Publikation Ungleichheit / Soziale Kämpfe - Globalisierung Wieviel Markt hält der Mensch noch aus?

Utopie Kreativ Heft 113 März 2000

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Zeitschrift «Utopie Kreativ» (Archiv)

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März 2000

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UTOPIE kreativ, H. 113 (März 2000), S. 223-231

Franz J. Hinkelammert – Jg. 1931; studierte Wirtschafts-wissenschaften in Freiburg, Hamburg und Münster, seit 1963 in Lateinamerika tätig, seit 1976 Professor für Wirtschafts-wissenschaften an den Universitäten Tegucigalpa (Honduras) und Heredia (Costa Rica) sowie Mitarbeiter am Ökumenischen Forschungszentrum (Departamento Ecumenico de Investigaciones, Apartado Postal 389-2070, Sabanilla, San José, Costa Rica); veröffentlichte u.a.: »Die ideologischen Waffen des Todes. Zur Metaphysik des Kapitalismus« (1985) und »Kritik der utopischen Vernunft. Eine Auseinandersetzung mit den Hauptströmungen der modernen Gesellschafts-theorie« (dt. 1994).

 

Der vorliegende Beitrag wurde erstmals publiziert in: »Junge Kirche. Zeitschrift europäischer Christinnen und Christen«, Heft 5/98 (Mai 1998), S. 265-275.

 

Am 14. März 2000, 19 Uhr spricht Franz J. Hinkelammert in Rosa-Luxemburg-Stiftung, Franz-Mehring-Platz 1 in Berlin-Friedrichshain zum Thema: Gerechtigkeit – wider den eurozentristischen Blick

 

Diese Verantwortung ergab sich nicht nur als eine ethische Verantwortung, sondern ebenso sehr als Bedingung der Möglichkeit allen zukünftigen Lebens auf der Erde. Die ethische Forderung und die Bedingung der Möglichkeit des menschlichen Lebens ergaben sich als eine einzige Forderung. Das Ethische und das Nützliche hatten sich vereinigt trotz aller positivistischen Denktraditionen, die seit langem beide Elemente sorgsam zu trennen versuchten.

 

Aufs neue ergibt sich die Verantwortung des Menschen für die Erde. Aber dieses Mal handelt es sich um eine Verantwortung gegenüber den Auswirkungen der Methoden der empirischen Wissenschaften.

 

In all den genannten Formen zwingt sich uns die Verantwortung für eine globalisierte Wirklichkeit gleichsam auf, obwohl sich die Verantwortung keineswegs automatisch ergibt. Unsere Gegenwart ist eher durch die Ablehnung oder die Umgehung dieser Verantwortung gezeichnet. Dennoch handelt es sich um eine Verantwortung, der gegenüber es keine Neutralität gibt. Wir sind verantwortlich, auch wenn wir es nicht wollen, selbst wenn wir es nicht können. Lehnen wir die Verantwortung ab, werden wir sie nicht los, sondern sind verantwortungslos. Wir entkommen der Wahl nicht. Entweder machen wir uns verantwortlich für den Globus oder wir nehmen teil an seiner Zerstörung.

 

Aber wenn ich mich als Teil der Menschheit oder als Subjekt einer Reihe von menschlichen Generationen verstehe, ist dieser zynische Ausweg der Verantwortungs-losigkeit verschlossen. Dann muß ich die Verantwortung übernehmen. Ethik und Nützlichkeit vereinigen sich und stehen damit im Widerspruch zum Nutzenkalkül.

 

Wenn aber die Effizienz von Markt und Laboratorium auf der Abstraktion von der Globalisierung der wirklichen Welt beruht, warum spricht man dann heute so viel von der Globalisierung?

 

Die Tatsache selbst, daß Informationen und Kalküle unmittelbar geworden sind, erzwingt keineswegs als solche diese Totalisierung der Märkte, obwohl sie die Bedingung für ihre Möglichkeit ist. Es sind ganz bestimmte Mächte, die diese Politik aufzwingen. Keineswegs ist diese von vornherein durch die Techniken der Kommunikation determiniert.

