Publikation Parteien / Wahlanalysen Zur Bundestagswahl 2002

von Christoph Spehr

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Reihe

Online-Publ.

Autor

Christoph Spehr,

Erschienen

Oktober 2002

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Nur online verfügbar

Zur Bundestagswahl 2002: Eine Verteidigung der WählerInnen

 

Wahlen werden überschätzt. Hauptsächlich jedoch von ihren KritikerInnen. Gerade das, was den Menschen, die an Wahlen teilnehmen, gerne vorgeworfen wird: Blauäugigkeit, Illusionen, Leichtgläubigkeit, Unüberlegtheit, kann ich im Wahlergebnis der letzten Bundestagswahlen nicht finden. Und so sehr mir Demokratiekritik am Herzen liegt, so dringend erscheint es mir, dass eine in Teilen politromantische, fundamentalistische und elitäre Kritik an den wählenden 80 % der Bevölkerung eingestellt wird; eine Kritik, die ich schlicht für vordemokratisch halte. Nach allem was wir wissen und sehen können, sind die Leute am 22.September relativ nüchtern und sachlich zu Werke gegangen, weit nüchterner und sachlicher als ihre KritikerInnen. Und das ist auch gut so.

 

1. Zur technischen Rationalität des WählerInnenverhaltens

Die WählerInnenschaft hat sich für den Fortbestand der rot-grünen Regierung entschieden, wenn auch knapp. Sie hat die SPD wieder zur stärksten Partei gemacht, das Gewicht der Grünen in der Regierung gestärkt, und das "Projekt 18" der FDP ins Reich der Lächerlichkeit verwiesen. Und sie hat der PDS den Wiedereinzug als Fraktion in den Bundestag verweigert.

Unterm Strich verlor die SPD 1,6 Mio. Stimmen ans bürgerliche Lager. SPD, Grüne und PDS verloren zusammen gut 700.000 Stimmen ans Lager der NichtwählerInnen, während CDU/CSU und FDP ca. 400.000 Stimmen von sonstigen (in der Regel rechten) Parteien einsammelten. Zwischen Grünen, PDS, FDP und Union fanden kaum Wanderungen statt. Dagegen verlor die PDS knapp 300.000 Stimmen an die SPD, die wiederum ca. 500.000 Stimmen an die Grünen abgab.

Bemerkenswert daran ist das starke "Lagerbewusstsein" der WählerInnen. "Herumgeirrt" von den Grünen zur FDP oder von der PDS zur Union wird kaum, während innerhalb des linken Lagers viel Bewegung stattfindet. Ganz offensichtlich wird zuerst über die künftige Regierung entschieden, die man/frau haben will, dann wird durch die Stimmabgabe innerhalb des Lagers der Akzent gesetzt. Zwischen den Blöcken wiegt der alte "Kanzlerbonus", der Vorteil des Regierens, augenscheinlich nicht mehr viel, eher umgekehrt: das Regierungslager hat Reibungsverluste zu beklagen, da es unvermeidlich anecken muss.

All dies steht für ein ziemlich realistisches Umgehen mit der eigenen Stimme. Man/frau versucht deren Wirkung zu maximieren, während traditionelle Milieubindungen sich abschwächen. Die starke Bedeutung der "Kanzlerwahl" und der Wunsch nach festen Koalitionsaussagen ist ein realistischer und selbstbewusster Wunsch: immerhin ist 1998 zum ersten Mal in der BRD ein Regierungswechsel durch Wahlentscheidung (und nicht durch Koalitionswechsel) erfolgt.

