Publikation Ungleichheit / Soziale Kämpfe - Globalisierung Für einen Wohlstand in Gerechtigkeit

Utopie Kreativ Heft 111 Januar 2000

Information

Reihe

Zeitschrift «Utopie Kreativ» (Archiv)

Erschienen

Januar 2000

Bestellhinweis

Nur online verfügbar

Zugehörige Dateien

UTOPIE kreativ, H. 111 (Januar 2000), S. 25-33

Robert B. Reich – Jg. 1946, Politökonom, Prof. Dr., Brandeis University, Arbeitsminister der ersten Clinton-Regierung

 

Vortrag anläßlich des 50. Jahrestages des DGB am 11. Oktober 1999 im Alten Rathaus München.

Das Dilemma

Vor uns liegt eine große Herausforderung: soziale Gerechtigkeit und Solidarität zu schaffen in einer Welt, in der Kapital sich mit der Geschwindigkeit elektronischer Impulse bewegt und in der ein Teil der wertvollsten Leistungen – Softwareentwicklung, Musik, Unterhaltung, Design, Konstruktionsarbeit, Rechts-, Finanz- und Beratungsdienstleistungen – sich fast ohne Zeitverlust im Cyberspace bewegen können. Technologie und Globalisierung sind nicht mehr zu trennen, wenn das je möglich gewesen sein sollte. Die Fortschritte bei der Telekommunikation – darunter Satelliten, Glasfaserkabel und das Internet – machen jetzt aus allen Unternehmen, allen Institutionen und allen Gemeinschaften Netzwerke von Menschen, die ihre Aktivitäten nicht mehr über Bürokratien, sondern über Bits und Bytes koordinieren können. Dies findet jetzt statt. Mit jedem Tag beschleunigt sich der Veränderungsprozeß. Wir sind es gewohnt, unser Schicksal im Licht eines Konflikts von Ideologien zu sehen. Vor 1989 gab es den Sowjetkommunismus oder den demokratischen Kapitalismus, und der Sozialismus Schwedens war so etwas wie ein Mittelweg. Jetzt gibt es den amerikanischen Kapitalismus oder die europäische soziale Demokratie alter Prägung, und es ist viel Druckerschwärze verbraucht worden über die Frage, ob es irgendwo dazwischen einen »third way« oder eine »neue Mitte« gibt.

Tatsächlich ist es jedoch keine Frage der Ideologie. Es geht um die Praxis. Auf der einen Seite stehen die Menschen, die von unserer Gesellschaft so viel wie möglich stabilisieren und erhalten wollen, einschließlich der Arbeitsplätze und der gewachsenen Bindungen. Das ist ein ehrenwertes Ziel. Menschen sind keine Bits und Bytes, die durch den Cyberspace rasen. Unsere Identität beruht auf dem, was wir tun, auf unseren Fähigkeiten und Fertigkeiten, auf unserem Wohnort und unserer Lebensweise, auf unserer Familie, im weitesten Sinne, auf unseren Freunden, unseren Nachbarn und unseren Wurzeln.

Das andere Extrem vertreten die, die alle Hindernisse beseitigen wollen, die vielleicht jemanden daran hindern, auf dem Markt für sich das Günstigste herauszuholen, fast völlig ungeachtet der Auswirkungen einer Transaktion auf Arbeitsplätze und gewachsene Gemeinschaften. Margaret Thatcher und Ronald Reagan haben diese Einstellung in Großbritannien bzw. Amerika hoffähig gemacht. Aber ihre gemäßigte Form beruht auf dem klassischen Liberalismus, dem es um die wirtschaftliche ebenso wie um die politische Freiheit ging. Ungeachtet ihres Standorts in diesem Kontinuum sind sich fast alle einig, daß die Politik sich ändern muß, um auf die neue Welt des globalen Wettbewerbs, globaler Kapitalströme und rascher technischer Veränderung reagieren zu können. Aber wie soll die Reaktion aussehen? Die Notwendigkeit des Handelns und der Lösungsfindung hat bei uns allen zu einer kontroversen Diskussion geführt – einer Diskussion über die Gestalt der Zukunft, die wir für uns, für unsere Kinder und für unsere Gesellschaft wollen.

