Publikation Gesellschaftstheorie - Globalisierung Christian Herwartz: Gerechtigkeit und Menschenrechte - Der Diskurs der Religionen und Weltanschauungen

Beitrag zur Konferenz "Gerechtigkeit oder Barbarei" Interkontinentales Forum vom 5. bis 6. Oktober 2000 in Berlin

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Erschienen

Oktober 2000

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Gerechtigkeit oder Barbarei.

Interkontinentales Forum vom 5. bis 6. Oktober 2000

I

In den letzten 25 Jahren habe ich nach meinem philosophisch-theologischen Studium als LKW-Fahrer, Pressenführer, Dreher und Lagerarbeiter zuerst drei Jahre als „Gastarbeiter“ in Frankreich danach in einem Großbetrieb in Berlin gearbeitet. Als Gewerkschaftler - IG-Metall - habe ich einige Aufgaben im Betrieb und in der Organisation wahrgenommen.

Ich bin Christ und Mitglied der Gesellschaft Jesu (www.jesuiten.de). Neben anderem engagiere ich mich in der Begleitung junger Erwachsener, die ein soziales Jahr mit den Jesuit-European-Volunteers (JEV) machen

Die religiöse Gemeinschaft „Jesuiten“ hat 1975 neu über ihre Identität nachgedacht und sie auf den folgenden Begriff gebracht: Einsatz für Glauben und Gerechtigkeit. In den letzten Jahren sind die Schlüsselbegriffe Inkulturation und interreligiöser Dialog dazugekommen.

Glaube und Gerechtigkeit sind für uns keine von einander trennbare Wirklichkeiten. Sich ihnen zu nähern bedeutet einen Weg der Begegnung. Dazu muß es zum konkreten Kontakt mit Unterdrückten, Armen, Besitzlosen kommen. “So werden wir lernen, uns ihre Ängste, Sorgen und Hoffnungen zu eigen zu machen. Nur so wird uns mit der Zeit wirkliche Solidarität gelingen”, heißt es in einem internen Text 1975. “Ohne geduldige, nicht übereilte Schritte stünde der Einsatz für Arme und Unterdrückte im Widerspruch zu unseren eigenen Absichten und würde verhindern, daß diese ihre eigenen Erwartungen zu Gehör bringen und sich selbst die Voraussetzungen schaffen, um ihr persönliches Schicksal wirksam in die Hand zu nehmen.

Mit dieser Zielsetzung leben wir Jesuiten seit 22 Jahren in einer kleinen Gemeinschaft in Berlin-Kreuzberg zusammen mit liebenswerten Menschen, die oft in Schubfächer wie alkoholkrank, drogenabhängig, Ausländer, psychisch krank, Asylanten, Straftäter weggeschoben werden. Sie gehören für viele geradezu nicht mehr zur Bürgergesellschaft. Diese Ausgrenzung, aber auch jede Form von Paternalismus zu überwinden, ist unser erklärtes Ziel, also eine geschwisterliche Welt, in der die Unterschiedlichkeit der Begabungen und die Gleichheit der Würde jedes Menschen gesehen und angenommen werden. Diese Wertschätzung führt zu individuellen und gesellschaftlichen Konflikten.

II

In dem weiteren Verlauf des Podiums 3 habe ich das vorbereitete Referat beiseite gelegt und bin auf Stichworte der Zapatistas eingegangen, um die Chance der Diskussion mit ihnen über gemeinsame Beobachtungen und Ziele zu nutzen. Besonders ging es um das Suchen nach Identität in der Vielfalt, das Wachsen im interkulturellen Kontakt und darin das Entdecken der eigenen Wurzeln, die Überwindung von paternalistischem Verhalten und Strukturen und das Leben mit Visionen.

