen Sein wäre wahre Armut bei den einen der Verzicht auf falschen Reichtum. Das damit gesetzte Problem veranschaulicht die biblische Geschichte vom reichen Jüngling, den die Perspektive des sinnerfüllten Lebens zwar lockte, die dafür zu erfüllende Bedingung jedoch traurig stimmte, zuvor seine Habe an die Armen zu verschenken.12 Daraus haben die bisherigen Protagonisten in sozialen Revolutionen den so »realistischen« wie falschen Schluß gezogen, man müsse dem Verzichtenkönnen der herrschenden Klasse durch Zwang nachhelfen. Im Blick auf die Demokratisierung des falschen Reichtums im Konsum wäre der Übergang für die anderen Verzicht auf diesen Konsum, um den luziferisch geforderten Preis der entfremdeten Arbeit und des manipulierten Nicht-Lebens verweigern zu können. Denn es hat den wohlfahrtsstaatlich oder »revolutionär« nur betreuten »Massen« wenig geholfen, die Welt des Konsums zu gewinnen. Sie haben dafür ihre Seele verloren. Darauf verweist die Tatsache, daß Schweden im sozialdemokratischen Zeitalter die höchste Selbstmordrate aufwies. Heutzutage wird den »Massen« auch der zunächst gewährte Konsum wieder weggenommen durch den dynamischen Mechanismus der Kapitalverwertung und eine damit konforme Politik. Zeitlich, geschichtlich, sozial, regional und sachlich begrenzt, hatten Kapital und Staat den entfremdeten Konsum bloß als Charakteristikum einer spezifischen Gestalt dieser Kapitalverwertung – des Fordismus – gewährt zur Selbststabilisierung. Diese Gestalt ist heute historisch unumkehrbar überholt. Darum haben die »Massen«, betrogene (Selbst-) Betrüger, in den neunziger Jahren in Europa auf die doppelte Schmach mit verzweifelter Gewalt reagiert. Für beide oben angeführte soziale Gruppen wäre aber die zu gewinnende wahre Armut die Bedingung des wahren Reichtums der frei und in wechelseitiger Anerkennung sich entfaltenden, in sich reichen jeweils besonderen Person.

Entfremdung und Ausschließung

Die bisherigen Erwägungen zur Armut als verletzte Menschenwürde ergänzend, sei nur hingewiesen auf zwei Anschauungen von Armut, in denen diese gleichfalls als verletzte Würde durch verhinderte freie Selbstbestimmung aufgefaßt wird. In der Form eines kategorischen revolutionären Imperativs, alle sozial strukturierten Verletzungen der Würde und Beschränkungen der Freiheit aufzulösen, spricht Marx von den zu verneinenden Verhältnissen, »in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist«13. An anderer Stelle seines Werkes, in den berühmten Pariser Manuskripten von 1843/44 über Nationalökonomie und Philosophie, faßt er Armut und Mangel des menschlichen Lebens unter modernen Herrschaftsverhältnissen auf als einen Zusammenhang von Spaltungen, Verformungen, Reduzierungen und Abhängigkeiten und nennt das Entfremdung14. Er identifiziert und analysiert dann die ökonomischen Formen als den Kern dieser Entfremdung. Diese unpersönliche und indirekte Gewalt nennt Marx den Fetischcharakter der Ware.15 Alles, was den Kapitalismus ausmacht – Ware, Markt, Kapital, Krise, Krieg etc. –, tritt dem Menschen gegenüber fast wie eine Naturmacht. Von ihr sind sie abhängig wie die »Primitiven« von ihrem Fetisch. All das wird von geläuterten linken Denkern gern vergessen, die der möglichen Praxis der Utopie einen ideologischen Riegel vorschieben möchten und, in der von Benjamin und Adorno denunzierten Logik des Fortschritts16, den Markt als so unveräußerliche wie unverzichtbare Menschheitserrungenschaft anempfehlen.17 Im Namen der Freiheit bestätigen sie das System als »Ende der Geschichte« und unterdrücken die Freiheit, ein soziales System auszuwählen, das den Interessen von Mensch und Natur am besten entspricht.

Die Entfremdung, die schon mit dem Tausch der Waren beginnt, ist die konkrete Unfreiheit, damit Würdelosigkeit und Armut, die die Menschen, vermittels des Arbeitsmarktes und der Hierarchien und technokratischen Ordnungen in Unternehmen und Verwaltungen, zu abstrakter Arbeit zwingt. Die Eigenart dieser abstrakten Arbeit hindert sie, frei und gemeinschaftlich zu bestimmen, was und wieviel davon sie, mit welchen Hilfsmitteln, in welcher sozialen Ordnung und Koordination und vor allem wozu, an Gütern, Diensten und Informationen herstellen und wie sie mit den Ergebnissen solchen sozialen Arbeitens umgehen. Entfremdung ist der Inbegriff jenes Zwanges und dieser Behinderungen.

