UTOPIE kreativ, H. 109/110 (November/Dezember 1999), S. 7-18
Eric Hobsbawm – Jg. 1917, geboren in Alexandria, Schulzeit in Wien und Berlin; seit 1933 in London; emeritierter Professor für Geschichte an der New Scool for Social Research in New York.
Der vorliegende Beitrag basiert auf einem Referat, das der Autor auf der 35. Tagung der Historiker der Arbeiterbewegung (ITH) in Linz am 15. September 1999 hielt.
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Gibt es eine oder mehrere Arbeiterbewegungen? Es gibt eine Arbeiterbewegung im engsten Sinne, nämlich die Bewegung zur Verbesserung und zur Verteidigung der tatsächlichen Lage der Lohnempfänger, der Arbeitnehmer, die überall in ähnlicher Art existiert – mit Streiks, Gewerkschafts-aktionen usw. –, wo es politisch erlaubt ist. Wie sich das dann mit Ideologien und Politik verbindet, ist eine ganz andere Frage. Da gehen die Ansichten auseinander. Z. B. war in England schon im 19. Jahrhundert die Gewerkschafts-bewegung genügend stark, so daß die Unternehmer mit ihr verhandeln mußten. In anderen Ländern war es nicht so. Es gibt Länder, wie z. B. Frankreich, wo diese Art der Arbeiterbewegung schon immer, von Anfang an, mit wenigen Ausnahmen, ziemlich schwach und nicht stabil war. Eric Hobsbawm: Erwiderung auf Fragen zum Referat vom 15. September 1999 in Linz, nach dem Tonbandmitschnitt.
Es stimmt, daß der Sozialismus nicht mit Marx angefangen hat und vielleicht auch nicht mit Marx aufhören wird – als Ideal. Ich habe ja bemerkt, daß es sozialistische Bewegungen gibt, die nicht direkt mit der Arbeiterbewegung zusammenhängen. Früher und heute. Ich glaube aber, daß das Problem des Sozialismus umzudenken ist, oder besser gesagt, daß wir es in zwei Teile teilen müssen. Das ursprüngliche Projekt war eigentlich nur als die Negierung des Kapitalismus, der bestehenden aufsteigenden Gesellschaftsordnung gedacht. Wenn man sich einmal die tatsächliche Politik, auch die tatsächliche Theorie der Begründer des Sozialismus anschaut, sieht man, daß sehr wenig über den Sozialismus nachgedacht worden ist. Sozialismus ist, wie wir es heute wissen, nicht (so gewesen), wie er sein sollte. Marx selbst hat ganz bewußt Abstand davon genommen, darüber nachzudenken, wie ein Sozialismus sein sollte, hat bloß allgemein von Sozialismus gesprochen. Und Sie wissen ja auch, daß die Wirtschaftstheorie (Planung und ähnliche Dinge) nicht ursprünglich aus dem Sozialismus kam. Als es nach dem ersten Weltkrieg zu Sozialisierungs-debatten kam, da waren es bürgerliche Volkswirtschaftler, die den Sozialdemokraten vorwarfen: Ihr habt ja nicht darüber nachgedacht, was nun eigentlich geschehen soll; das müßt ihr noch tun. Die einzigen Modelle, auch die, die die Bolschewiki wirklich hatten, waren die deutsche Kriegswirtschaft und ähnliche. Was den Leuten vorschwebte, war irgendeine Gesellschaft ohne Konkurrenz, ohne Geld, ohne Markt, gänzlich sozial organisiert. Das hat fehlgeschlagen. Entweder hat man Abstand davon genommen, es überhaupt zu realisieren, – das war bei den meisten sozialdemokratischen Parteien so, auch wenn sie vor und nach Godesberg weiterhin sagten, sie wollten am Ende doch irgendeine voll sozialistische Gesellschaft. Aber niemand hat es wirklich versucht. Oder man hat versucht, es auf bolschewistische Art zu realisieren, und das hat nicht geklappt. Eric Hobsbawm: Erwiderung auf Fragen zum Referat vom 15. September 1999 in Linz, nach dem Tonbandmitschnitt.