Diese Stichworte wurden aufgenommen und eigene Erfahrungen benannt. Für die eigene Entwicklung und das Engagement mit anderen ist es wichtig zu erkanntem Unrecht nein zu sagen. In diesem Nein sind versteckt positive Gerechtigkeitsaussagen und Visionen angesprochen. In einem Bündnis des Neins, im Widerstand gegen die Verletzung der Menschenrechte habe ich – vielleicht aus meinem Glauben/inneren Menschsein heraus ? – zu gegebener Zeit das Bedürfnis, das von mir entdeckte Ja zu erahnen, es erst vielleicht stotternd, dann laut auszusprechen, es zu feiern. Das alleinige Nein würde die Entfremdung nicht überwinden. Bei diesem Vorgang ist das Erinnern an alte Befreiungen, in deren Geschichte ich mich weiß, sehr wichtig.

Grundlegend in der jüdisch-christlichen Tradition ist die Befreiung aus der Sklaverei in Ägypten. Wichtig ist z.B. auch die Überwindung der Sklaverei durch die Christen in den ersten Jahrhunderten. Sie haben auf die gleiche Würde der Menschen gepocht (z.B. Paulusbriefe) und selbst Sklavendienste übernommen, um so Sklaven freizukaufen. Wir kennen die vielen Rückschläge, Entwürdigungen von Menschen und auch den Rückfall in die Sklaverei z.B. nach der Eroberung von Amerika.

In der Abwehr eines solchen Rückfalls sind die 10 Gebote in der Bibel entstanden, aus denen wir die Struktur der Sklaverei in Ägypten deutlich ablesen können: Der Sklavenherr – der Pharao - hat sich als unhinterfragbarer Gott verstanden (Gegenwehr 1-3: Entlarvung des Götzen – Anbetung Gottes), dem der Sklave immer verfügbar war (Gegenwehr 4: arbeitsfreier Tag, Sabbatgebot), der die Unbrauchbaren aussondern konnte (Gegenwehr 5: Versorgungssicherung z.B. der Eltern), der beliebig Herr über Leben und Tod war (Gegenwehr 6:Tötungsverbot), der sich der Wahrheit nicht verpflichtet wußte (Gegenwehr 9: Vertrauensschutz), der Frauen und Besitz der Sklaven beliebig für sich nutzen konnte und eine eigenständige Existenzsicherung - Haus und Boden - nicht zuließ (Gegenwehr 7-10: Schutz von Lebenszusammenhängen/der Großfamilie und dem existenzsichernden Eigentum).

< der Text in der Bibel steht im 2. Buch Mose/Exedus 20,1-17; Literatur: Frank Cüsemann, Bewahrung der Freiheit, Das Thema des Dekalogs in sozialgeschichtlicher Perspektive, Gütersloh 1993 >

Dem Widerstand gegen einen Rückfall in den Faschismus sollte durch das Grundgesetz der BRD ein Instrument in die Hand gegeben werden. Auch in ihm ist indirekt die menschliche Entwürdigung im III. Reich nachgezeichnet: der Mensch sollte dem Führer ganz verfügbar sein (Gegenwehr Bürgerrechte gegen Verwaltungen, der öffentlichen Gewalt bis hin zur Widerstandspflicht).

Im Abbau dieser erinnernden Worte/Gebote/Gesetze wird der Sklaverei die Tür geöffnet. In diesem Kontext folgt nun ein Dokument aus dem letzten Jahr. Es ist ein Brief an das Bürgeramt, worin sich der Autor gegen einen richterlichen Dienst als Schöffe wehrt.

Dokument (persönliche Angaben wie Name, Wohnort sind gelöscht):

An das

Bürgeramt Kreuzberg

Yorckstr. 4 - 11

10958 B e r l i n

Betr.: Schöffenwahl 2000, Geschäftszeichen BürgA/1, Ihr Brief vom 07.11.1999

Sehr geehrte Mitbürgerin, sehr geehrter Mitbürger,

in Ihrem Brief haben Sie mich davon informiert, daß mein Name nach dem Zufallsprinzip auf die Vorschlagslisten für Schöffen (ehrenamtliche Richter in Strafsachen) der Geschäftsjahre 2001 bis 2004 geraten ist.