Am Ende des Zeitalters der Moderne weisen viele Faktoren darauf hin, daß Entfremdung in der Arbeit verschwindet und durch Entfremdung – nicht schon Befreiung! – von der Arbeit ersetzt wird, mehr noch, durch Ausschließung von der Produktion. Unterdrückung hat inzwischen zu einem Zustand geführt, in dem wachsend die traditionelle Entfremdung ersetzt wird durch Randständigkeit und Ausschließung. Sie sind die negative Realisierung der doppelten Utopie der Befreiung der Arbeit und von der Arbeit. Die konkrete soziale Form dieser Befreiung blockiert Autonomie. Sie ist schwer möglich unter Bedingungen einer extremen Regression der Individuen. Nur eine Dialektik, die über diese Regression hinausgeht – der Freiheit in und von der Arbeit, entspräche dem Problem, wie es von der Realität selbst gestellt wird.

Gegenwärtig belehrt die Wirklichkeit der Krise die Menschen darüber, daß der Kapitalismus sie nicht mehr benötigt, sie vielmehr ökonomisch und sozial überflüssig macht. Nachdem diese Lektion gelernt worden ist, taucht am Horizont des Bewußtseins wie des Unbewußten die Möglichkeit auf, daß eine andere Lektion gelernt wird: daß nämlich die Ausgeschlossenen ihrerseits für ihr Leben das System: das Kapital und den Staat, nicht mehr benötigen. Sie könnten begreifen, daß es noch genügend Ressourcen gibt für die Entwicklung anderer zwischenmenschlicher Beziehungen und anderer ökonomischer und sozialer Institutionen – jenseits von Kapital und Staat. Weltweit hat diese Entwicklung schon begonnen in den letzten Jahren und sogar Jahrzehnten, unter unseren Augen, als eine »Globalisierung« der Hoffnungen auf ihren Wegen zu den Verwirklichungen ihrer Ziele. Diese Erfahrung rechtfertigt vorsichtigen Optimismus.

Wie Marx, so hat auch die Theologie der Befreiung in Lateinamerika einen sehr umfassenden Armutsbegriff, der festhält am unveräußerlichen Ziel der Verwirklichung des freien Menschen in gerechten Verhältnissen und der vom Gegenbegriff der möglichen Wirklichkeit eines reichen Daseins in versöhnter Fülle von Werken und Beziehungen zwischen Menschen und mit der Natur inspiriert ist. Es geht, schreibt Miguel Manzanera, um »jeden Armen (den Arbeitslosen, den Arbeiter, den Bauern, den Bettler usw.) und den ganz Armen (…) (als Schwarzer, Indianer, Frau usw.).« Die »Option für die Armen« ist »außerdem für die Teilnahme von Nicht-Armen offen, sie schließt also nicht aus, sondern ein.« Sie bezieht sich »auf die marginalisierten Länder, die diskriminierten Kulturen und Subkulturen, die im Verschwinden begriffenen ethnischen Minderheiten, die sozial und sexuell unterdrückten Frauen und die verlassenen Kinder …«18. Bleibt noch auf die Dialektik hinzuweisen, daß der »materialistische« Gesellschaftskritiker Karl Marx die seelischen Aspekte der Armut, der Theologe Miguel Manzanera hingegen die »materialistischen« ökonomischen und sozialen Seiten hervorhebt.

Armut und die Strukturen des modernen Systems der Herrschaft Die moderne Welt hat hinsichtlich der Beziehungen der Menschen zueinander und zur Natur vier große formal rationale Strukturen der Unfreiheit und damit der Würdelosigkeit und der Armut hervorgebracht: Gemeinsam ist ihnen die Verneinung der inneren Zweckhaftigkeit, der qualitativen Besonderheit, der werthaften Einmaligkeit und damit der freien Selbstbestimmung menschlicher Personen durch ihre theoretische und praktische Verwandlung in bloße Mittel, in Funktionen für jeweils anderes. Da gibt es die Transformation der Natur in technische Mittel für eine Produktion, die selbst überwiegend Mittel ist: für das Herrschen über Menschen und ihre Tätigkeiten und Erzeugnisse; die Transformation des Menschen in einen Automaten abstrakter, dadurch beherrschbarer Arbeit in der versachlichten Form der disponierenden Wertanhäufung; die Transformation des Menschen in ein Objekt von Staatsgewalten, nicht selten blutig19; schließlich, vermittels einer Anpassung, welche das Streben nach Freiheit durch ängstliche Unterwerfung unter Kapital und Staat ersetzt.

Unter diesen modernen Strukturen der rationalen Herrschaft, die die Selbstzweckhaftigkeit des Menschen beschränken und seine Würde verletzen, damit die Armut seines Daseins bis hin zur Verelendung bedingen, nehmen die als Staat auftretende zentrale politische Gewalt und die als stets bewegte Kapitalverwertung erscheinende strukturelle ökonomische Gewalt die wichtigsten Plätze ein.