Der andere Teil des Sozialismus ist die Kritik der Tendenzen des Kapitalismus, die es immer mehr notwendig machen, daß die Struktur der Wirtschaft (sich) in einer Art wendet, daß soziale Kontrolle stattfindet, Wirtschaftsfunktionen sozial geregelt werden und nicht nur durch private Initiative und Imperative der Akkumulation des Kapitals. Diese Kritik besteht weiter, gerade angesichts der Tatsache, daß wir heute in einem Augenblick sind, in dem der Neoliberalismus – der Ultraneoliberalismus – seine Schwächen bewiesen hat, nämlich in der großen Krise des Vorjahres, 1998, deren Tiefe uns im »glücklichen Europa« nicht bewußt war – was sie für die Weltgesellschaft bedeutet, für die dritte Welt und ganz besonders für die exsozialistische Welt. Ich glaube, der Sieg des Neoliberalismus geht vorbei. Die Kritik, die Notwendigkeit einer sozialen Regelung der Wirtschaft beweist sich immer wieder als immer notwendiger. Und in diesem Sinne, glaube ich, ist der Sozialismus nicht nur nicht tot, sondern die Notwendigkeit dieser Dinge wird immer klarer. Eric Hobsbawm: Erwiderung auf Fragen zum Referat vom 15. September 1999 in Linz, nach dem Tonbandmitschnitt.
Ich habe nicht behauptet, daß das Wachstum der Arbeiterbewegung durch die Angst vor dem Kommunismus oder auch die Angst vor Hitler, vor der Radikalisierung der Arbeiter nach rechts, begründet wurde. Die Arbeiterbewegung mußte – in den Augen der Bourgeoisie – integriert werden, weil sie schon stark war. Was aber zum großen Teil, meiner Ansicht nach, der Furcht vor dem Kommunismus zuzuschreiben ist, ist die »Vernunftehe«, die der Kapitalismus nach 1945 mit der Sozialdemokratie einging; daß eine reformistische Sozialdemokratie bewußt als Teil, der staats- und systemerhaltende Teil, des reformierten Kapitalismus betrachtet wurde; daß sehr viel vom Programm der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung, nicht zuletzt das Recht auf Arbeit, d. h. die Vollbeschäftigung, übernommen wurde. Ich glaube kaum, daß es ohne die Erfahrungen der Zeit zwischen den Kriegen dazu gekommen wäre. Dazu gehört nicht nur die Furcht vor dem Kommunismus und der Sowjetunion, sondern auch die Furcht vor einer Rechtsradikalisierung, die in den dreißiger Jahren stattgefunden hatte und die ja heute unter Umständen wieder stattfindet. Eric Hobsbawm: Erwiderung auf Fragen zum Referat vom 15. September 1999 in Linz, nach dem Tonbandmitschnitt.
Ob es positive Ausblicke ins 21. Jahrhundert gibt, ist etwas, was man einen Historiker, zumal Historiker des 20. Jahrhunderts, nicht fragen soll. Das einzige, was ich sagen kann, ist: Wir haben dieses Jahrhundert durchgemacht, sind doch am Ende herausgekommen, haben das Ärgste, was die Geschichte uns antun kann, (über)lebt – und das gibt schon einen gewissen Grund zum Optimismus. Viel mehr möchte ich dazu nicht sagen. Das machen Politiker. Ich kann bloß sagen: Die Arbeiterbewegung geht weiter. Die Parteien, die aus ihr herausgekommen sind, sind Trägerinnen eines Projekts, das man Moderne nennen kann oder auch nicht, das aber aus dem 18. Jahrhundert, aus dem Zeitalter der Revolution und der Aufklärung ausgeht und bis heute das einzige Projekt geblieben ist, das allen Menschen, überall die Besserung andient; das sich nicht darauf beschränkt, nur den einen das zu geben, was den anderen vorenthalten wird. Und ich glaube, daß diese Tradition noch da ist und sie auch noch in der Politik, nicht nur in der Politik von Parteien, sondern in gewisser Hinsicht unter den Wählern da ist. Sie wird schwer und schnell untergraben durch die heutige Tendenz, die sich nicht aus der Ideologie des freien Marktes absondert, sondern aus der Realität des freien Supermarktes, die Bürger durch Käufer zu ersetzen, ihnen zu sagen: Alles, was ihr braucht, ist nur: zu sagen, was ihr haben wollt – und dann kauft es euch, der Supermarkt liefert es euch; ihr braucht eigentlich nicht zu wählen, nicht zu demonstrieren, ihr braucht überhaupt nichts zu tun. Und das ist die große Gefahr. Aber gegen diese Gefahr gibt es, glaube ich, schon genug Anzeichen, auch in Europa, Anzeichen dafür, daß die Leute nicht bereit sind, sich einfach von Menschen in Käufer zu verwandeln. Und wenn das als optimistische Vorhersage zählen kann – nun, so sei es das. Eric Hobsbawm: Erwiderung auf Fragen zum Referat vom 15. September 1999 in Linz, nach dem Tonbandmitschnitt