Sie fordern mich auf, eine Erklärung mit einigen Angaben zu meiner Person abzugeben:

Hier kommen die Angaben zu: Name, Vornamen, Geburtsdatum, Geburtsort, Wohnanschrift, Erlernter Beruf, Ausgeübter Beruf.

Da ich mich nicht bereit erkläre, als Schöffe für die Geschäftsjahre 2001 bis 2004 zur Verfügung zu stehen, bin ich auch nicht damit einverstanden, daß diese Angaben gespeichert und zur Überprüfung meiner Identität dem Landeseinwohneramt und zur Feststellung der Schöffenfähigkeit beim Bundeszentralregister übermittelt werden.

Hinweis: Alle meine Angaben erfolgen freiwillig.

Berlin, den 12. Dezember 1999

Begründung:

Mir ist bekannt, daß die Ausübung des Schöffenamtes eine BürgerInnenpflicht ist, und ich habe großen Respekt vor Menschen, die dieses Amt verantwortlich ausüben, die Anzahl von Fehlurtei­len vermindern und damit viel Leid von Menschen abwenden. Die Ergänzung der juristisch aus­gebildeten Richter durch Menschen aller Bevölkerungsschichten ist für mich ein positives strukturelles Element unserer Gesellschaftsordnung; ohne Zustimmung wenigstens eines Schöffen kommt es zu keinem Urteilsspruch des Gerichtes.

Mir ist bekannt, daß die Nichterfüllung dieser Pflicht geahndet werden kann. Ich nehme eine mögliche Strafe inkauf. Denn ich sehe mich genötigt, den richterlichen Dienst abzulehnen, bei dem ich mich dem Recht unterordnen müßte. Die gegenwärtige Rechtsentwicklung stellt für mich eine gesellschaftliche Bedrohung dar. Von daher begründe ich meine Verweigerung

(A) mit Artikel 20 des Grundgesetzes

(4) Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist.

und (B) mit der Nichtachtung der - für mich göttlichen - Weisung, den angehäuften Berg mensch­lichen - auch richterlichen - Unrechts regelmäßig durch eine Entschuldung und eine General­amnestie abzutragen; in der Sprache der Bibel wird im 3. Buch Mose (Leviticus) im Kapitel 25 vom Erlassjahr gesprochen:

(10) Heiligt das fünfzigste Jahr und verkündigt Freiheit im Lande für alle Bewohner. Ein Erlassjahr soll es für euch sein.

und es ist Teil der Botschaft Jesu, wie sie im 4. Kapitel des Lukasevangeliums steht:

(18 - 19) Er (Gott) hat mich gesandt,

damit ich den Armen eine gute Nachricht bringe;

damit ich den Gefangenen die Entlassung verkündige

und den Blinden das Augenlicht;

damit ich die Zerschlagenen in Freiheit setze und das Erlassjahr des Herrn ausrufe.

(A)1 Zunahme strukturellen rechtlichen Unrechts

Auf Grund der Erfahrungen während des III. Reiches haben die Väter und Mütter des Grundgeset­zes menschliche Grundrechte zusammengetragen. Sie waren sich bewußt, daß Hitler legal mit de­mokratischen Verfahren an die Macht gekommen war. Um die Wiederholung einer solchen Machtergreifung zu erschweren, schrieben sie wichtige Passagen im Grundgesetz als unantastbar fest und gaben damit den Bürgerinnen und Bürgern Mittel zum Widerstand gegen eine Diktatur in die Hand. Die Erfahrungen während des III. Reiches werden für mich besonders deutlich in fol­genden Abschnitten:

Artikel 3 (Gleichheit vor dem Gesetz)

Artikel 4 (Glaubens-, Gewissens- und Bekenntnisfreiheit)

Artikel 5 (Meinungsfreiheit)

Artikel 6 (Ehe und Familie)

Artikel 12a (Wehr- und Dienstpflicht)

Artikel 13 (Unverletzlichkeit der Wohnung)

Artikel 14 (Eigentum, Erbrecht, Enteignung)

Artikel 16a (Asylrecht)

Alle diese Grundrechte wurden im Laufe der Zeit ausgehöhlt und in entscheidenen Punkten außer Kraft gesetzt. Damit wurde die furchtbaren geschichtlichen Erfahrungen beiseite geschoben und totalitären Bestrebungen nach Machtübernahme die Mittel zur Unterdrückung in die Hand gegeben, die sich schon jetzt schädigend auf das Sozialgefüge auswirken.