 

2. Zur inhaltlichen Rationalität des WählerInnenverhaltens

Es ist eine Tatsache, dass unter Abwesenheit starker sozialer oder politischer Basisbewegungen - und so sieht es nun mal zur Zeit aus - sich ein Korporatismus von Interessengruppen durchsetzt, dem gegenüber in vielen Fragen die Entscheidungsspielräume einer Regierung Schröder oder Stoiber ähnlich gering wären. Dennoch gibt es eine lange Reihe von politischen Entscheidungen, die unter einer Regierung Stoiber anders ausfallen würden: Ökosteuer, Einwanderungsgesetz, Anerkennung gleichgeschlechtlicher oder unverheirateter Partnerschaften wie auch alleinerziehender Familien, usw. Dennoch dürften all diese Fragen nicht das Entscheidende gewesen sein für die WählerInnenschaft. Es gibt ein gesundes Misstrauen gegenüber Parteiversprechen, aber eben auch ein instinktives Wissen darum, dass es einen Unterschied macht, welchen Interessengruppen eine Regierung wie stark verpflichtet ist (z.B. Gewerkschaften versus "Mittelstand"), und wessen Personal durch die Institutionen sickert - vier Jahre sind hier bekanntlich eine ziemlich kurze Zeit.

Selbst in Italien oder Österreich fiel es schwer anzugeben, wo sich der rechtsextreme oder faschistische Charakter der Regierung Berlusconi oder der Mitregierung Haiders denn nun im konkreten Regierungshandeln ausdrückte. Aber auch dies gilt eben nur für die "großen", blockierten Fragen. Auf der Ebene von Kultur- und Personalpolitik, der finanzpolitischen Ausdörrung unbequemer Organisationen und Institutionen, der Durchdringung angeblich "weicher" Bereiche wie Bildung, Erziehung und Medien, entfaltete sich hier reges Treiben. Von der Bedeutung dieser langfristig angelegten Politik "kultureller Programmierung" verstehen die bundesdeutschen WählerInnen, die sich insbesondere keinen Stoiber als Kanzler vorstellen konnten, offenbar mehr als jene, die ihnen so leichtfertig politische Naivität vorwerfen. (Die Union hat vor allem wegen Stoiber verloren. Von den 1,2 Mio. gewonnenen Stimmen der Union stammten 1 Mio. aus Bayern. Im Rest der Republik kam die Union praktisch nicht voran, schon gar nicht bei JungwählerInnen und Frauen.)

 

3. Für eine realistische Kritik des Wahlsystems

Alles in Ordnung also? Die Demokratie, beste aller möglichen Welten? Mitnichten. Realistische Kritik am Wahlsystem und am politischen System tut not. Das Grundproblem einer formalen, auf die Wahl von Entscheidungsträgern fixierten Demokratie ist bekanntlich, dass sie die bestehende Machtverteilung in der Gesellschaft schlicht abbildet. Wer in der Realität mächtiger, reicher, öffentlicher ist, der drückt auch dem stärker seinen Stempel auf, was bei Wahlen herauskommt und wer im repräsentativen System überhaupt vorkommt. An dieser Grundtatsache hat sich nichts geändert, und deshalb können gesellschaftliche Verhältnisse nicht zuallererst durch Wahlen verändert werden, sondern durch soziale Auseinandersetzungen und emanzipative Kämpfe auf allen Ebenen der Gesellschaft, durch die reale Machtverhältnisse verschoben werden.

Unterhalb dieser grundsätzlichen Kritik gibt es jedoch vieles noch erheblich konkreter aufzuzeigen. Es ist das Zusammenspiel von Parteienmacht und strukturellem Konservatismus, der ein Aufbrechen der politischen Landschaft so besonders schwer macht. Der Raum der "Zivilgesellschaft" ist einer, der in der BRD (und in den meisten demokratischen Ländern) überwiegend von den Parteien vermessen wird und von ihnen abhängig ist - Stiftungen, Medien, Besetzung diverser Institutionen, Organisationen und Unternehmen. Minderheiten innerhalb der Parteien haben keine nennenswerte Verhandlungsmacht, weil der schlimmste Fall - Abspaltung - angesichts dieser Tatsache plus der 5%-Klausel letztlich nur für die Minderheit schlimm ist. Die Beeinflussung von Parteien und öffentlicher Meinung durch "privat" aufgebrachte Gelder (sprich durch zahlungskräftige Interessen) gilt als normal und wird nicht bekämpft. Die Vergabe der Mandate innerhalb der Parteien wird faktisch strikt von oben geregelt (Listenplätze, Wahlkreise), wodurch WählerInnen von der vielleicht wichtigsten Frage abgeschnitten und AbweichlerInnen in den eigenen Reihen offen diszipliniert werden.