 

Die Grenzen werden daher in der Logik des Marktes als einfache »Interruptoren« der Flüssigkeit des Marktverkehrs aufgefaßt und die Theorie der rationalen Erwartungen (Robert Lucas, Sargent) nimmt sie ausschließlich als solche zur Kenntnis.

 

Die Vereinigung von Markt und Laboratorium bringt damit eine alles totalisierende Macht hervor, die sich jetzt den Globus unterwirft. Ihre Handlungsprinzipien treten auf allen Gebieten des Handelns auf.

 

Bacon antwortet auf diese Weise dem spanischen Großinquisitor Torquemada, der sich Ende des 15. Jahrhunderts folgende Frage stellte: ›Ist es erlaubt, einen Häretiker nicht zu foltern?‹ Und er gab die Antwort: ›Es ist nicht erlaubt, ihn nicht zu foltern, denn, würde man ihn nicht foltern, so würde man ihn der letzten Chance berauben, seine ewige Seele zu retten.‹ Der Häretiker hat das Recht, gefoltert zu werden. Bacon säkularisiert diese Position, indem er an die Stelle der ewigen Seele den unendlichen technischen Fortschritt setzt. So wird sichtbar, daß die Inquisition die Kulturrevolution war, aus der die Moderne hervorging.

 

Unsere Welt bis an die Grenze zu belasten, heißt, die Grenze überschreiten. Dies aber ist der kollektive Selbstmord der Menschheit

Man erzählt vom König Pyrrhus, einem König der griechischen Antike, daß er nach einer gewonnenen Schlacht ausrief: »Noch ein solcher Sieg und ich bin verloren.«

Aber der König Pyrrhus war weise. Er wußte, einen anderen solchen Sieg zu vermeiden. Daher konnte er bis zum friedlichen Ende seiner Tage regieren und danach im Bett sterben, statt auf dem Schlachtfeld.

Wir leben heute in einem System, das 1989 seinen ersten Pyrrhussieg erfocht. Aber dieses System ist kein König Pyrrhus und hat auch nicht die Weisheit, die der König Pyrrhus gehabt hat. Das System sucht einen zweiten Sieg. Es handelt sich um den Sieg über allen menschlichen Widerstand ihm gegenüber. Wenn es diesen Sieg erringt, so wird es sein zweiter Pyrrhussieg sein und damit sein Ende. Aber eben nicht nur das Ende des Systems, sondern ebenfalls das Ende der Menschheit.

Globalisierung – eine Geschichte der Eroberung

Heute ist das Wort Globalisierung ein Modewort geworden. Aber das ist kein Grund, einfach auf dieses Wort zu verzichten. Denn tatsächlich leben wir heute in einem neuen Kontext der Globalisierung, der sich im letzten halben Jahrhundert ergeben hat. Denn Globalisierung heißt ja nichts weiter, als daß die Welt ein Globus ist und es immer mehr wird.

Seit langem weiß man, daß die Erde rund ist. Das wußte Kopernikus, und Kolumbus zog aus der astronomischen Erkenntnis des Kopernikus Konsequenzen, die die Welt veränderten. Hier beginnt die Globalisierung der Erde als eine Aktivität. Als ihr Ergebnis wurde die Erde runder, weit mehr, als dies für Kopernikus der Fall war. Alle weitere Geschichte kann man als eine Geschichte von Globalisierungen schreiben, die die Welt immer runder machten.

Als Alexander der Große sein Imperium eroberte, sagte man von ihm, daß er mit jedem Land nur eine neue Grenze eroberte. Als Prozeß gesehen verfolgte jede Eroberung eine schlechte Unendlichkeit, die er nie erreichen konnte. Die Erde schien unendlich zu sein ohne jede Möglichkeit oder auch Vorstellung, sie irgendwann völlig erobern zu können. Als aber die Erde als rund bewußt wurde, schien ihre Eroberung auf einmal möglich. Bereits im 16. Jahrhundert sagt der spanische König voller Stolz, er beherrsche ein Imperium, in dem die Sonne nicht untergeht. Das 18. und das 19. Jahrhundert sind die Jahrhunderte des Wettlaufs der europäischen Kolonialmächte um die Kolonialisierung der gesamten Erde. Ihre Weltkarte hatte weiße Flecken, die die Eroberung zu beseitigen hatte. Ende des 19. Jahrhunderts war die gesamte Erde kolonialisiert oder beherrscht und unter einer Handvoll Kolonialländer aufgeteilt, die im Vergleich zur Größe der kolonialisierten Länder sehr klein waren.