»Allen modernen sozialen Herrschaftsformen – dem Kapitalismus des Marktes ebensosehr wie dem ›Realsozialismus‹ des Staates – gemeinsam ist die Verletzung der Würde des Menschen und die Beraubung seiner Freiheit. Ökonomische Herrschaft verletzt die Würde des Menschen und macht ihn unfrei, indem sie die große Mehrheit einsperrt in die Zwänge der Sorge für sein ständig gefährdetes Überleben, indem sie sie fesselt an den Kampf gegen Hunger, Krankheit, materielle Not überhaupt und gegen das Unrecht der ungleichen Aneignung der Ressourcen und Einrichtungen für die materielle Bedürfnisbefriedigung. Die herrschende Minderheit hingegen bleibt befangen in der Konkurrenz und im Streben nach Eigentum, Profit und Macht. Die Herrschaft als persönliche Abhängigkeit und Gewalt und als politische Macht, vor allem in Form der zentralen Staatsgewalt, verletzt die Menschenwürde und macht unfrei, indem sie unmittelbar den Entfaltungsspielraum des einzelnen einengt und durch Beschränken oder Unterbinden seiner Selbstbestimmung ihn demü-tigt, erniedrigt und knechtet. Die ›realsozialistische‹ Konkurrenz zum Kapitalismus hatte für die deklarierte Befreiung der Menschenwürde von materieller Not ihre fortgesetzte und zugespitzte Demütigung durch die politische Staatsgewalt in Kauf genommen. Eben darum hat sie auch die materielle Ungerechtigkeit nicht wirklich aufheben können, sondern als Macht-, Entscheidungs- und Konsumprivilegienstruktur fortgesetzt. Der Kapitalismus nimmt für die deklarierte persönliche Freiheit gegenüber politischen Gewalten die Demütigung durch materielle Not und Ungerechtigkeit in Kauf. Gerade darum auch erreicht er nicht die Befreiung von Verletzungen der Menschenwürde durch seine eigenen politischen Gewalten. Die beinhalten vielmehr die stetige Einschränkung der persönlichen und politischen Freiheiten bis hin zu ihrer bisher immer wiederkehrenden zeitweiligen Abschaffung – im Extremfall durch Militärdiktatur und Faschismus.«20

Freiheit oder Gerechtigkeit? Freiheit und Gerechtigkeit!

Zur Ideologie der gegenwärtigen Ultramoderne – der sogenannten Postmoderne – gehört die Weigerung, den Zusammenhang zwischen der ökonomischen und der politischen Seite von Entwürdigung und Verarmung zu betrachten. Die politische Seite ist erkannt und anerkannt, aber über die ökonomische will man nicht reden. Im Westen verdankt sich diese Weigerung dem ideologischen Festhalten an der schon veralteten Konkurrenz zwischen den beiden Varianten moderner Herrschaft. Die eine ihrer Varianten ist bis heute die von der vorwiegenden Herrschaft des Kapitals, die den Staat aber keineswegs vernachlässigt. Die andere Variante wurde und wird allgemein als Sozialismus mißverstanden – nicht nur von den Gegnern, sondern zuerst von »Sozialisten« selber – ihn gegen diese Freunde zu verteidigen, bleibt ein Gebot. Das positive oder negative Vorzeichen hat sie nur unterschieden, die Feinde und die falschen Freunde dieses »Sozialismus« der vor allem in extrem zentralstaatlich strukturierter Herrschaft über regulierte Warenproduktion und Kapitalakkumulation bestanden hat. Ganz ebenso verdankt sich der falsche Gegensatz im Bewußtsein zwischen Gleichheit und Freiheit oder – eher politisch ausgedrückt in demagogischer Absicht: von Freiheit und Sozialismus – einer Blockierung des Denkens, die von jenem Konflikt ausgegangen ist: als ob die Verringerung der sozioökonomischen Armut nur um den Preis einer zunehmenden politischen Unfreiheit und damit persönlichen und menschlichen Verarmung zu haben wäre und umgekehrt, die Freiheit nur um den Preis der Ungerechtigkeit!

Entsprechend wurde und wird empfohlen, auf die Freiheit zu setzen und ein wenig Armut als unvermeidlich zu akzeptieren. Diese Ideologie setzt voraus, die begriffslose, vom Kapitalismus geblendete Affirmation der Bestimmungen, erstens, der Freiheit als individualegoistische Nutzenmaximierung bis hin zur Gewaltanwendung unter kapitalistischen Konkurrenzbedingungen und, zweitens, des Individuums als monadischem Träger solcher sogenannter Freiheit, des Kampfes mit verdeckter oder offener Gewalt um den temporären Sieg des jeweils Stärkeren am ökonomischen und politischen Markt. Auf der anderen Seite setzt diese Ideologie, als ihre Rechtfertigung, einen falschen Begriff von Gerechtigkeit voraus: die staatlich administrierte Zuteilung von sozialen Chancen der Berufsarbeit und des Konsums, die durch die staatliche, hierarchische und bürokratische und potentiell gewaltsam sanktionierte Form nicht allein unfrei, sondern auch ungerecht sein mußte.