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»Das Jahrhundert der Arbeiterbewegung« heißt der Titel, der mir schon vor Jahren vom Vorstand der Linzer Konferenz vorgeschlagen wurde. Jahrhunderte sind natürlich kein historischer Begriff. Sie sind mit der Geschichte nur durch die Chronologie und durch eine unserer Kultur spezifische Magie der Zahlen verbunden. Hundert Jahre sind eine rein zufällige Zahl in der Geschichte; und die Tatsache, daß wir die Jahrhunderte mit zwei Nullen beginnen, ist noch zufälliger. Übrigens ist es reiner Eurozentrismus, daß die Welt dieses Jahresende, das Ende eines Jahrhunderts und eines Jahrtausends, feiert, denn nur in der christlichen Zeitrechnung ist das so. Wir haben uns aber an die Jahrhunderte gewöhnt, und sie sind eine nützliche Zeitspanne für Leute, die beruflich Ideen vermitteln wie Lehrer, Journalisten und auch Historiker. Ich spreche zu Ihnen also über »das Jahrhundert der Arbeiterbewegung«, mit oder ohne Fragezeichen, obwohl jeder Leser des Kommunistischen Manifests weiß, daß die Arbeiterbewegung bedeutend älter ist als hundert Jahre. Allerdings, die Geschichtsschreibung der Arbeiterbewegung ist kaum mehr als ein Jahrhundert alt. Die ersten bedeutenden Werke der britischen Arbeitergeschichte gehören in die 1880er und 1890er Jahre – ich denke vor allem an die großen Werke des Ehepaars Webb über die britischen Gewerkschaften. Der erste allgemeine Überblick ist wohl W. Kulemanns »Die Gewerkschaftsbewegung. Darstellung der gewerkschaftlichen Organisation der Arbeiter und Arbeitgeber aller Länder«, die vor fast hundert Jahren erschien (Jena 1900). Um diese Zeit erschienen auch die ersten innerhalb der Arbeiterparteien geschriebenen Geschichten der Sozialdemokratie, z.B. die erste Version von Mehring 1898.
Was aber bedeutet mein Titel? Mindestens zweierlei. Einerseits wirft er die Frage auf: Was ist in diesem Jahrhundert mit der Arbeiterbewegung geschehen? Wie hat sie sich entwickelt? Andererseits die Frage: Was für eine Rolle hat die Arbeiterbewegung in der Geschichte dieses Jahrhunderts gespielt? Wie hat sie diese Geschichte auch außerhalb der Arbeiterklasse beeinflußt? Über beides möchte ich sprechen.
Zufällig hat die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert (wenn wir die Daten nicht zu pedantisch auffassen) Bedeutung für beide Fragen. Lassen Sie mich ein paar Daten zitieren: In den damaligen neunziger Jahren gab die britische Regierung zum ersten Mal eine »Abstract of Labour Statistics« heraus; 1896 das betreffende belgische Ministerium die erste Nummer einer »Revue du Travail«. Mit anderen Worten: In den neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts mußten die Regierungen Europas zum ersten Mal bewußt mit einer fest etablierten Arbeiterbewegung rechnen. 1894 griff ein britischer Ministerpräsident – Lord Rosebery – zum ersten Mal als Schlichter in einen Kampf zwischen Unternehmern und Arbeitern ein; fünf Jahre später, 1899, tat es der französische Ministerpräsident Waldeck-Rousseau – aufgefordert diesmal von der streikenden Arbeiterschaft der Schneider-Creusot-Werke. Und im gleichen Jahr 1899 machte die französische Regierung einen Schritt, der die politischen Parteien der Arbeiterbewegung, d.h. hauptsächlich die sozialistischen, in eine tiefe Krise stürzte: Sie ernannte einen Sozialisten, den vierzigjährigen Alexandre Millerand, zum Handelsminister. Bis dahin – und noch viel später – stand es für die Sozialisten fest, daß sie erst mit der Niederlage des Kapitalismus, d.h. mit der Revolution, dem erfolgreichen Generalstreik oder dem Wahlsieg einer kompromißlosen sozialdemokratischen Partei, Regierungen bilden oder an diesen teilnehmen sollten. Diese Krise, d.h. der 1900er Kongreß der Zweiten Internationale, der sich dazu äußern mußte, eröffnet das »Jahrhundert der Arbeiterbewegung« im Sinne dieses Vortrags. Diese Arbeiterbewegung war damals allerdings fast gänzlich auf Europa und die Länder der europäischen Emigration beschränkt.