Man eroberte jetzt nicht mehr mit jedem Land eine neue Grenze, denn es gab keine neuen, nichteroberten Länder mehr. Die Erde war aufgeteilt. Aber es gab mehrere Kolonialmächte. Diese mußten jetzt eine die andere überfallen, wenn sie neue Länder erobern wollten. Daher begann der Kampf um den eroberten Schatz. Gelang es einer, alle anderen herauszudrängen, so konnte diese zur Herrscherin der gesamten Welt werden. Dies gibt den darauf folgenden Kriegen den Charakter von Weltkriegen, die stattfinden, damit eine Macht die Herrschaft über die Welt antreten kann. Sie sind Weltkriege, obwohl sie in Europa stattfinden, weil sie zwischen den die gesamte Welt beherrschenden Kolonialmächten stattfinden. Die Erde als Objekt der Eroberung wird jetzt zum Streitobjekt zwischen den Kolonialmächten selbst.

Allerdings war das Wort Globalisierung bisher eher ein Wort, das beiläufig benutzt wurde. Aber in unserer Zeit bezeichnet es eine neue Etappe dieser Rundheit der Erde, die sich effektiv von den vorherigen unterscheidet. Wir werden uns heute auf eine neue Weise dieser Rundheit bewußt.

Diese neue Erfahrung von der Rundheit der Erde begann im Jahre 1945 als Ergebnis des Zweiten Weltkriegs. Sie zwang sich auf mit der Explosion der ersten Atombomben. Es handelte sich um die erste globale Waffe, denn ihre weitere Benutzung bedrohte die Existenz des menschlichen Lebens auf dieser Erde. Sobald mehrere Atommächte entstanden waren, konnte kein Zweifel mehr bleiben, daß sich die Erde in ihrer Beziehung zur Menschheit ganz radikal verändert hatte. Wenn die Menschheit nicht ihre Handlungsweisen veränderte, konnte sie ihr Leben auf der Erde nicht mehr sichern. Der Globus selbst war bedroht.

Wollte die Menschheit weiter existieren, hatte sie jetzt eine Verantwortung zu übernehmen, von der sie bis dahin kaum geträumt hatte. Es handelte sich um die Verantwortung für die Erde.

Der Mensch wird selbst eine Gefahr für die Welt

In einem bestimmten Sinne aber blieb die Bedrohung der Erde durch die Atombomben als globale Waffe doch noch außerhalb der Alltäglichkeit des menschlichen Handelns. Alles hatte durchaus noch den Anschein, als ob man weiter so leben könne wie bisher, wenn es gelang, die Anwendung der Atombombe durch Maßnahmen zu verhindern, die Sache der Politik der betreffenden Staaten waren. Aber die Globalisierung der Erde klopfte aufs neue an die Pforten. Dieses Mal handelte es sich um den Bericht des »Club of Rome« über die Grenze des Wachstums, der im Jahre 1972 die Öffentlichkeit traf. Dieses Mal kam die Bedrohung nicht durch irgendein spezifisches Instrument, das man scheinbar durch externe Mittel kontrollieren kann, sondern ergab sich aus dem alltäglichen Handeln aller Menschen. Alles menschliche Handeln, von den Unternehmen über den Staat bis zum Handeln eines jeden einzelnen, war jetzt mit eingeschlossen. Aufs neue ergab sich die Verantwortung für den Globus. Aber dieses Mal auf eine weit intensivere Weise. Jetzt mußte die Menschheit eine Antwort geben auf Effekte ihres eigenen, alltäglichen Handelns. Alle Kanalisierung des menschlichen Handelns durch den Nutzenkalkül und durch die Maximierung der Gewinne auf den Märkten wurde jetzt fraglich. Alle diese Handlungsweisen mußten jetzt einer Kritik unter dem Gesichtspunkt der Bedingung der Möglichkeit menschlichen Lebens unterzogen werden. Aber diese Kritik war gleichzeitig und notwendigerweise eine Kritik auch vom ethischen Gesichtspunkt her. Aufs neue vereinten sich das Nützliche und das Ethische in einer einzigen Forderung.