Demgegenüber ist Gerechtigkeit als soziale Gleichheit »die Angemessenheit sozialer Verhältnisse an die einzigartige und spezifisch wertvolle Person je des einzelnen Menschen. Daher ist Gerechtigkeit eine Voraussetzung von persönlicher Freiheit. Ebenso ist persönliche Freiheit die Voraussetzung der Gerechtigkeit. Freiheit für jeden einzelnen ist die Bewegungsform, in der sich die Besonderheit und Einzigartigkeit der jeweiligen Person entfaltet. Gerechtigkeit ist Anerkennung und Förderung dieser freien Entfaltung. Der scheinbare Gegensatz von Freiheit und Gleichheit oder Freiheit und Sozialismus, den interessierte, manipulierende Ideologie propagiert, spiegelt Herrschaftsverhältnisse. Diese Herrschaftsverhältnisse verhindern sowohl die Freiheit, die sie sich zu ihrer Rechtfertigung auf die Fahnen, Denkmäler und Gesetzestafeln geschrieben haben, wie die Gerechtigkeit, auf die zugunsten der Freiheit verzichten zu müssen sie gegen jede denkende Vernunft ideologisch behaupten. Denn sie unterwerfen jede einzelne Person Verhältnissen der sozialen Ungleichheit und unterdrücken dadurch zugleich ihre persönliche Freiheit. Freiheit wird in diesem Zusammenhang etwas genannt, das keine Freiheit ist: die selbstunterdrückende Organisation des Individuums als physisch-psychischer Besitz- und Kampfapparat und das Verfügen, Konkurrieren, Machtausüben dieses Apparates im wirtschaftlichen Existenz- und im politischen Machtkampf als vorgeblich freies Verhalten.«21

Im Hinblick auf die Institutionalisierung der Freiheit und der Gerechtigkeit oder von deren Gegenteil, verweisen die oben getroffenen Unterscheidungen auf ihre subjektive Vermittlung. Sie besteht im Unterschied zwischen der freien Person in einem reichen Sein in wechselseitiger Anerkennung und auf der anderen Seite dem verfügenden unterdrückenden Individuum als dem Täter und Opfer zugleich der oben angeführten modernen Herrschaftsstrukturen, in wechselseitigen Konkurrenz- und Kampfverhältnissen hinsichtlich ökonomischer Verfügungs- und politischer Machtchancen.

Schon die eingangs gegebene Bestimmung des Begriffs der Menschenwürde impliziert die Einheit von Freiheit und Gerechtigkeit und einen bestimmten Begriff beider Momente. Der Begriff der freien Person hat zwei Seiten. Einmal enthält er die Freiheit von Einschränkungen ihrer möglichen Verwirklichung in würdiger Existenz. Sodann bedeutet er die Freiheit zu oder für. Das ist die Freiheit, diese besondere Person zu sein und zu werden. Diese Freiheit weist daher von sich aus auf Gerechtigkeit hin, und braucht diese als eine Voraussetzung, ist daher mit der Gerechtigkeit identisch. Beide, Freiheit und Gerechtigkeit, werden durch Institutionen gesichert, die der Gerechtigkeit dienen, begriffen als Bedingung der freien Entfaltung der Person in der Form der Freiheit.

Die bisherigen Befreiungsbewegungen und ihre Reflexion im Süden des Globus haben immer sehr genau gesagt, wovon sie die Menschen befreien wollten (vom Elend vor allem), aber weniger oder gar nicht, zu welcher Freiheit sie sie befreien wollten. Dieses Defizit hat sichtbar gemacht, daß sie im allgemeinen und als erstes Ziel eine solche Befreiung zur Freiheit auch gar nicht praktisch angestrebt haben, sondern die Entfaltung »revolutionär« zur Macht kommender Avantgarden als neue Herrschafts- und Machtstruktur.

»Konkurrenz der Systeme«

An dieser Stelle mag es angezeigt sein, zwei weiteren Gemeinplätzen des ungesunden Menschenverstandes entgegenzutreten, die von der Meinung auf der Straße bis zur Rede und Abhandlung in anstaltlich beschränkter Gelehrsamkeit das herrschende falsche Bewußtsein ausdrücken. Es habe sich, so hieß es noch jüngst allenthalben, bei der politischen Auseinandersetzung zwischen etwa 1917 und 1989 um den Konflikt zweier verschiedener Gesellschaftssysteme gehandelt – um denjenigen nämlich zwischen Kapitalismus und Sozialismus (oder Kommunismus) oder den zwischen Markt und Staat. Demgegenüber zeigt ein unbefangener Blick auf Erscheinungsbild und Geschichte der Konkurrenten, daß auf beiden Seiten zeitlich durchgehend und strukturell ähnlich immer Kapital und Staat zugleich als Herrschaftsstrukturen im Spiele waren. Im Westen überwog und überwiegt bis heute das Kapital, oder: der Markt, im Osten der Staat. Beide, der Markt und der Staat, garantieren nicht von sich aus Freiheit, Gerechtigkeit und Demokratie.