Unser Dilemma – und ich sage »unser«, weil es in den Vereinigten Staaten genauso ein Paradoxon wie in Europa ist – liegt in der Verbindung der Ideale von Gemeinschaft und von Freiheit in einer Zeit, in der moderne Technik und globaler Kapitalismus sie scheinbar unvereinbarer machen als je zuvor.

Jeder Versuch, alles beim alten zu belassen – die alten Arbeitsplätze, die alten Industrien, die alten Gemeinschaften und Institutionen zu bewahren und zu schützen –, wäre äußerst kostspielig und würde ständig kostspieliger werden. Nichttarifäre Handelshemmnisse, Subventionen, Steuervorteile, Kapitalverkehrskontrollen und Sozialabgaben, mit denen das Vorhandene konserviert werden soll, anstatt die Menschen auf das Kommende vorzubereiten, können nicht langfristig aufrechterhalten werden. In der Praxis würden solche Maßnahmen im Bankrott der Gesellschaft und einem Einbruch des Lebensstandards enden. Kapital und Talent werden aus einem solchen Land einfach abwandern.

Andererseits wird ein System, in dem jeder einzelne schutzlos den Stürmen des Marktes ausgeliefert ist, enorme Einkommens- und Vermögensunterschiede und chronische wirtschaftliche Unsicherheit produzieren. Letztlich wäre eine solche Gesellschaft keine Gesellschaft mehr, sondern nur eine Ansammlung von Individuen, die sich allein für das eigene Überleben interessieren.

Die Wahl wird oft wie folgt reduziert: ein Staat kann sich heutzutage entweder für den eindrucksvollen Arbeitsplatzzuwachs und die niedrige Arbeitslosigkeit Amerikas entscheiden oder für die größere Einkommensgleichheit und wirtschaftliche Absicherung Europas.

Im amerikanischen Modell sind Arbeitsplätze und Löhne hochflexibel. Auch gewinnträchtige Unternehmen entlassen ihre Mitarbeiter, wenn sie dadurch ihre Profite weiter maximieren können. Die Löhne bestimmt der Markt je nach Angebot und Nachfrage. Qualifizierte Arbeitskräfte mit den richtigen Verbindungen beziehen immer höhere Einkommen. Wer in der Fertigung Routinearbeiten verrichtet oder persönliche Dienstleistungen erbringt, verdient wenig. Der Staat soll vor allem dafür sorgen, daß alles mit rechten Dingen zugeht, er soll das Privateigentum schützen und Inflation wie Deflation verhindern. Das System schafft in der Tat viele Arbeitsplätze, aber es führt auch zu enormer Ungleichheit und Unsicherheit.

Derzeit läuft die amerikanische Wirtschaft ausnehmend gut. Auch die Menschen, die ganz unten auf der Einkommensleiter stehen, haben bescheidene Einkommensverbesserungen. Aber die ungleiche Verteilung von Einkommen und Vermögen hat alarmierende Ausmaße angenommen. Und wenn die Konjunktur nachläßt – was zweifellos geschehen wird (es gibt sie noch, die Konjunktur) –, dann ist zu befürchten, daß viele Amerikaner in Armut leben müssen.

Im europäisch-sozialdemokratischen Modell gibt es eine bessere Absicherung und weniger Ungleichheit als in Amerika, aber auch eine höhere Arbeitslosigkeit. Hier liegt eine der wesentlichen Aufgaben des Staates darin, den einzelnen vor den Wechselfällen des Marktes zu schützen, insbesondere die Menschen, die keine Arbeit haben.

Das Dilemma liegt darin, daß sich beide Systeme in eine Sackgasse bewegen. In Amerika verschärft sich die ungleiche Verteilung von Einkommen und Vermögen, und jede wirtschaftliche Sicherheit schwindet. In weiten Teilen Europas steigen die Kosten des Sozialstaates an, und das globale Kapital flüchtet sich dorthin, wo es höhere Renditen erreichen kann.