Warum glaubten die Regierungen Europas, sie müßten sich mit der organisierten Arbeiterbewegung auseinandersetzen? Kaum aus wirtschaftlichen Gründen, obwohl schon damals Unternehmer behaupteten, die Gewerkschaften brächten sie an den Rand des Untergangs. Der Prozentsatz der gewerkschaftlich Organisierten war wohl dem heutigen in Ländern wie den Vereinigten Staaten von Amerika und Frankreich vergleichbar (gegen 15 – 20 Prozent in England und Frankreich, etwas weniger in Deutschland). Auch politisch war die Bewegung noch verhältnismäßig schwach, außer in Deutschland, wo die SPD schon mit gegen 30 Prozent der Stimmen bei weitem die größte Wählerpartei war. Allerdings gab es nur in wenigen Staaten schon das allgemeine (männliche) Wahlrecht, aber es war doch vorauszusehen, daß in den Ländern, in denen es eine Arbeiterpartei gab, sie nach Einführung der Wahldemokratie bald zu einer Wahlmacht werden würde. Das geschah im Laufe der Jahre vor 1914 in Skandinavien und anderswo. Was auf die Regierungen einwirkte, war das neue Klassenbewußtsein der Arbeiter, das seinen Ausdruck in den neuen, fast durchweg rotgefärbten Klassenparteien fand. Winston Churchill, als liberaler Handelsminister im reformistischen Ministerium nach 1906, hat das einmal klar formuliert: Wenn das liberal-konservative Zweiparteiensystem einmal zusammenbrechen sollte, dann käme es in Großbritannien zur reinen Klassenpolitik. Und das war natürlich ungünstig, da die meisten Briten zur Arbeiterklasse gehörten. Das war allerdings damals und später ein Ausnahmefall, denn die Arbeiterklasse war eine Minderheit in fast allen anderen Ländern.
Die Millerandkrise zwang die neuen Arbeiterparteien zum ersten Mal zur Untersuchung ihrer Beziehung zum System, in dem sie ihre Tätigkeit ausübten. Offensichtlich stand eine solche Untersuchung auf der Tagesordnung. Im gleichen Jahr – ja, vor fast genau hundert Jahren, im Herbst 1899 – veröffentlichte Eduard Bernstein sein Manifest des Revisionismus »Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie«, das zur erbitterten internationalen Diskussion über seine Thesen führte. Wir leben auch heute wieder in einem ähnlichen historischen Augenblick, allerdings nicht unter dem optimistischen Vorzeichen der Arbeiterbewegung des alten fin-de-siècle, sondern unter dem pessimistischen des heutigen. Darf ich Sie daran erinnern, daß im gleichen Jahr 1899, auch zum ersten Mal, Bücher mit dem Titel »Krise des Marxismus« (Masaryk), ja sogar »Ende des Marxismus« (Weisengruen 1899) erschienen.