In den achtziger Jahren dieses Jahrhunderts ergab sich allerdings eine neue Form einer aus der Globalisierung der Erde entspringenden Gefahr. Es handelt sich um die Biotechnologie. Das Leben selbst in seinen abstrakten Bauteilen wurde zum Objekt eines neuen menschlichen Handelns. Die Bedrohung des Globus tauchte auf als Forderung nach der menschlichen Verantwortung für diese Welt. Aber diese Bedrohung war jetzt ganz direkt mit den Methoden der empirischen Wissenschaft verbunden. Die inzwischen traditionell gewordene erfahrungswissenschaftliche Methode besteht in der Partialisierung der Realität, durch die diese den quantitativen mathematischen Methoden zugänglich wird. Auf die Grundelemente des Lebens angewandt, bringt diese Methode selbst eine neue Bedrohung für die Wirklichkeit hervor. Schon die Entwicklung dieses Wissens schafft Bedrohungen. Dies führt dazu, daß jetzt nicht nur die Merkantilisierung des Wissens in Frage gestellt wird, sondern die Methode der empirischen Wissenschaften selbst.

Brutalisierung der menschlichen Beziehungen

Als Folge all dieser globalen Katastrophen entsteht eine neue Bedrohung: eine allgemeine Krise des menschlichen Zusammenlebens. Die zunehmende Ausgrenzung großer Teile der Bevölkerung führt zu einer unvermeidlichen Brutalisierung in bezug auf die Ausgegrenzten. Diese Brutalisierung der menschlichen Beziehungen aber verallgemeinert sich und führt zu einer zunehmenden Brutalisierung der sozialen Beziehungen aller, insbesondere innerhalb derer, die die andern ausgrenzen und insofern noch einbezogen sind in das gesellschaftliche Leben. Es hat sich nicht etwa eine einfache Polarisierung ergeben zwischen den Einbezogenen, innerhalb derer das menschliche Zusammenleben weiterhin ein menschliches bleibt gegenüber den Ausgegrenzten, die diese Menschlichkeit verlieren, sondern das menschliche Zusammenleben wird ganz allgemein unmenschlich und daher brutalisiert. Der Pol der Einbezogenen verliert seine Fähigkeit zu einem menschlichen Zusammenleben vielleicht noch stärker als der Pol der Ausgegrenzten. Es ergibt sich so ein Zusammenbruch der menschlichen Beziehungen, der die Möglichkeit des menschlichen Zusammenlebens selbst in Frage stellt. Dies ist wohl die bisher letzte globale Bedrohung, die letztlich auch die gefährlichste sein könnte, da sie zur Unfähigkeit führt, Widerstand gegenüber den Folgen der anderen globalen Bedrohungen zu verwirklichen. So ergibt sich von daher eine Verantwortlichkeit für die eigene Fähigkeit zu menschlichem Zusammenleben.

Mord ist Selbstmord

Dies zeigt, daß sich alles menschliche Leben auf eine neue Weise globalisiert hat, wie dies noch nie in der menschlichen Geschichte geschehen ist. Dies aber ist gegenwärtig im Leben eines jeden einzelnen, solange er weiß, daß er in einer Kontinuität von menschlichen Genrationen lebt. Damit wir und unsere Kinder und Kindeskinder leben können, müssen wir diese Verantwortung übernehmen. Wir leben ein globalisiertes Leben, ob wir es wollen oder nicht.

Dies erlaubt uns, die Globalisierung der Wirklichkeit zusammenzufassen: Mord ist Selbstmord. Der Mord des anderen hört auf, ein Ausweg zu sein. Wer durch den Mord des anderen gewinnt, verliert.