Was tun? Ich höre recht viel über einen »dritten Weg« oder eine »neue Mitte«, was so klingt, als ob sich die Antwort aus einer Suche nach einem Punkt irgendwo zwischen dem amerikanischen Modell und dem traditionellen sozialdemokratischen Modell ergeben müßte. Arbeitsplätze und Löhne sollen flexibler sein als in Europa, aber weniger flexibel als in Amerika; die Menschen sollen mehr Schutz vor den Marktkräften bekommen als in Amerika, aber weniger, als die europäischen Staaten traditionell geleistet haben.

Es wird unterstellt, daß man nicht zugleich so viel soziale Gerechtigkeit und Stabilität haben kann wie bisher in den Sozialdemokratien und so viel Beschäftigungszuwachs wie in Amerika. Es wird unterstellt, daß man für die Schaffung von Arbeitsplätzen in Europa auf ein gewisses Maß an sozialer Gerechtigkeit wird verzichten müssen. Um in Amerika an sozialer Gerechtigkeit zu gewinnen, muß man auf einen Teil der wirtschaftlichen Vitalität verzichten. Ich lehne diese Alternative ab, und ich hoffe, daß Sie mir zustimmen. Ich sehe keinen Grund, warum wir ein Entweder-Oder akzeptieren sollten. Es ist möglich, Arbeitsplätze zu schaffen und zugleich in einer gerechten Gesellschaft zu leben.

Die drei Beine des Schemels

Wie erreichen wir das? Auch hier will ich mit meinen Behauptungen bescheiden bleiben, denn ich bin hier nur zu Gast und kann mir nicht anmaßen, daß ich so viel von Ihrer Gesellschaft verstehe, daß ich weiß, was hier funktionieren würde. Aber wenn ich mir Erfolge und Mißerfolge bei uns in den Vereinigten Staaten anschaue und meine Beobachtungen aus anderen Teilen der Welt dazunehme, dann meine ich drei wichtige Faktoren für die Schaffung neuer Arbeitsplätze und zugleich einer gerechten Gesellschaft erkennen zu können.

Ich will die drei Faktoren mit den Beinen eines dreibeinigen Schemels vergleichen. Alle drei sind notwendig. Wenn eines fehlt, kann der Schemel nicht stehen. Und um alle drei Faktoren zu erreichen, müssen alle Bestandteile der Gesellschaft konstruktiv zusammenarbeiten.

Flexible Unternehmen: Auf das erste Bein des Schemels will ich nicht viel Redezeit verwenden, denn meines Erachtens steht es viel zu sehr im Vordergrund, und die beiden anderen wurden unangemessen vernachlässigt. Ich spreche natürlich von der Flexibilität der Unternehmen. Wie ich schon sagte, haben wir davon sehr viel in den Vereinigten Staaten; Europa hat vergleichsweise viel weniger. Die Arbeitgeber wollen immer mehr Flexibilität, sogar in den Vereinigten Staaten.

Flexible Arbeitsplätze und Löhne sind wichtig, aber die Flexibilität der Unternehmen hat auch viele andere wichtige Aspekte. Beispielsweise sollten die Arbeitgeber von überflüssigen Vorschriften befreit werden, darunter Flächennutzungsvorschriften, die ohne jeden sozialen Nutzen die Innovation ersticken. Kleine und mittlere Unternehmen müssen zu erträglichen Konditionen Zugang zu Kapital erhalten. Banken und anderen Kreditinstituten muß es ermöglicht werden, kleinen Unternehmen schnell Kapital zuzuteilen, und das gilt auch für Interessenten an Kapitalbeteiligungen.

Wir müssen dafür sorgen, daß die Gründung eines neuen Unternehmens relativ leicht gemacht wird. Auch hier müssen überflüssige Lasten und Hindernisse beseitigt werden. Womöglich gibt es sogar Gründe für steuerliche Anreize und Subventionen zur Förderung von Neugründungen.