So waren etwa die westlichen kapitalistischen Marktwirtschaften von ihren Anfängen im merkantilen Absolutismus über den europäischen Faschismus der zwanziger bis vierziger Jahre bis hin zu den zahlreichen autoritären und militaristischen und faschistischen Regimes auf marktwirtschaftlicher Grundlage in der »Dritten Welt« bis in die jüngste Vergangenheit immer mit einer starken, zentralen, hierarchischen, vor allem in Polizei, Militär, Bürokratie und ihren einschlägigen Aktionen sichtbar erscheinenden Staatsgewalt verbunden. In den liberalen Phasen und Regionen war und ist diese Gewalt vergleichsweise eng begrenzt und rechtsstaatlich reguliert, in den demokratischen Phasen und Regionen war und ist sie zusätzlich noch an eine institutionalisierte Kompromißfindung zwischen den unmittelbar ökonomischen Herrschaftsverhältnissen und den weiteren gesellschaftlichen Mächten gebunden. Derart beschränkte Demokratie war und ist freilich nicht zu verstehen, wozu ihr Name verführen mag, als herrschaftsfreie Selbstbestimmung des Volkes, sondern nur als diese politische balance of power des im ganzen unfreien, herrschaftsförmigen Zustandes der Gesellschaft selber. Wie dem auch sei: die Staatsgewalt war immer vorhanden und als Garant der Regeln der privaten Nutzenmaximierung und des Konkurrenzkampfes auch unverzichtbar notwendig. Gerade im aktuellen High-Tech- und Katastrophenkapitalismus, der anderwärts auch ›Neoliberalismus‹ oder ›Toyotismus‹22 genannt wird, legt der Staat erst wieder richtig los, etwa seit den achtziger Jahren des zu Ende gehenden Jahrhunderts. Er befreit sich von dem ihm immer fremd gebliebenen, ihn schwächenden sozialen Element, um sich als Staat sui generis, als reiner Macht- und Sicherheitsstaat neu zu konstituieren. Und in jenen Ländern, die ein so allgemein wie fälschlich als Sozialismus bezeichneter zentralbürokratischer totaler Staat geprägt hat, war die dadurch strangulierte Ökonomie gleichwohl durch verallgemeinerte, auf die Spitze getriebene abstrakte, entfremdete Arbeit wie durch gelenkte Warenproduktion und gelenkte Kapitalakkumulation bestimmt. Weil diese Variationen der tiefliegenden gemeinsamen Herrschaftsstrukturen der Moderne in sich immer gemischt waren aus öko- nomischen und politischen Herrschaftsverhältnissen, war auch ihr Unterschied gegeneinander immer relativ. Er hatte seinen gemeinsamen Nenner darin, daß keines der beiden Systeme die ökonomische und die politische Unfreiheit und den begleitenden Mangel an Gerechtigkeit hinter sich gelassen haben, aus denen die jeweils spezifischen Verletzungen der Menschenwürde und Formen der Armut immer neu hervorgegangen sind. Eduardo Galeano, der so scharfsichtige wie wahrhaftige Schriftsteller aus Uruguay, hat diesen Zusammenhang so ausgesprochen: »Im Westen«, so schrieb er, herrscht »die Opferung der Gerechtigkeit auf den Altären der Produktivitätsgöttin – im Namen der Freiheit. Im Osten« war es hingegen »die Opferung der Freiheit auf den Altären der Produktivitätsgöttin – im Namen der Gerechtigkeit«23.

Galeanos Analyse entspricht derjenigen des heute – auf der Suche nach neuen Praxiswegen – jenseits von Lenin und Bernstein, höchst aktuellen Albert Camus. Ihm zufolge »fallen die kapitalistische und die sozialistische Gesellschaft zusammen, insofern sie im Hinblick auf die gleiche Verheißung und das gleiche Mittel: die industrielle Produktion, knechten …«24

Praxis der Utopie?

Das andere Vorurteil, mit dem angesichts der strukturellen Unfreiheit und Armut in den modernen ökonomischen und politischen Herrschaftsverhältnissen unnachsichtig aufzuräumen ist, besagt, im Osten sei die versuchte Verwirklichung einer Utopie gescheitert in Terror und Arbeitslagern. Eben darum (!) müsse ein für allemal Schluß gemacht werden mit Utopien, auf jeden Fall seien Versuche, sie zu verwirklichen, strikt zu unterbinden als gemeingefährlich für das (Über-)Leben der Menschheit. Denn es habe das »utopische sozialistisch-kommunistische Experiment« die allgemeine unveränderliche Unzulänglichkeit des menschlichen Erdendaseins nicht berücksichtigt, das man so akzeptieren müsse, statt dies Dasein mit dem physikalischen perpetuum mobile in einem Vakuum zu verwechseln, dessen Bewegungsfreiheit keine Widerstände entgegenstünden. So wie schon im Osten die Verwirklichung der Utopie des Staates als Sozialismus, so auch scheitere gegenwärtig die Utopie der falsch verstandenen Freiheit als totaler Markt im Westen.

Hat jedoch, wie gerade angenommen, die Praxis des Ostens von Beginn an historisch im Westen entwickelte Herrschaftsstrukturen imitiert, wiederholt und bloß in den Gewichten verlagert variiert, so war sie keineswegs beabsichtigte oder gar durchgeführte Verwirklichung einer authentischen Utopie. Seit ihren Anfängen war sie die Liquidierung der freien Rätedemokratie, Praxis echter Utopie, die sich vor dem Staatsstreich der Bolschewiki im Oktober 1917, spontan und auf breiter Basis seit dem Februar dieses Jahres entwickelt hatte. Das sich ausbildende bolschewistische System war von Anfang an eine strikt anti-utopische Ideologie und vor allem Praxis. Sehr rasch und konsequent hat diese gegen-utopische Praxis dann nach den realen Anfängen auch die geistige Gestalt und die menschlichen Träger der kommunistischen Utopie zugunsten der marxistisch-leninistischen Arbeits-, Industrie- und Staats-, im ganzen: Fortschritts-Idolatrie abgeschafft, vielfach mit blutiger Gewalt. Diese Gewalt war nicht versuchte Verwirklichung der Utopie, sondern ihre zunächst gelungene Zerstörung. Auf einem anderen Blatt steht, daß dies schon der Anfang der Selbstzerstörung des sowjetischen Systems war, weil auch Herrschaft nicht ganz ohne Konzessionen an eine Utopie auskommt, zumindest nicht ohne ihre ideologische Instrumentalisierung zu Legitimationszwecken.25 Dafür wurde die authentische Marxsche Theorie in den Marxismus-Leninismus transformiert. Diesem war Kritik – durch gelenkte Debatten als Herrschaftstechnik – ausgetrieben worden. Diese besondere Produktivkraft Kritik hatte sich somit das neue System selbst aus der Hand geschlagen.