Aber diese neue Situation anzunehmen, ist keineswegs ein Sachzwang. Obwohl jetzt Mord Selbstmord ist, bleibt natürlich der Selbstmord möglich. Er verbirgt sich hinter dem Argument des Nutzenkalküls, das das Argument des Zynikers ist, das heute wohl das am weitesten verbreitete Argument ist: »Warum soll ich verzichten? In der Lebenszeit, die mir wahrscheinlich bleibt, kann ich weitermachen, ohne die Konsequenzen selbst tragen zu müssen.« Hier entspringt die heute so verbreitete Mystik des kollektiven Selbstmords der Menschheit.

Die globalisierte Verantwortungslosigkeit

Der Prozeß der Globalisierung der Welt, wie wir ihn bisher beschrieben haben, ist ein Prozeß, der in der wirklichen Welt abläuft. Wenn diese Globalisierung auch durch das menschliche Handeln erzeugt worden ist, so ist sie doch in der Wirklichkeit selbst gegenwärtig, so wie sie dem Menschen gegenübertritt. Sie tritt dem Menschen gegenüber als Bedingung der Möglichkeit seines Lebens. Der Mensch ist selbst in dieser Wirklichkeit gegenwärtig, weil sie die Bedingung der Möglichkeit seines Lebens ist. Geht diese Wirklichkeit zugrunde, geht der Mensch zugrunde. Der Mensch lebt in einer Autopoiese mit dieser ihm äußeren Wirklichkeit, wenn wir dafür das Wort von Humberto Maturana benutzen.

Auch die Wissenschaft ist dem »Zweck-Mittel-Kalkül« unterworfen

Neben die politische Eroberung des Globus ist eine andere Eroberung getreten, die sich auf alle einzelnen Elemente der Erde bezieht. Sie wurde gerade von den Erfahrungswissenschaften und der darauf begründeten Technik verwirklicht. Sowohl das Handeln im Markt wie auch die geltende Methode der Erfahrungswissenschaften hat gerade diese Orientierung. Markt und Laboratorium abstrahieren von der Globalität des menschlichen Lebens, um ihr Handeln durchsetzen zu können. Sie abstrahieren davon, daß die Erde rund ist. Außerdem können sie nur ein Handeln – sei dieses nun Markthandeln oder wissenschaftliche Forschung – beurteilen, bei dem sie Zweck und Mittel als partialisierte Elemente einer Aktion kalkulieren. Daher ist das Subjekt der erfahrungswissenschaftlichen Methode ein Beobachter – eine res cogitans gegenüber einer res extensa – und das Subjekt des Markthandelns ein Faktor, der auf den Nutzenkalkül auf der Grundlage von spezifischen Zwecken reduziert ist. Daher ergeben sich Theorien, in denen es keinen Ort für eine Orientierung an den Bedingungen der Möglichkeit des menschlichen Lebens gibt. Sie kommt daher überhaupt nicht vor, gilt sogar weitgehend als unwissenschaftlich.

Dies ist auch der Grund, warum in unserem gegenwärtig herrschenden Sprachgebrauch nur über die Globalisierung der Märkte und ihrer Effizienzkriterien gesprochen wird, wobei die Effizienz ausschließlich unter dem Gesichtspunkt eines Zweck-Mittel-Kalküls gesehen wird. Die herrschende Methode der empirischen Wissenschaften paßt völlig in dieses Verständnis der Globalisierung hinein. Schon von der Methode her und ohne dies als Absicht haben zu müssen, kann diese Methode nur kommerziell verwendbare Resultate liefern. Andere Kenntnisse gibt sie nicht her, denn ihre Methode erlaubt es nicht, sie überhaupt als Kenntnisse zu begreifen. Sie besteht in der Abstraktion von der Globalisierung der wirklichen Welt und daher entgeht ihr sogar das Wissen von dieser Globalisierung der Welt. Die heute noch bekannteste Theorie des rationalen Handelns ist die Theorie von Max Weber, der solche Kenntnisse einfach als »Werturteile« abtut, die die Wissenschaft nicht abgeben kann und daher auch nicht abgeben darf.