Art. 3 (1) Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich.

Dieser Grundsatz ist durch das Ausländergesetz weitgehend außer Kraft gesetzt. Es kommt bei Menschen ohne deutschen Pass zu Doppelbestrafungen.

Zur Abwendung der häufigen Verstöße gegen die Grundsätze in den Absätzen (2) und (3) - Nicht­benachteiligung wegen Geschlecht, Abstammung, Rasse, Sprache, Heimat und Herkunft, Glauben, ... - fehlt strukturelle, auch gesetzliche Hilfestellung. Außerdem sind noch Gesetzte aus der Zeit des Nationalsozialismus in Kraft und andere unsensible Gesetze sind hinzugekommen.

Art. 4 (2) Die ungestörte Religionsausübung wird gewährleistet.

Die Religionsausübung kann nicht nur auf die Möglichkeit zum Gottesdienstbesuch und zur Glau­benslehre beschränkt sein. Die Glaubenspraxis (Religionsausübung) umfaßt das ganze

Leben und ist nur darin einzuschränken, wo sie elementaren Rechten anderer entgegen steht. Zur Glaubenspraxis gehören für Christen besonders die im Matthäusevangelium Kapitel 25 genannten Tätigkeiten:

(35) Ich (Jesus/Mitmenschen) war hungrig und ihr habt mir zu essen gegeben; ich war durstig und ihr habt mir zu trinken gegeben; ich war fremd und obdachlos und ihr habt mir Kleidung gegeben; ich war krank und ihr habt mich besucht; ich war im Gefängnis und ihr seid zu mir gekommen.

Nur als Beispiel: In Deutschland wird mit rigiden Bestimmungen strukturell der Besuch von Gefangenen - und damit die ungestörte Religionsausübung - über jedes verantwortliche Maß hinaus massiv eingeschränkt.

Diese Maßnahmen verhindern auch den demokratisch notwendigen Einblick in die von staatlicher Gewalt geprägte Sonderwelt der Strafjustiz. Gesetze sollen staatliches Handeln kontrollierbar und einschränkbar machen. Diese Aufgabe der Gesetze (Schutz vor staatlicher Gewalt) wird durch die im Strafvollzug praktizierten Maßnahmen behindert und leistet Mißbrauch Vorschub.

Art. 4 (3) Niemand darf gegen sein Gewissen zum Kriegsdienst mit der Waffe gezwungen werden....

Deserteure im Zweiten Weltkrieg haben 50 Jahre auf ihre Rehabilitierung warten müssen. Deser­teure aus kriegsführenden Ländern werden in ihre Heimat zurückgeschickt, weil ihre staatliche Verfolgung legitim sei. Sind wir lernunfähig? Ist nur deutsches Gewissen zu schützen?

Art. 5 (1) ...Eine Zensur findet nicht statt.

Wenn auch keine klassische Zensur stattfindet, so wird doch die Meinungsbildung durch Geheimhaltungsvorschriften, gezielte Desinformation der Presse seitens staatlicher Stellen, sowie Anzei­gen gegen anderslautende Meinungsäußerungen, usw. gesteuert, die dann einer klassischen Zensur nahe kommen. Es besteht eine strukturelle Schwächung der Pressefreiheit, was eine Aushöhlung des grundgesetzlichen Anliegens darstellt.

Art. 6 (1) Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Schutz der staatlichen Ordnung.

Wenn kein deutscher Paß vorliegt, wird dieses Grundrecht durch das Ausländerrecht außer Kraft gesetzt. Es gibt aber kein Menschenrecht nur für Deutsche. Die Mißachtung trifft alle Menschen.