Wie im ehemaligen Osten der Staat, so ist auch im Westen der sogenannte freie Markt nicht die Verwirklichung, sondern die beabsichtigte Abschaffung der Utopie wahrer Freiheit in einem demokratisch geordneten Gemeinwesen. Freilich existiert in beiden Systemen anstelle der praktisch wie theoretisch unterdrückten und liquidierten authentischen Utopien von Freiheit und Gerechtigkeit eine jeweilige Pseudo-Utopie. Sie ist die Hypostasierung eines Aspekts der be- stehenden Unfreiheit. Im Osten wurde die politische Unfreiheit der modernen Staatsstruktur als Sozialismus verklärt, im Westen die strukturelle Gewalt des Marktsystems als Freiheit.

Die Funktion beider Pseudo-Utopien ist es gerade nicht, total verwirklicht zu werden – als Markt einerseits, als Staat andererseits, wie eine verbreitete Ideologie behauptet, sondern gegenüber der gesellschaftlichen Wirklichkeit in den Schranken von Ideologien bestehen zu bleiben, um die real gemischten staatlich-marktwirtschaftlichen Herrschaftssysteme zu verschleiern und zu kompensieren – durch die falschen Ideen eines als Freiheit glorifizierten totalen Marktes und eines als Sozialismus glorifizierten totalen Staates.

Das Problem der Entwürdigung, der Unfreiheit und der personalen Armut hat sich nicht erst in den versuchten Totalisierungen jeweils eines der beiden Herrschaftsprinzipien gezeigt, sondern schon in der Realität von Herrschaftsstrukturen, in denen jene Prinzipien gemischt realisiert sind. Denn nicht erst ihre quantitative Ausdehnung, sondern schon ihre qualitative Beschaffenheit als Formen struktureller Gewalt bringt die unterdrückenden und zerstörenden Wirkungen von kapitalistischem Markt und von zentralem Staat notwendig hervor. Darum kann es nicht Konsequenz dieser Überlegung sein, die spezifischen Armutsprobleme der im politischen Kampf übrig gebliebenen westlichen Systemvariante moderner Herrschaft durch eine Verweigerung und Verneinung der Praxis der Utopie zugunsten einer neuerlichen Mischung von Staat und Markt lösen zu wollen – von der empirischen Unmöglichkeit dieses derzeit sich auflösenden historisch begrenzten Modells einmal ganz abgesehen. Vielmehr kann es nur darum gehen, durch die Praxis der authentischen Utopie der frei geordneten Gemeinschaft diesen ganzen Zusammenhang von staatlich-marktwirtschaftlich-kapitalistischer Herrschaft und der Pseudo-Utopien als Ideologien, als geistiger Herrschaft durch Verschleierung und Bekräftigung der realen, hinter sich zu lassen.26

Ideologie der Krise – Krise der Ideologie

Der Gründungsmythos der neoliberalen Episode kapitalistischer Religion in den neunziger Jahren, ständig wiederholt wie der Text auf einer tibetanischen Gebetsmühle, lautete etwa so: Erstens: Nach dem Fall der Berliner Mauer hat die Freiheit endgültig die Unfreiheit besiegt. Zweitens: Freiheitsliebende Menschen, mit höherer Einsicht in die tragische Antinomie von Freiheit und Gerechtigkeit, lassen zugunsten der Freiheit vermittels Deregulierung der Ungerechtigkeit ein wenig die Zügel schießen. Drittens: Der Versuch, Utopien zu verwirklichen, führt notwendig geradenwegs in den Archipel Gulag oder nach Auschwitz. Viertens: Darum schafft man sie ab oder läßt sie lediglich als träumerisch-kompensatorischen Horizont der realen Freiheit – des Marktes und des Staates – bestehen, so daß sie künftighin keinen Schaden mehr anrichten können.‹

Dialektischem Denken gibt sich diese neueste, von rechts bis links weitgehend geteilte Ideologie als armseligste Phraseologie zu erkennen. Die Darstellung bis hierher kann als Kommentar zu diesem Urteil gelesen werden.