Mißbrauch der »realen Globalisierung« durch den Markt

Es gibt einen anderen Aspekt der Globalisierung, der hierbei im Mittelpunkt steht und von dem wir noch nicht gesprochen haben. Dieser Aspekt wird ganz einseitig herausgestellt, wenn von der Globalisierung der Märkte gesprochen wird. Es handelt sich um die Globalisierung der Informationen, der Kalküle und des Verkehrs; sie macht die Verfügbarkeit des gesamten Globus erst möglich. In diesem Sinne spricht man vom »planetarischen Dorf«. Informationen und Kalküle haben eine praktisch unendliche Geschwindigkeit bekommen und sind unmittelbar geworden. Von jedem Ort des Planeten aus kann man jeden anderen Ort in weniger als einem Tag erreichen. Der Globus ist verfügbar geworden.

Diese absolute Globalisierung ist benutzt worden, um globale Märkte, insbesondere globale finanzielle Märkte durchzusetzen. Damit wurde es für multinationale Unternehmen möglich, Netze sozialer Arbeitsteilung weltweit zu planen. So hat die Ausnutzung dieser globalen Möglichkeiten zu einer Wirtschaftspolitik geführt, die den Namen ›Politik der Globalisierung‹ bekam. Globalisierung heißt dann, den Globus effektiv verfügbar machen und alle Hindernisse politischer oder kultureller Art aus dem Wege räumen. In Lateinamerika handelt es sich um eine Politik, die vielfach als neoliberale Politik bezeichnet wird oder als Politik der strukturellen Anpassung. Es handelt sich um Bedingungen, die durch die Politik einiger Länder allen anderen Ländern aufgezwungen werden und die das Funktionieren einer solchen globalisierten Wirtschaft sichern sollen.

Kehren wir jetzt zu unserer vorherigen Analyse des realen Globalisierungsprozesses zurück, müssen wir wieder darauf bestehen, daß ein solcher Prozeß der Globalisierung der Märkte die Abstraktion von dieser realen Globalisierung voraussetzt. Er sieht davon ab und muß davon absehen. Daher überrollt die Globalisierung der Märkte eine global gewordene wirkliche Welt, mit der sie völlig unvereinbar ist. In Wirklichkeit bedeutet die Globalisierung der Märkte ihre Totalisierung. Eine globalisierte Welt wird total einem an reinen Zweck-Mittel-Kalkülen orientierten Markthandeln unterworfen, das sich damit heute als die vielleicht größte Gefahr für das Überleben der Menschheit entpuppt.

Alles, was Geld bringt, wird gemacht

Beide, die erfahrungswissenschaftliche Methode wie auch das Zweck-Mittel-Handeln, können nur stattfinden, weil die Handelnden von der Globalisierung der wirklichen Welt abstrahieren. Deshalb abstrahieren sie von den Risiken, die aus dieser Globalisierung erwachsen. Auch wenn von der Globalisierung der Märkte gesprochen wird, handelt es sich um eine globale Abstraktion von der Globalisierung der Wirklichkeit selbst.

Indem man aber von der Globalisierung der Wirklichkeit abstrahiert, werden die Effekte und die Risiken unsichtbar gemacht, die daraus entspringen. Sie scheinen, soweit sie überhaupt wahrgenommen werden, unwichtig zu sein, und werden leicht zum Verschwinden gebracht durch Verweis auf die leeren Versprechen eines unendlichen technischen Fortschritts. Daher scheint es keinen sichtbaren Grund zu geben, die technische Entwicklung zu begrenzen oder an der kommerziellen Anwendung ihrer Ergebnisse zu zweifeln. Das Markthandeln und die traditionell gewordene wissenschaftliche Methode vereinigen sich. Es ist die Vereinigung von Markt und Laboratorium.

So ergibt sich das Prinzip: Was effizient ist, ist auch notwendig. Was man machen kann, soll man auch machen. Da die Reflektion über die Zweck-Mittel-Beziehung hinaus erfolgreich unterdrückt wird, scheint es keine irgendwie relevanten Grenzen für das Zweck-Mittel-Handeln zu geben. Die Mystik des Fortschritts bringt alle Grenzen zum Verschwinden und wird zur wichtigsten Trägerin des Mythos der Effizienz. Die notwendige Ethik des Gemeinwohls wird durch den Kalkül der Grenzen der Belastbarkeit ersetzt.