Es gäbe daher viel Raum für präzise Forderungen zur Veränderung des Wahl- und Institutionensystems. Noch mehr Raum gäbe es, die ungenierte Existenz völlig vordemokratischer Räume in der Gesellschaft anzugreifen - in Betrieben, Schulen, Ämtern, praktisch überall.

 

4. Gegen eine romantische Hyperkritik

Es gibt Situationen, in denen Wahlboykott angemessen ist: wenn oppositionelle Parteien oder KandidatInnen gezielt behindert oder bedroht, Wahlergebnisse systematisch gefälscht oder gesellschaftlichen Kräften, die es wollen, die Aufstellung eigener KandidatInnen und ein fairer Wahlkampf verweigert werden. Dies ist in der BRD nicht der Fall, und so sehen das auch die WählerInnen. Dass das noch nicht bedeutet, dass sie tatsächlich der Souverän sind, muss man den meisten WählerInnen nicht erst sagen. Weshalb sie auf die Form der Einflussnahme, die Wahlen immerhin sind, deshalb verzichten sollen, läßt sich aus ihrer Sicht auch nicht begründen.

Die Anti-Wahl-Kritik, die inzwischen wieder Mode wird, macht sich auch nicht die Mühe, darüber argumentieren zu wollen. Sie stützt sich auf ein romantisches "ganz oder gar nicht"; auf Verelendungstheorien (die Wahl des "kleineren Übels" verdeckt die Repressivität der Verhältnisse, welchen also durch die Regierungsmacht des "größeren Übels" in befreiender Weise die Maske vom Gesicht gerissen würde); auf elitäre Vorurteile gegenüber den Menschen (deren Stimmabgabe nicht solidarisch kritisiert, sondern als Tumbheit lächerlich gemacht wird); oder, und dies ist das Bedenklichste, auf einen offen demonstrierten Ekel vor dem Politischen, welches als Postengeschacher, Kompromisslerei, Tagesgeplänkel, eitle Effekthascherei geschmäht wird: um die wirklichen Fragen gehe es ja gar nicht. Hier wird, gewollt oder nicht, eine mir zutiefst verdächtige und sehr deutsche Sehnsucht nach "Tiefe" und Unmittelbarkeit genährt, nach einer vermittlungslosen Einheit von Bevölkerung und politischem Entscheidungssystem, nach einer heroischen Unbedingtheit und nach großen Entscheidungen.

Die wenigen Ansätze, Wahlen für eine Kritik des konkreten demokratischen Systems und seiner Herrschafts- und Entmachtungsfunktionen zu nutzen, ohne dies auf die Aufforderung zum Wahlboykott festzulegen, fand ich interessant. In der Praxis ist dies nirgendwo gelungen. Alle wahlkritischen Aktionen sind auch diesmal wieder in die - wie ausgeführt, m.E. reaktionäre - Propagierung des Nichtwählens abgekippt: nur wer nicht teilnimmt, dessen Kritik und Herz bleibt rein.

 