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Helmut Thielen – Jg. 1941; Dr.; hat 1962-1969 in Marburg und Frankfurt Sozialwissenschaften und Philosophie studiert – bei Abendroth, Horkheimer, Adorno, Marcuse und Habermas – und 1974-1978 bzw. 1984/85 in Berlin Landschaftsplanung und Internationale Agrarentwicklung – bei Grossmann, Schiller-Bütow und Bechmann, darauf folgte 1985 die Promotion über Agrarreform-Probleme in Lateinamerika Baustellen und Behörden, Bücher und Universitäten kennzeichnen seinen Berufsweg, von 1985 bis 1994 war er freier Publizist in Berlin, von 1994 bis 1998 hatte er eine Gastprofessur für sozialphilosophische Forschung an der Bundesuniversität von Campo Grande, Mato Grosso do Sul, Brasilien inne, seit 1999 lehrt er an der UNISINOS, einer Universität des Ordens der Jesuiten, in São Leopoldo, Rio Grande do Sul, Soziologie und Nachhaltige Entwicklung und forscht über ausgewählte Theoriemodelle zum Verhältnis Gesellschaft – Natur. Helmut Thielen hat unter anderem die Bücher »Revolution des Glaubens« (1991), »Die Einsamkeit der Dritten Welt« (1992), »Befreiung. Perspektiven jenseits der Moderne« (1994) und »Diskurs und Widerstand« (1995) veröffentlicht. Anschrift: Prof. Dr. Helmut Thielen, Universidade do Vale do Rio dos Sinos, UNISINOS, Centro de Ciências Humanas, Avenida Unisinos 950, 93022 – 000 SÃO LEOPOLDO, RS., Brasil. Fone: 0055 51 590 81 11. Fax: 0055 51 590 81 12. E-mail: helmut@poa.unisinos.br.

1 »Alle Begriffe, in denen sich ein ganzer Prozeß semiotisch zusammenfaßt, entziehen sich der Definition: definierbar ist nur das, was keine Geschichte hat.« Friedrich Nietzsche, hier zitiert in: Institut für Sozialforschung (Hg.): Soziologische Exkurse, Frankfurt/M. 1956, S. 22.

2 »Handle so, daß du die Menschheit, sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest.« Hier zitiert in: Enrique Dussel: Ethik der Befreiung. Zum Ausgangspunkt als Vollzug der ursprünglichen ethischen Vernunft, in: Raúl Fornet-Betancourt (Coord.): Konvergenz oder Divergenz? Eine Bilanz des Gesprächs zwischen Dis-kursethik und Befreiungsethik, Aachen 1994, S. 87. In der einschränkenden Formulierung »bloß« setzt sich allerdings die tatsächliche Unmöglichkeit theoretisch durch, die Maxime in der bürgerlichen Welt zu verwirklichen, die den Erfahrungsgehalt der Kantischen Philosophie ausmacht.

3 Vgl. Zu diesem Zentralbegriff zunächst in der hebräischen Torah: Genesis 1, Vers 27, dann in der christlichen Bibel: Römer 8, 29: 2. Korinther 4, 4; Kolosser 1, 15 und 3, 10; Hebräer 1, 13.

4 Zum Begriff des Seins und zu seinem Gegensatz, dem Begriff des Habens vgl. Erich Fromm: Haben oder Sein, in: Gesamtausgabe, Bd. 2, Stuttgart 1976, S. 269-414.

5 Ein Mensch kann sich auch würdelos gegen sich selbst betragen, indem er sich willentlich inneren und äußeren Zwängen unterwirft, von sich aus noch einmal Bedingungen bejaht, die seine personale Zweckhaftigkeit verneinen. Dieser Aspekt ist in aller Regel eine Folge sozial-psychischer, pathogener Lernprozesse. In solchen Sozialisierungsvorgängen konstituieren sich die objektiven strukturellen Zwänge durch Verinnerlichung, heute eher durch wechselnde Imitation und Anpassung, die innerpsychischen Potentiale als ein dynamisches System von Instrumenten, Funktionen und Hierarchien, die dann den ökonomischen und politischen Zwängen, von denen sie vor allem ausgegangen sind, mehr oder weniger entsprechen. Diese sekundäre innere Unfreiheit wird uns hier nicht näher beschäftigen, sondern ihre gerade angedeuteten äußeren Vermittlungen.

6 Vgl. Georg Friedrich Wilhelm Hegels analytische Bemerkungen zur bürgerlichen Gesellschaft und zu ihrer expansiven Dynamik in den Grundlinien der Philosophie des Rechts, in: Werke in 20 Bänden, Bd. 7, Frankfurt/M.

7 Vgl. zur Kulturindustrie in: Theodor W. Adorno, Max Horkheimer: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Amsterdam 1947. Eine empirische Aktualisierung dieser Analysen bietet Michael Kausch: Kulturindustrie und Populärkultur. Kritische Theorie der Massenmedien, Frankfurt/M. 1988. Darum hat der im Zusammenspiel von nord-amerikanischer und salvadorensischer Exekutive vor Jahren ermordete jesuitische Rektor der katholischen Universität von El Salvador Ignácio Ellacúria, prophetisch gefragt: ›Was nutzt es Europa, wenn es seine Seele verliert?‹

8 Vgl. Hegels Analyse der Dialektik von Herrschaft und Knechtschaft in der Phänomenologie des Geistes, in: Werke in 20 Bänden, Bd. 3, Frankfurt/M. 1970, S. 145ff.