Vor allem aber können wir eine gerechte Gesellschaft nicht allein über flexible Arbeitsplätze und Löhne erreichen. Es stimmt zwar, daß diese Flexibilität mit großer Wahrscheinlichkeit zur Schaffung von Arbeitsplätzen beiträgt, aber viele, wenn nicht die meisten dieser Arbeitsplätze dürften relativ schlecht bezahlt sein. Und sie gehen einher mit enormen Unterschieden bei Einkommen und Vermögen sowie zunehmender wirtschaftlicher Unsicherheit. Wenn wir eine gerechte Gesellschaft wollen, die zahlreiche gutbezahlte Arbeitsplätze bereithält und den Kreis des Wohlstandes ausweitet, müssen wir über die Flexibilität der Unternehmen hinausgehen und uns die beiden anderen Beine des Schemels ansehen.

Anpassungs- und reaktionsfähige Arbeitskräfte: Ich will das zweite Bein die Anpassungsfähigkeit der Arbeitskräfte nennen. Die Menschen müssen dazu befähigt werden, auf gesellschaftliche Veränderungen besser reagieren zu können, ihr Verhaltensspielraum muß erweitert werden. Die Wirtschaft im Umbruch leidet an verschiedenen Unausgewogenheiten, die es den einfachen arbeitenden Menschen erschweren, ihr Potential optimal zu nutzen. Die angebotenen Fertigkeiten entsprechen nicht den nachgefragten Fertigkeiten; die Menschen leben nicht dort, wo neue Arbeitsplätze entstehen; und es gibt die Diskrepanz zwischen dem, was Menschen leisten könnten, wenn sie nur Zugang zu Kapital hätten, und der tatsächlichen Zuteilung von Kapital.

Eine wirkliche Anpassungs- und Reaktionsfähigkeit würde bedeuten, daß die Arbeitskräfte diese Diskrepanzen überwinden und aus den neuen Chancen das Beste machen können. Die Gesellschaft ist verpflichtet, den Arbeitnehmern das zur Verfügung zu stellen, was sie dazu benötigen. Zuallererst benötigen Arbeitskräfte eine Ausbildung von Weltniveau. Es geht hier nicht nur um Lesen, Schreiben und die Grundrechenarten, sondern auch um das Sprechen mindestens einer Fremdsprache. Es geht um ein technisches Grundwissen, um ein Verständnis der Grundlagen der Informationstechnologie. Und die Arbeitskräfte müssen lernen, Probleme zu erkennen und zu lösen.

Das deutsche System der beruflichen Bildung ist zu Recht weltberühmt, und Sie können stolz auf es sein. Ich wäre froh, wenn wir in den Vereinigten Staaten etwas Ähnliches hätten. Gerade wo dieses System das Schwergewicht auf generelle Problemlösungsfähigkeiten legt statt auf enggefaßte berufsspezifische Fertigkeiten, wird es zukünftig seinen Wert beweisen. Technologien verändern sich so schnell, daß genau umgrenzte Fertigkeiten in einem bestimmten Arbeitsbereich mit großer Wahrscheinlichkeit binnen weniger Jahre veraltet sein werden. Wir müssen die Menschen lehren, sich anzupassen, in einer Vielzahl von Umfeldern schnell Neues zu lernen.

Mir scheint es auch wichtig, alle bürokratischen Hindernisse zu beseitigen – überflüssige Genehmigungspflichten, Bescheinigungen oder andere Anforderungen, die die arbeitenden Menschen davon abhalten, neue Chancen zu nutzen. Es muß ihnen ermöglicht werden, neue Fertigkeiten für aufstrebende Branchen zu erwerben, die diese dringend suchen, selbst wenn diese Menschen derzeit in einer Branche oder an einem Arbeitsplatz tätig sind, wo diese Fertigkeiten nicht verlangt werden.