5. Notwendige Kriterien entwickeln für eine Partei "anderen Typs"

Vermutlich wäre es auch normal, dass immer wieder Parteien aus emanzipativen Bewegungen entstehen oder sich ihnen eng verbunden sehen, dann unter dem Druck der beschriebenen Anpassungs- und Selbstermächtigungstendenzen diese Verbindung kappen, woraufhin das Feld sozialer Bewegungen wieder eine neue Partei erzeugt, usw. Das Schockierende an den Grünen ist, wie schnell und total sie diesen Prozess durchlaufen haben. Man kommt gewissermaßen gar nicht nach. Dies gibt auch hinsichtlich der PDS, aber auch jedweder zukünftiger linker Parteiprojekte zu denken. Jenseits der Kategorien von Verrat und Verschwörung wäre hier zu klären, welche strukturellen Möglichkeiten es gibt, die Bindungskraft der Basisbewegungen - ihren Einfluss auf die Regeln, denen die Partei folgt - zu erhöhen und zu verankern. Dies wäre ein gewagtes, aber auf jeden Fall hoch interessantes Projekt. Warum können bestimmte Entscheidungen nur von Parteimitgliedern gefällt werden? Warum können nicht für bestimmte Bereiche organisierte Bewegungen direkt in einer solchen Partei repräsentiert sein? Welche Möglichkeiten der Öffnung, die auch eine reale, andauernde Mitentscheidung wäre, gibt es? Wie können Gruppen, Fraktionen etc. eine sehr viel anerkanntere und bedeutsamere Rolle spielen, weil ohne sie eine Einflussnahme der Einzelnen gegenüber der Parteispitze nicht möglich ist? Und was, immer wieder, was tut eine solche Partei außer an Wahlen teilzunehmen? Was tut sie zur konkreten Einflussnahme auf all die vordemokratischen Bereiche in der Gesellschaft, die keine blinden Flecken sind, sondern ein nur mühsam unter der Oberfläche gehaltener Eisberg? Was, so gesehen, ist heute eine Partei, was kann, soll und will eine linke "Partei neuen Typs" sein? Was tun wir, um hier und heute damit anzufangen?

 

6. Last not least: die PDS

Die PDS (zu deren Wahl ich bekanntlich mit aufgerufen habe) hat viele Probleme, aber zwei sind durch die Wahlen besonders deutlich aufgezeigt worden. Erstens: Auch die PDS muss, wenn es um Bundestagswahlen geht, wasserklar festlegen und verbreiten, wie sie sich in der Frage der Regierungsbildung verhalten würde. Dazu muss sie sich als Teil des linken Blockes verstehen und klarmachen, dass eine aus diesem Block gebildete Regierung jedenfalls nicht an der PDS scheitern würde - wofür die PDS einige wenige, vorher klare Bedingungen nennen kann, die in realistischem Verhältnis zu ihrer Stärke stehen und die keine parteitaktischen sind, sondern der Mehrheit derer einleuchten, die für den gesamten linken Block stimmen. Die PDS kann und soll eine scharfe Oppositionspolitik betreiben; aber wenn sie die Gefahr heraufbeschwört, dem "größeren Übel" an die Macht zu verhelfen (und sei es nur durch Neuwahlen), wird sie nicht gewählt. Das ist logisch, wenn man sich in die Position der WählerInnen versetzt.

Zweitens: Die PDS wird bislang auf Bundesebene überwiegend aus "uneigentlichen" Gründen gewählt - weil man/frau eine Partei links von Rot-Grün im Parlament will, weil der Osten sonst nicht mehr im Parteienspektrum vorkommt, weil sie ein Ort ist wo Kapitalismuskritik noch möglich ist, weil sie ehrlicher ist als der Rest usw. Das sind gute Überlegungen, in eine Partei einzutreten, aber auf Dauer keine hinreichenden Gründe, eine Partei zu wählen. Es fehlt an klaren, im Wahlkampf und auch sonst vermittelten Antworten, was man/frau denn nun konkret damit erreicht, wenn mensch diese Partei wählt. Ehrliche Antworten genügen. Aber auch hier kann die Antwort letztlich nur die Form haben: langfristig durch eigene Stärke SPD und/oder Grüne zu einer Koalition mit der PDS zu zwingen, in der bestimmte konkrete Eckpunkte vorkommen, und zwar solche, die im aktuellen rot-grünen Projekt nicht vorkommen.

Alles andere ist Quatsch. Bundestagswahlen in der BRD sind, so sehen es die WählerInnen, dazu da eine Regierung zu wählen; und sie wählen mit ihrer Stimme erst den Block, dann den Akzent. Daran kann man sich schon mal die Zähne ausbeißen. Aber naiv und tümlich, um es mit Brecht zu sagen, ist das Volk eben nicht.

 

 

veröffentlicht in: Das Argument Zeitschrift für Philosophie und Sozialwissenschaften, Heft 3/2002 (246)