9 Vgl. Karl Marx: Das Kapital. Erster Band, in: MEW, Bd. 23, S. 8.

10 In ihnen wird der Gewaltcharakter der modernen Zivilisation und ihres ökonomischen, marktwirtschaftlichen Kerns konkret. Seine sozial-psychische Seite umfaßt egoistische, narzißtische, hysterische, aggressive und nekrophile Neigungen.

11 Den entscheidenden Aspekt der Dialektik von wahrer Armut und wahrem Reichtum bestimmt Marx wie folgt: »… die Armut des Menschen (ist) …, unter Voraussetzung des Sozialismus, … das positive Band, welches den Menschen den größten Reichtum, den anderen Menschen, als Bedürfnis empfinden läßt.«

12 Vgl. Die Bibel: Lukas 18, 18-23.

13 Karl Marx: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung, in: MEW, Bd. 1, S. 385.

14 Karl Marx: Ökonomisch-philosophische Manuskripte, in: MEW, Ergänzungsband, Erster Teil, S. 510ff.

15 Vgl. Karl Marx: Das Kapital. Erster Band, a.a.O., S. 76-89.

16 Vgl. Theodor W. Adorno: Fortschritt, in: Stichworte. Kritische Modelle 2, Frankfurt/M. 1969, S. 20ff.; Walter Benjamin: Über den Begriff der Geschichte, in: Gesammelte Schriften, Frankfurt/M. 1972ff., Bd. I/2, S. 693ff. Dazu erscheint demnächst in Brasilien: Helmut Thielen: Dialektik im Stillstand. Theologische Konstitution und Begriff der Praxis in der Kritischen Theorie, unter besonderer Berücksichtigung des Denkens von Walter Benjamin (eine deutsche Ausgabe ist vorgesehen).

17 Vgl. Anmerkung 25.

18 Miguel Manzanera: Die Option für die Armen und die Wirtschaft, in: Raúl Fornet-Betancourt (Hg.): Verändert der Glaube die Wirtschaft? Theologie und Ökonomie in Lateinamerika, Freiburg/Basel/Wien 1991.

19 Vgl. Marx’ Zustimmung zum zeitgenössischen Kommentar angesichts einer projektierten Hundesteuer: »Arme Hunde! Man will euch wie Menschen behandeln!« – das heißt wie ›Staatsbürger‹. In: Karl Marx: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung, in: MEW, Bd. 1, S. 385.

20 Helmut Thielen: Befreiung. Perspektiven jenseits der Moderne, Würzburg 1994, S. 166f.

21 Ebenda, S. 169.

22 Unter Neoliberalismus ist eher die Ideologie als die »materielle« Wirklichkeit des Kapitalismus zu verstehen. Sie wird vielfach ›Toyotismus‹ genannt, weil ihre Methoden der Mehrwertproduktion ausgehend von Japan entwickelt worden sind.

23 Eduardo Galeano: Von der Notwendigkeit, Augen am Hinterkopf zu haben, Wuppertal 1992, S. 181.

24 Albert Camus: Der Mensch in der Revolte, Reinbek b. Hamburg, S. 224.

25 Um noch einmal Camus anzuführen: Da sie nicht »Ketzer« sein wollten, die Ketzerei in ihren Reihen und außerhalb vielmehr blutig ausgerottet hatten, mußten die Bolschewiki »als Unterdrücker … enden« (S. 202) – als Unterdrücker der Menschenwürde vor allem. »Jedesmal wenn die Revolution in einem Menschen den Künstler tötet, entkräftet sie sich selbst ein wenig« (S. 224). Denn Kunst manifestiert die Utopie der aufgehobenen Entfremdung als Wirklichkeit des schönen Scheins in der Seele des Menschen.

26 Diese Überlegungen zu Begriff und Realität des Marktes als struktureller Gewalt und zu notwendigen Differenzierungen in Begriff und Realität der Utopie wollen ausdrücklich auch verstanden werden als Kritik an der Behandlung dieser beiden Themen in einigen Texten von Franz Hinkelammert – vgl. Franz Hinkelammert: Gebrauchswert, Nutzenpräferenz und postmodernes Denken: die Wertlehre in der Wirtschaftstheorie und ihre Stelle im Denken über die Gesellschaft, in: Raúl Fornet- Betancourt (Coord.): Die Diskursethik und ihre lateinamerikanische Kritik, Aachen 1993, S. 66ff.; Ders.: Diskursethik und Verantwortungsethik – eine kritische Stellungnahme, in: Raúl Fornet-Betancourt (Coord.): Konvergenz oder Divergenz? …, a.a.O., S. 111ff.; Ders.: Politisches Projekt und Utopie vor der Postmoderne, in: Franz Hinkelammert: Der Glaube Abrahams und der Ödipus des Westens. Opfermythen im christlichen Abendland, Münster 1989, S. 189ff.; Ders.: Der kategoriale Rahmen des anarchistischen Denkens, in: Franz Hinkelammert: Kritik der utopischen Vernunft. Eine Auseinandersetzung mit den Hauptströmungen der modernen Gesellschaftstheorie, Mainz 1994, S. 107ff.