Die arbeitenden Menschen sollten jeden verfügbaren neuen Arbeitsplatz schnell annehmen können, sofern sie selbst und der betreffende Arbeitgeber dies wünschen, selbst wenn der Arbeitsplatz sich in einer anderen Branche oder einem anderen Sektor der Volkswirtschaft befindet. Wenn Regelungen und Vorschriften dies erschweren, dann müssen solche Hindernisse beseitigt werden. Ebenso sollten die Unternehmen Neueinstellungen nach Bedarf schnellst- und leichtestmöglich vornehmen können. Die Menschen sollten auch ihr eigenes Unternehmen begründen können. Die Vorschriften sollten sich hier auf ein Minimum beschränken. Hierfür sollten Darlehen mit niedrigen Zinssätzen angeboten werden. Es müßte einen »sekundären« Kapitalmarkt geben, auf dem solche Darlehen zu Wertpapieren gebündelt werden können.

Zur Anpassungs- und Reaktionsfähigkeit gehört auch die räumliche Mobilität der Arbeitskräfte. Die Menschen müssen jeden Tag schnell und sicher zur Arbeit und zurück kommen, sie brauchen also öffentliche Verkehrsmittel von Weltniveau – funktionierend, sicher und bezahlbar.

Die Menschen müssen ohne Schwierigkeiten in eine andere Stadt oder Region umziehen können, um einen guten Arbeitsplatz anzunehmen. Die regionale Mobilität sollte gefördert werden. Zur Erleichterung des Ortswechsels benötigen die Menschen möglicherweise Wohnzuschüsse. Für die Kinder muß der Schulwechsel erleichtert werden.

Wer seinen Arbeitsplatz verliert, benötigt möglicherweise eine Einkommensversicherung, um neue Chancen ergreifen zu können, selbst wenn diese neuen Chancen anfänglich nicht so viel Geld einbringen wie der alte Arbeitsplatz. Eine Einkommensversicherung könnte beispielsweise für eine befristete Zeit die Hälfte der Differenz zwischen dem alten Lohn und dem neuen Lohn erstatten. Eine solche Versicherung ist der Arbeitslosenversicherung zumeist vorzuziehen. Natürlich unterscheiden sich die Gegebenheiten, und ich kann Ihnen hier nicht vorschreiben, was in Deutschland zu tun ist. Aber mir scheint eine bezahlte Arbeit besser als staatlich finanzierte Arbeitslosigkeit.

Für schlechtbezahlte Arbeiten sollten die Löhne subventioniert werden, damit jeder Arbeitsplatz den Lebensunterhalt der Menschen sichern kann. Wenn keine Arbeitsplätze vorhanden sind, für die angemessene Löhne gezahlt werden, dann muß der Staat ausreichend »öffentliche« Arbeitsplätze schaffen, um den Bedarf zu decken. Die Menschen brauchen ebenfalls hochwertige und bezahlbare Unterbringungsmöglichkeiten für ihre Kinder, und zwar für die gesamte Dauer ihrer täglichen Arbeitszeit.

Noch eine Anmerkung zur Anpassungsfähigkeit. Die arbeitenden Menschen benötigen Sicherheit, um sich verändern zu können und zu wollen. Unsere Gesellschaften können es sich nicht leisten, eine große Zahl nicht arbeitender Menschen zu versorgen. Ein aktiver Staat, der sich darauf konzentriert, die Menschen bei der Verbesserung ihrer Anpassungsfähigkeit zu unterstützen, muß aber auch ein Minimum an Sozialversicherung für die Menschen bereitstellen, die nicht arbeiten können.

Die Maßnahmenliste zur Verbesserung der Anpassungsfähigkeit ist ganz sicher nicht vollständig, und ich strebe sie auch nicht an. Ich bin nicht überzeugt, daß jede einzelne Maßnahme in Deutschland Anwendung finden kann. Wir brauchen jedoch einen aktiven Staat, der den Willen und die Mittel hat, zum Erfolg seiner Menschen in der neuen Volkswirtschaft beizutragen. Halbheiten greifen hier zu kurz.