»Reformismus oder Revolution?« war die Grundfrage sowohl der Millerandkrise wie der Revisionismusdebatte. Wenn der Zusammenbruch des Kapitalismus nicht zu erwarten war – und damals wie heute konnte man nicht mehr an das unmittelbar bevorstehende Ende des Kapitalismus glauben, wenigstens in der sogenannten entwickelten Welt –, dann hieß die Frage: Was gab es eigentlich unter solchen Umständen für die Arbeiterbewegung zu tun? Oder mit anderen Worten, da die meisten dieser Arbeiterparteien sozialistisch waren: Gab es einen anderen Weg zum Sozialismus als die Revolution? Die Fälle Millerand und Bernstein waren skandalös, weil sie diese Frage in einer Form stellten, die sich nicht umgehen ließ. Bernstein formulierte sie sogar als offene Revision des Marxismus und wurde daher von allen Seiten entrüstet abgelehnt. Da es politisch um einen Einzelfall ging und die Theorie nicht angegriffen wurde, behandelte die Internationale die Millerand-Affäre viel behutsamer und schlug eine Kompromißlösung vor, die praktisch die Teilnahme an bürgerlichen Regierungen ermöglichte und daher auch den Weg zu einer neuen Politik öffnete. Auch in der Revisionismusfrage paßte sich die Sozialdemokratie in der Praxis, wenn auch nicht in der Theorie, an die Wirklichkeit des Kampfes um Besserung der Lage der Arbeiter innerhalb des Kapitalismus an, auch wenn sie Bernsteins theoretische Begründung des Reformismus kategorisch abwies. Kurz: Von 1900 an lebte auch die marxistische Arbeiterbewegung in den Hauptländern des Kapitalismus in einer faktischen Symbiose mit dem System und nicht im Kriegszustand mit ihm.
Ich sage bewußt: die sozialistische Arbeiterbewegung und nicht einfach die Arbeiterbewegung. Denn die Krise des Revisionismus war eine Krise des Sozialismus und nicht der Bewegung selbst. Gestern abend diskutierten wir das Thema: »Die Arbeiterbewegung – ein gescheitertes Projekt der Moderne?«1 Doch dieser Titel ist falsch. Die Arbeiterbewegung (wie das Klassenbewußtsein) ist kein »Projekt«, sondern ein in einem bestimmten Stadium der gesellschaftlichen Produktion logisch notwendiges und praktisch unvermeidliches Charakteristikum einer Klasse der Lohnarbeiter. Der Sozialismus dagegen ist ein Projekt, das heißt die Absicht und der Versuch, den Kapitalismus zu stürzen und durch ein neues wirtschaftliches System und eine neue Gesellschaft zu ersetzen. Obwohl dieses Projekt fast von Anfang an mit der Arbeiterbewegung eng verflochten ist, sind die beiden nicht identisch. Arbeiterbewegungen finden wir in allen Gesellschaften, in denen eine Arbeiterklasse existiert, außer dort, wo sie durch Zwang und Terror verhindert wird. Allerdings finden wir sie besonders klar entwickelt in Ländern, in denen es durch politische Demokratie oder anderswie möglich ist, daß sie ihre Tätigkeit entfalten kann. Sie spielte z.B. in der Geschichte der Vereinigten Staaten eine bedeutende Rolle, zum Unterschied vom Sozialismus als Ideologie oder als politische Bewegung, deren Abwesenheit dort schon seit hundert Jahren oft bemerkt wurde. Sie spielt sie dort übrigens noch immer, z.B. als eine der wichtigsten Geldgeberinnen für die Demokratische Partei. Auch in Großbritannien gab es vor der Labour Party eine mit der Liberalen Partei verbundene Arbeiterbewegung, und daß die Bewegung sich gänzlich von den Liberalen trennte, wurde erst nach dem Ersten Weltkrieg unvermeidlich. Es erstaunt noch heute manchen Sozialisten und Kommunisten, daß sich in den vierziger Jahren unseres Jahrhunderts in Argentinien eine politisch eigenständige und radikale Massenarbeiter- und Gewerkschaftsbewegung entwickelte, die ideologisch nicht sozialistisch war und auch nicht liberal, sondern rein durch Treue zu einem demagogischen Führer mobilisiert wurde, nämlich den Peronismus. Ja, es gibt nicht nur nichtsozialistische, sondern auch antisozialistische Arbeiterbewegungen, so zum Beispiel die polnische Solidarnos´c´, ebenso wie es nationalistisch oder konfessionell gefärbte Arbeiterbewegungen gab und gibt, ob ohne oder mit Verbindung zu anderen Ideologien. Erinnern wir uns daran, daß der Versuch, die Katholiken in die Regierung Nordirlands zu bringen, vor fünfundzwanzig Jahren durch einen Generalstreik der protestantischen Arbeiterschaft sabotiert wurde.