Artikel 12a (2) ... Die Dauer des Ersatzdienstes darf die Dauer des Wehrdienstes nicht übersteigen. ...

Das gegen dieses Grundgesetz verstoßende Gesetz ist auch nicht mit dem Hinweis auf Wehrübun­gen zu rechtfertigen; sie machen im Durchschnitt pro Wehrpflichtigen keinen Tag aus.

Art. 13 (1) Die Wohnung ist unverletzlich.

Die Gesetze im Zusammenhang mit dem großen Lauschangriffes haben dieses Recht fundamental zusammengestrichen. In der Bundestagsdebatte wurde mehrheitlich davon ausgegangen, daß der Vorrang nicht dem grundgesetzlich nicht einzuschränkenden Schutz des Einzelnen sondern der geheimdienstlichen Tätigkeit des Staates zu geben sei. Die Aufweichung des Rechtes der BürgerInnen geschah trotz der Erfahrungen mit Gestapo und Stasi.

Art. 14 (2) Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohl der Allgemeinheit dienen.

Diesem Artikel wird durch viele Gesetze widersprochen, die eine wichtige Grundlage der Recht­sprechung darstellen. Die Folgen für unsere Gesellschaftlich sind katastrophal: der Bevölkerungsanteil der Armen steigt drastisch. Ein Ausgleich ist nicht in Sicht. Besonders an dieser Unrechtvergrößerung möchte ich mich nicht beteiligen. Der Schutz des Privateigentums ist geradezu fun­damentale Ausrichtung der Rechtsprechung und steht damit im Gegensatz zum Grundgesetz. Selbst bei dem gesundheitsschädlichen Verhalten der Tabakindustrie würde jemand, der sich dagegen stemmt und ihre verführerischen Plakate abreißt, wegen eines Eigentumsdeliktes bestraft. Hat Eigentum einen höheren Wert als Gesundheit?

Art. 16a (1) Politisch Verfolgte genießen Asylrecht.

Viele Menschen aus Deutschland haben nur überlebt, weil sie in anderen Ländern Asyl bekamen. Im Grundgesetz haben wir uns zu einem lebensrettenden Verhalten verpflichtet. Das Asylrecht wurde durch die neu hinzugefügten Abschnitte (2) bis (5) praktisch beseitigt. Asyl wird nur noch in ganz wenigen Sonderfällen ausgesprochen.

Spätestens bei dieser Grundgesetzveränderung wurde für mich deutlich, daß der Gesetzgeber sich von den Erfahrungen der deutschen Geschichte gelöst und Dämme gegen eine furchtbare Wiederholung weggerissen hat. Viele Ausländer haben seitdem gespürt; eine Reihe von ihnen wurde auch körperlich bedroht, verletzt, umgebracht.

Diese angeführten Beispiele stellen für mich alle einen massiven Verstoss dar gegen

Art. 1 (1) Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.

Dieser Artikel ist ausdrücklich auf alle Menschen bezogen und nicht nur auf Menschen mit deutscher Staatsangehörigkeit.

Für alle Fälle der partiellen Abschaffung des Grundgesetzes und der Machtübernahme antidemokratischer Kräfte, die ja immer bis in die Parlamente hinein vorhanden sind, wurde der Artikel 20 (4) ins Grundgesetz geschrieben, auf den ich mich berufe.

a) Ich verweigere, diese Grundgesetzaußerkraftsetzungen als ehrenamtlicher Richter (Schöffe) umzusetzen. Mir scheint diese milde Form des Widerstandes nach der notwendigen Güterabwägung in der jetzigen Situation angemessen. Es ist nur eine Form des Widerstandes, die von anderen ergänzt werden muß, damit ein sich erneuernder demokratischer Weg mit den notwendigen rechtlichen Absicherungen wiedergefunden wird.

b) Das gerichtliche Vorgehen im Blick auf die Gesellschaft und die Konfliktparteien halte ich oft nicht für friedensfördernd, weil es den Täter isoliert und das Opfer zuschauen läßt. Diese Trennung verstellt den Blick auf die Realität und verhindert den notwendigen Täter-Opfer-Ausgleich. Ich halte auch sonst nicht viel von einer Angst-/Droherziehung, sondern mehr von dem Ausgleich berechtigter Interessen aller beteiligten Parteien.