Angemessene makroökonomische Nachfrage: Das dritte Bein des dreibeinigen Schemels ist die Makroökonomie. Die Zentralbanken sollten eine Geldpolitik betreiben, die so expansiv wie möglich ist, ohne die Inflation anzuheizen, damit die Gesamtnachfrage in der Volkswirtschaft für die Schaffung neuer Arbeitsplätze ausreicht. Das derzeitige Wachstum in den Vereinigten Staaten beruht großenteils auf den relativ niedrigen Zinssätzen und der Erleichterung der Kreditvergabe durch das Federal Reserve Board.

Es ist mir klar, daß Sie der Europäischen Zentralbank keine Weisungen erteilen können. Auch das Open Market Committee der amerikanischen Zentralbank ist nicht direkt den demokratischen Institutionen der Vereinigten Staaten rechenschaftspflichtig. Aber bedenken Sie die neue Realität. Wenn eine Gesellschaft sich für flexible Arbeitgeber und anpassungsfähige Arbeitnehmer entscheidet, ermöglicht sie den Zentralbanken eine expansive Geldpolitik ohne Inflationsgefahr.

Inflationsdruck baut sich auf – und Preise beginnen zu steigen –, wenn Ressourcen nicht ohne Schwierigkeiten in die Sektoren, Branchen oder Regionen fließen können, in denen Bedarf besteht. Andererseits bedeuten ungehinderte Ressourcenströme, daß eine Inflationsgefahr abgewandt werden kann.

Eine Volkswirtschaft mit hochmobilen Humanressourcen und Kapital ist deshalb inflationsbeständiger als eine Gesellschaft, deren Humanressourcen und Kapital schlechter auf Nachfrageänderungen reagieren können. Eine mobilere und anpassungsfähigere Gesellschaft kann eine expansivere Geldpolitik ermöglichen, die die Gesamtnachfrage stärker anregt und so mehr Arbeitsplätze schafft.

Deshalb braucht der Schemel alle drei Beine.Wenn es nur die Flexibilität der Arbeitgeber gibt, und die beiden anderen Beine fehlen, dann entstehen viele schlechtbezahlte Arbeitsplätze und große wirtschaftliche Unsicherheit. Wenn man die ersten zwei Beine hat, aber eine restriktive Geldpolitik, dann schafft man zwar bessere Arbeitsplätze, aber viel zu wenige.

Nur wenn die Zentralbanken den durch die zwei ersten Beine gewonnenen Freiraum nutzen und die Zinsen senken, können die drei Beine sowohl soziale Gerechtigkeit als auch eine nennenswerte Anzahl neuer gutbezahlter Arbeitsplätze tragen.

Die politische Herausforderung

Das hört sich theoretisch ja alles recht gut an. Aber wie kommt man in der politischen Praxis vom jetzigen Zustand zum Ziel? Die Ökonomen kommen uns hier üblicherweise mit der Binsenweisheit, daß eine gesellschaftliche Veränderung weh tun muß, die Menschen werden sich erst ändern, wenn es nicht mehr anders geht. In der volkswirtschaftlichen Theorie mag das stimmen, und vielleicht findet sich sogar eine Grundlage für diese Ansicht in der Verhaltenspsychologie. Die soziale und politische Realität blendet man damit aus.

Die soziale Realität ist, daß die Umstellung für viele Menschen sehr schwer ist. Selbst in Zeiten der Hochkonjunktur finden viele nur mit Mühe eine Arbeit, von deren Ertrag sie auch leben können. Die politische Realität ist, daß die Bürger sich dem Wechsel widersetzen werden, wenn sie befürchten, daß sie den Großteil der Kosten tragen und nur wenig vom Nutzen profitieren werden. Sie werden Schutz suchen und einfordern, und sie werden mit dem Stimmzettel protestieren.