Die Effizienz beschreibt die Grenzen der Belastbarkeit und alles Handeln muß bis zur Grenze der Belastbarkeit getrieben werden, damit alles, was möglich ist, auch verwirklicht wird. Die ganze Welt des Menschen wird diesem Effizienzdenken und der Habsucht der Ausnutzung alles Wissens bis an die Grenzen der Belastbarkeit unterworfen.

Es ergibt sich das Prinzip: Was effizient ist, ist auch notwendig und gut. Außerdem kann man nicht wissen, was man kann, wenn man das nicht tut, von dem man wissen will, ob man es kann. Wenn man nicht über das Zweck-Mittel-Handeln hinausdenkt, werden kaum Grenzen des Handelns sichtbar. Die Fortschrittsmystik vermag alle Grenzen auszulöschen.

Dennoch werden immer auch Grenzen sichtbar. Vom Standpunkt der Effizienz des Marktes aus gesehen erscheint jede Forderung nach Berücksichtigung dieser Grenzen als Marktverzerrung.

Nur der Widerstand der Betroffenen kann Grenzen ziehen

Tatsächlich werden die Grenzen der Belastbarkeit für die Logik des Marktes nur sichtbar, wenn sich menschlicher Widerstand ergibt und wenn sich solche Widerstandsbewegungen dem Prozeß der Zerstörung, der sich aus der Totalisierung des Zweck-Mittel-Handelns ergibt, entgegenstellen. Das effizienzgeleitete Handeln entdeckt diese Grenzen nicht. Daher scheint der Widerstand, von der Marktlogik her gesehen, das Ergebnis von Irrationalitäten der anderen zu sein, die die Notwendigkeiten rationalen Handelns nicht einzusehen vermögen. Sie scheinen das Ergebnis von bösem Willen, von Neid, von »Populismus« zu sein. Der totale Markt erscheint in dieser Utopie als das Maximum wirtschaftlicher Rationalität.

Obwohl das Zweck-Mittel-Handeln keine Grenzen der Belastbarkeit erkennt, ergeben sich tatsächlich solche Grenzen als Ergebnis des Widerstands der Betroffenen. Daher wird von diesem Handeln aus ein Kriterium entwickelt, dem gemäß man versucht, das Handeln bis zur Grenze der Belastbarkeit auszudehnen. Alles menschliche Denken und Handeln wird dieser Art Effizienzdenken und dieser Art von Ausnutzung aller Grenzen des Möglichen unterworfen.

Die Zerreißprobe als Grenze

Der General Massis, der die militärischen Operationen während des Algerienkrieges leitete, sagte: »Die Folter ist effizient, folglich ist sie notwendig.« Von der Effizienz geht er über zur Notwendigkeit. Aber eine solche Effizienz ist nur möglich dadurch, daß man bis an die Grenze des Möglichen vorstößt. Die Folter ist nur effizient, wenn sie den Gefolterten bis zur Grenze des Erträglichen treibt.

Es ist wie bei der Materialzerreißprobe. Man weiß die Grenze niemals ex ante. Reißt das Material, weiß man, daß man die Grenze der Belastbarkeit überschritten hat, das heißt, man weiß es ex post. Im Fall des Materials weiß man jetzt, bis zu welchem Punkt man es belasten kann.

Im Falle der Folter aber ist das anders. Überschreitet man die Grenze, ist der Gefolterte tot. Aber die Grenze der Belastbarkeit kann man nur wissen, indem man sie überschreitet. Dieses Wissen kann man allerdings, im Unterschied zur Materialzerreißprobe, nicht mehr anwenden. Die Effizienz aber braucht diesen Begriff der Grenze und braucht die Vorstellung, die Probe bis zur Grenze zu treiben.