Zur Klarstellung: Es geht mir nicht um eine grundsätzliche Ablehnung des Rechtes. Neben dem Grundgesetz werden auch in vielen anderen Gesetzen wichtige geschichtliche Erfahrungen weitergegeben, auf die wir angewiesen sind.

(A) 2 Faktisches Unrecht im derzeitigen deutschen Justizwesen

Als Schöffe könnte ich mittun, das von der Justiz eigenverursachte Unrecht zu verkleinern. Leider gibt es auch hier vom Einzelnen nicht zu überwindende fundamentale Hindernisse; Beispiele:

a) Trotz sinkender Kriminalstatistiken gibt es in Deutschland zur Zeit Jahr für Jahr mehr Gefan­gene, weil die durchschnittliche Verurteilungdauer immer länger und eine vorzeitige Entlassung seltener wird. In der Bevölkerung ist ein Sicherheitswahn ausgebrochen, der von Politikern, besonders in Wahlkämpfen, willig bedient wird. Gegenbewegungen sind nur wenige sichtbar. "Im Namen dieser Volksmeinung" möchte ich über keinen Menschen zu Gericht sitzen. Da wird Strafe zur Rache. Resozialisierung ade.

b) Gefängnisse sind heute fast ausschließlich Schulen der Kriminalität. Das Wegsperren dorthin fördert kriminelles Verhalten nach der Entlassung. Gefängnisse gefährden damit die innere Sicherheit, besonders wenn nicht an der Ursache der Probleme gearbeitet werden kann, z.B. die Drogenabhängigkeit, die Beschaffungskriminalität nötig macht; die Obdachlosigkeit, usw., die zu Bagatelldiebstählen führt (mit Diebstählen von einem Artikel im Wert von 8 DM beschäftigt sich die Justiz und füllt Gefängnisse); die Ausländergesetze, mit der Menschen auf Grund ihres Passes kriminalisiert werden.

c) Die Gefängnisse sind überfüllt. Eine Einweisung ist unter diesen Umständen ein Vergehen gegen die Menschenwürde. Die Ursache der Überfüllung ist bekannt (siehe a). Jeder und jede, die es wissen will, kann es wissen. Es fehlt in der Gesetzgebung an Gegenwehr, wie sie z.B. in Österreich in den letzten 15 Jahren mit Erfolg betrieben wurde. Ich möchte mich nicht an der Verletzung der Menschenwürde beteiligen, Menschen in die deutschen Justizvollzugsanstalten wegzusperren. Manche Situationen sind folterähnlich. Das wichtige Ziel der Strafe, die Resozialisierung, gerät dabei fast durchgehend aus dem Blick.

(B) Fehlendes Unrechtsbewusstsein - die größere Gerechtigkeit Gottes

Auch das beste menschliche Recht fördert in Teilbereichen Unrecht und jede menschliche Rechtsprechung ist mit Fehlern behaftet. Rechtsprechung, die sich dessen nicht bewußt ist, verabsolutiert ihr Handeln. Die Untaten einer sich nicht hinterfragenden Rechtsprechung füllen lange Listen. Auf die Selbstreinigung des Justizwesens zu hoffen, ist ohne eine größere Bewegung im Volk unangemessen. Selbst brutale Nazirichter blieben nach dem Krieg in Amt und Ehren. Aus dieser Geschichte lernend und im Wissen um die Gerechtigkeit, die durch keine Rechtsprechung erreicht wird, ist zumindestens eine regelmäßige Generalamnestie angebracht, um sich auf die gleiche Würde aller Menschen zu besinnen und sie besser zu achten. Aus diesem Grunde enga­giere ich mich seit einiger Zeit in einer Gruppe für eine Amnestie 2000.