Eine wirkliche Anpassungsfähigkeit der Arbeitskräfte setzt erhebliche öffentliche Investitionen und einen aktiven Staat voraus. Es gibt nur zwei Möglichkeiten, um im notwendigen Umfang die Mittel aufzubringen, mit denen man erreicht, daß die Menschen wirklich anpassungsfähig werden, und mit denen man ihnen das Minimum bietet, das für ihre Zustimmung zum Wechsel erforderlich ist.

Zum einen kann der Staat Geld leihen. Ein hoher Schuldenstand führt jedoch zu Nervosität auf dem Rentenmarkt. Wenn die Kreditgeber und ihre Mittelsmänner glauben, daß ein Kreditnehmer auf zu großem Fuße lebt – sei er nun eine Privatperson oder ein Staat, dann werden die Kreditgeber auf einem Risikoaufschlag bestehen, und entsprechend wird der Schuldendienst anwachsen. Irgendwann werden die Kreditgeber kein Geld mehr bereitstellen. Und die Investoren werden das Land auf der Suche nach besseren Renditen verlassen.

Im Idealfall könnte der Staat deutlich und überzeugend zwischen Kreditaufnahme zur Sicherung der Bequemlichkeit seiner Bürger und Kreditaufnahme für die Verbesserung der Anpassungsfähigkeit seiner arbeitenden Menschen unterscheiden. Letzteres wäre kein öffentlicher Konsum, sondern eine öffentliche Investition. Hier müßten sich private Kreditgeber oder Investoren keine Sorgen machen, denn die Volkswirtschaft wird dadurch zukünftig produktiver. Es ist sogar unklug, bei solchen Investitionen im Interesse einer Haushaltsdisziplin geizig zu sein. Der vernünftigste Ansatz ist eine Verringerung des privaten und öffentlichen Konsums und ein Zuwachs bei den privaten und öffentlichen Investitionen.

Bedauerlicherweise pflegen Kreditgeber Politikern nicht zu glauben. Sie nehmen vielmehr an, daß ungeachtet ihrer Reden Politiker das Geld dafür ausgeben werden, daß die Menschen mit ihrer momentanen Situation zufrieden sind, statt sie anpassungsfähiger zu machen. Solange die Kreditgeber der Politik in diesem Punkt nicht vertrauen, und solange die Politik hier nicht vertrauenswürdiger wird, wird der Staat Haushaltsdefizite reduzieren müssen, um das Vertrauen der Kreditgeber zu gewinnen.

Damit bleibt nur noch eine Alternative für die Aufbringung der erforderlichen Mittel, die wohlhabenderen Mitglieder der Gesellschaft müssen einen angemessenen Teil der Verantwortung übernehmen. Ich weiß nicht, wie reich die reichsten 5 oder 10 oder 20 Prozent der Deutschen sind, aber in den Vereinigten Staaten geht es den oberen Schichten ausnehmend gut. Die meisten Börsengewinne der 90er Jahre sind an sie geflossen. Sie können es sich nicht nur leisten, in die Anpassungsfähigkeit ihrer Mitbürger zu investieren, es liegt auch in ihrem Interesse. Jeder profitiert, wenn alle Bürger anpassungsfähiger und somit produktiver sind.

Die politische Realität ist natürlich weniger klar. Bevor sie sich von einem Teil ihres ständig wachsenden Einkommens trennen, werden die Wohlhabenden sich wehren. Sie werden ihr Vermögen außer Landes schaffen. Oder ihr politischer Einfluß reicht aus, um jede zusätzliche Belastung abzuwenden.

Um die Mittel zusammenzubringen, die den Wechsel denen genehm machen, die ihn fürchten, und um diese Menschen sicher in die neue Volkswirtschaft zu bringen, müssen die führenden Politiker einen neuen Gesellschaftsvertrag aushandeln zwischen denen, denen es gut geht, und denen, denen es nicht gut geht.