Diese Vorstellung der Folter ist bereits in der Wiege der Erfahrungswissenschaften zu finden. Vor mehr als 300 Jahren kündigte Francis Bacon die Naturwissenschaften mit dieser Vorstellung an: ›Man muß die Natur auf die Folter spannen, bis sie ihre Geheimnisse preisgibt.‹ Er faßte die Naturwissenschaften als ununterbrochene Vivisektion der Natur auf. Ganz wie der General Massis hätte auch er sagen können: »Die Folter ist effizient, folglich ist sie notwendig.«

Auf die Frage eines Journalisten: »Was wird also Ihrer Ansicht nach in einer modernen globalisierten Wirtschaft geschehen?« antwortet Thurow: »Wir testen das System? Wie tief können die Löhne fallen, wie hoch kann die Arbeitslosenquote steigen, ehe das System bricht. Ich glaube, daß die Menschen sich immer mehr zurückziehen … Ich bin überzeugt daß der Mensch in der Regel erst dann die Notwendigkeit einsieht, Dinge zu ändern, wenn er in eine Krise gerät« (Spiegel 40/96, S. 146).

Das ist die Materialzerreißprobe, jetzt angewendet auf die zwischenmenschlichen Beziehungen. Denn es wird nicht einfach das System getestet, sondern alle Menschlichkeit.

Darauf folgt dann die Frage eines Journalisten: »Wieviel Markt hält Demokratie aus?« Und eine Zeitschrift fragt: »Wieviel Sport ertragen die Alpen?«

Alles wird gefoltert, alles wird der Zerreißprobe ausgesetzt: die Natur, die zwischenmenschlichen Beziehungen, das Leben und der Mensch selbst. Der Nutzenkalkül erfaßt alles und in seiner Konsequenz zerstört er alles.

Wir brauchen ein anderes Verständnis von Nützlichkeit

Daher ist es nützlich, den Nutzenkalkül selbst in seine Grenzen zu verweisen. Verantwortlichkeit ist nützlich, wenn sie sich der Totalisierung des Nutzenkalküls widersetzt. Dies ist nützlich, aber es ist gleichzeitig eine Forderung der Ethik. Hier treten Nützlichkeit und Ethik in einer gemeinsamen Dimension auf. Diese Dimension ist gleichzeitig die Dimension der Globalisierung der realen Welt, in der Mord Selbstmord ist. Diese Dimension des Nützlichen aber wird durch den Nutzenkalkül unsichtbar gemacht.

Nur in dieser Richtung kann man hoffen, eine Antwort zu finden. Es ist nützlich, nicht zu foltern, obwohl man dann vielleicht die Information nicht bekommt, die durch die Folter erpreßbar wäre. Es ist nützlich, lebendige zwischenmenschliche Beziehungen zu erhalten, auch wenn dann die Gewinnrate sinkt. Es ist nützlich, die Natur zu erhalten, auch wenn dadurch die Wachstumsraten niedriger ausfallen. Aber, dies zu tun, was nützlich ist, ist ebenso eine ethische Forderung. Die Ethik ist nützlich, aber gerade durch ein Nutzenkalkül nicht faßbar. Sie ist nützlich und gerade deshalb steht sie in einem Gegensatz zum Nutzenkalkül und zur Nutzenmaximierung. Verantwortlichkeit gründet in der Ethik.

Diese Position allerdings hat eine Grundvoraussetzung: die Voraussetzung der Anerkennung des anderen als Subjekt über jeden Nutzenkalkül hinaus. Dabei geht es dann nicht nur um die Anerkennung des anderen Menschen, sondern ganz genauso um die Anerkennung eines jeden Naturwesens, das um uns herum existiert. Es ist notwendig, den Nutzenkalkül zu relativieren, wenn wir die Bedingungen der Möglichkeit des menschlichen Lebens sichern wollen.

Die Kultur der Sicherheit, von der heute so viel gesprochen wird, kann ohne diese Anerkennung des anderen nicht entstehen. Die Angst ist ein schlechter Führer. Sie führt keineswegs automatisch zur Option für die Sicherheit. Viel wahrscheinlicher ist, daß sie in die Mystik des kollektiven Selbstmords der Menschheit führt: zum Marsch der Nibelungen.

Wir müssen uns gründen auf diese Anerkennung des anderen über jeden Nutzenkalkül hinaus. Dies aber ist gleichzeitig nützlich und verantwortlich. Nur hierauf lassen sich Menschenrechte begründen. Auch daß die Natur anerkannt wird und ein Recht darauf hat, nicht zerstört zu werden, ist ein Menschenrecht.