Gerechtigkeit, die für mich letztlich eine Eigenschaft Gottes ist, läßt die Würde des Menschen aufleben, wird durch Wiedergutmachung und Verzeihung gefördert, entlarvt Selbstgerechtigkeit, ist Grundlage des Friedens. Gerechtigkeit öffnet die Chance des Neuanfangs individuell und gesellschaftlich. Eine Gesellschaft, die sich nicht sichtbar von dem Wunsch nach Gerechtigkeit herausfordern läßt, stirbt in ihrer Menschlichkeit ab.

Ich bin mit dieser Perspektive lieber den Opfern der Rechtsprechung nahe und suche aus der Nähe zu ihnen, gesellschaftlich zu handeln. Dieses Vorgehen begreife ich als religiös/zentralmenschlich; der Impuls dazu geht für mich vor allem vom Handeln Jesu Christi aus, der sich durchgängig zu den gesellschaftlich Ausgegrenzten gestellt hat - auch im Kontakt zu vermögenden und einflußreichen Menschen seiner Zeit.

Die Überwindung von Ausgrenzung kennzeichnet den Weg zu einer friedlicheren, gerechteren Welt. Auch ich mache dabei Fehler. Ich bin mir bewußt, daß dieser Weg oft durch die Verweigerung gängiger Handlungsmuster gehen muß und Offenheit nötig ist, in der ich das eigene Handeln hinterfragen lasse. Wenn unsere Rechtsordnung schon durch ein nachfragendes Kirchenasyl ins wanken gerät - wie Regierungsmitglieder meinen -, dann steht sie auf tönernen Füßen.

Mit Entlassenen den Weg aus der Ausgrenzung zurück in eine hoffentlich sich immer wieder erneuernde, gastfreundlichere Gesellschaft zu gehen, in der Ausgrenzung nur als gerechte Notwehr für eine eng begrenzte Zeit geduldet wird und in der Gefangene, Behinderte und sonst wie an den Rand Gestoßene zur Gesellschaft dazugehören, in der es keine Menschen Erster und Zweiter Klasse gibt - das ist meine Vision. Mit dieser Perspektive engagiere ich mich gerne, auch wenn dies Bestrafung durch staatliche Gerichte nach sich ziehen sollte. Wichtiger ist mir, in menschlicher Gemeinschaft so zu leben, dass meine Vision schon jetzt greifbar ist und dass darin das Gewissen wachsen kann, um strukturelle und individuelle Unfreiheiten rechtzeitig zu erkennen.

Die größere Freiheit und Menschlichkeit zu riskieren bleibt immer ein Wagnis. Ich hoffe, dass meine Verweigerung des Schöffenamtes in der jetzigen gesellschaftlichen Situation ein guter Schritt auf dieses Ziel hin ist.

Haft und andere Ausgrenzungen sind Gewaltanwendungen. Sie dürfen für keinen Menschen das letzte Wort sein - Gottes Gerechtigkeit zeigt sich für mich in der christlichen Erfahrung, dass Gott sich an den am meisten ausgegrenzten Platz in der menschlichen Gesellschaft drängen ließ und von dort aus menschliche Gerechtigkeit herausfordert. Gesteigertes Sicherheitsdenken grenzt sich von diesem Ursprung des Lebens ab, der Gott für mich ist, und zerrüttet direkt die menschliche Fähigkeit zu vertrauen, Gemeinschaft zu fördern, zu lieben, ...

Staatliche Rechtsprechung ist notwendig - produziert aber schnell Unrecht, wenn Gewaltanwendung und Rachegedanken zu unwiederrufbar letzten "Worten" werden.

Ende des Dokumentes

Noch ein Literaturhinweis zum Thema des Podiums:

Norbert Brieskorn, Menschenrechte – eine historisch-philosophische Grundlegung, Stuttgart 1997

Für Nachfragen und Kontakte: christianherwartz@web.de