Die Wohlhabenden müssen sich darauf einlassen, einen Teil ihrer Einnahmen darauf zu verwenden, daß jeder für den Übergang von der alten Volkswirtschaft zur neuen gerüstet ist und eine Arbeit finden kann, von der man ordentlich leben kann. Im Gegenzug kann von jedem, der dazu körperlich in der Lage ist, erwartet werden, daß er arbeitet und so seinen Teil des Kontrakts erfüllt. Und die Geldhüter, die wegen der anpassungsfähigeren Arbeitskräfte mit weniger Inflation rechnen müssen, sollten die kurzfristigen Zinsen senken. Infolge dieses Gesellschaftsvertrages wird die Volkswirtschaft produktiver. Der Wohlstand der Wohlhabenden wird ebenso zunehmen wie der der anderen.

Die Frage muß ausdrücklich gestellt werden – nicht nur als wirtschaftliche Entscheidung, sondern auch als moralische. Die eine Möglichkeit ist die Fortsetzung der derzeitigen Entwicklung. Wenn Amerika auf seinem jetzigen Weg weitergeht, dann wird es mit immer größerer Ungleichheit und wirtschaftlicher Unsicherheit leben müssen. Wenn Deutschland auf seinem jetzigen Weg weitergeht, dann wird es mit immer höherer Arbeitslosigkeit und rasch sinkendem Lebensstandard rechnen müssen, wenn das Kapital abwandert. Aber Amerika und Deutschland können auch einen anderen Weg wählen.

Der neue Weg ist nicht einfach ein Kompromiß zwischen aktivem und passivem Staat, zwischen Erstarrung und Flexibilität in der Wirtschaft. Zu ihm gehört ein eindeutig aktiver Staat, der allen Bürgern den Übergang in die neue globale Wirtschaft erleichtert. Er investiert in Menschen und er fordert von den Menschen eigene Investitionen in die Zukunft. Nur dieser Weg führt zu größerem Wohlstand und zu einem Wohlstand, an dem alle teilhaben können.

Der Staat muß seinen Bürgern die Wahlmöglichkeiten klar und verständlich erläutern. Hierbei haben die Gewerkschaften eine zentrale Rolle. Sie sind die direkte Verbindung zu den arbeitenden Menschen. Sie müssen die Botschaft weiterleiten und den neuen Vertrag aushandeln helfen.Und sie müssen verlangen, daß alle Mitglieder der Gesellschaft einen Teil ihrer Mittel in einen gemeinsamen Bestand einbringen, damit jeder die Chance bekommt, es zu etwas zu bringen.

Die Gewerkschaften in unseren Ländern vertreten oder sprechen für die Teile der Gesellschaft, die vom technischen Wandel und der Globalisierung in besonderem Maße betroffen sind. Es ist nur natürlich, daß die Gewerkschaften sich um die Sicherheit für ihre Mitglieder bemühen. Aber eine langfristige Sicherheit kann durch die Konservierung der Vergangenheit oder auch der Gegenwart nicht erzielt werden. Die Kräfte der Veränderung sind zu stark. Die Kosten der Erhaltung sind zu hoch, und sie steigen weiter an. Langfristige Sicherheit kann in Wirklichkeit nur durch ein Akzeptieren des Wandels erreicht werden, aber in einer Weise, die jedem den Übergang vom Alten zum Neuen leicht macht.

Nur ein solches Ideal kann Quelle einer wirklichen politischen Bewegung sein. Machen wir uns nichts vor: Von einer politischen Bewegung sprechen wir – einer Bewegung, die sich auf Gleichheit, Zukunftsperspektiven und soziale Gerechtigkeit gründet, einer Bewegung, die den neuen Realitäten der globalen Wirtschaft und technischen Neuerung ins Auge sieht und sich nicht vor ihnen versteckt oder sie zu ignorieren sucht; aber eine Bewegung, die darauf besteht, daß jeder mitgenommen wird, daß niemand ausgeschlossen wird, und daß die, die es besser haben, einen angemessenen Anteil zu diesem Ziel beitragen. Ich kann mir für das nächste halbe Jahrhundert kaum ein lohnenderes Ziel vorstellen.