Ich behaupte natürlich nicht, daß die lange geschichtliche Verbindung zwischen Arbeiterbewegung, den Sozialisten, deren Ideologien und den sozialistischen Parteien ein historischer Zufall ist. Ich will nur feststellen, daß Arbeiterbewegung und Sozialismus nicht notwendigerweise notorisch kongruent waren und sind. Es gibt übrigens in der Geschichte auch Sozialismus und Kommunismus ohne Arbeiterbewegung – vorkapitalistische, wie z.B. christliche und ketzerische, und dann den utopischen Sozialismus vor Marx, der ja an keine Klassenbasis gebunden war, jedenfalls theoretisch nicht, obwohl er praktisch sehr an Elemente aus der jungen Arbeiterbewegung anknüpfte. Ja, mehr noch: Marxistische Theoretiker von Kautsky bis Lenin behaupteten, daß der Sozialismus nicht spontan aus der Arbeiterbewegung entsprang, sondern von außen in sie hineingetragen werden mußte. Das ist meiner Ansicht nach übertrieben. Ich glaube, daß mindestens seit dem Zeitalter der Revolution – besonders der Großen Französischen Revolution, aber auch der gesellschaftlichen Umwälzung der industriellen Revolution – die Möglichkeit eines Umsturzes, einer ganz anderen Gesellschaft als der heutigen, zum Erfahrungsgut der Menschen aller Klassen in den von diesen Revolutionen betroffenen Gebieten wurde. Der kollektive Kampf um die Verbesserung der Bedingungen der Arbeiter schloß also die Möglichkeit und daher für arme Leute den Wunsch nach einer neuen und besseren, d.h. einer sozial gerechteren, Gesellschaft ein. Ja, ich glaube sogar, daß die Idee einer auf Gemeinschaft und nicht auf Konkurrenz gebauten Gesellschaft spontan in der frühen Arbeiterbewegung enthalten war. Was von außen in die Bewegung hineingetragen werden mußte, war etwas anderes: nämlich der spezifische Name und Inhalt dieser neuen Gesellschaft – Sozialismus als Programm der Bewegung, die Strategie des Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus, und ganz besonders der Begriff der auf gesamtstaatlicher Ebene organisierten und politisch tätigen Klassenparteien und deren Programm. Gewerkschaften, Streiks, Genossenschaften, kollektive, gemeinsame Hilfe ergeben sich sozusagen spontan aus der Lage, aus der Lebenserfahrung der Proletarier. Aber eine politische Partei in einem modernen Staat und noch weniger auf internationaler Ebene kommt nicht automatisch.
Der grundlegende Beitrag von Karl Marx und Friedrich Engels war die Feststellung, schon im Kommunistischen Manifest, daß die Organisation der Arbeiter als Klasse logisch ihren Ausdruck in einer gesamtstaatlichen politischen Partei finden mußte. Allerdings konnte das nur unter Bedingungen der liberalen oder bürgerlich-demokratischen Verfassungsstaaten stattfinden, denn nur diese erlaubten sozusagen eine offizielle legale Organisation der Massen. Das war eine Erkenntnis von ungeheurer historischer Reichweite sowohl für die Arbeiterbewegung, die es ohne politischen Druck auf die Unternehmer durch den Staat nicht sehr weit bringen konnte, wie auch für die Struktur der modernen Politik im allgemeinen. Das beweist schon die Tatsache, daß ja noch heute fast alle Staaten der europäischen Union ganz oder zum Teil von diesen von Marx und Engels vorhergesagten und vor etwa hundert Jahren in der Zweiten Internationale zusammengefaßten Arbeiterparteien regiert werden. Andererseits bestand und besteht kein zwingender Grund anzunehmen, die Arbeiterklasse (und daher die Arbeiterbewegung) könnte es unter keinen Umständen im Kapitalismus zu etwas bringen und müßte daher revolutionär werden oder bleiben, und es gibt überhaupt keinen Grund anzunehmen, sie wäre unter allen Umständen die eigentliche, die »wirklich revolutionäre Klasse«. Das haben Intellektuelle und andere Menschen, die sich der Arbeiterbewegung anschlossen, in sie hineingelesen, weil sie wollten, daß es so wäre.
Wir wissen aber heute leider, daß es nicht notwendigerweise so war oder ist. Wir wissen übrigens auch, daß Revolutionen viel zu komplizierte Ereignisse sind, als daß man sie einfach von der Klassenstruktur ablesen könnte. Die linken Historiker und Theoretiker der Arbeiterbewegung, besonders die Marxisten, die erklären wollten, warum die meisten Arbeiterparteien sich meist hartnäckig weigerten, ihre revolutionäre Rolle zu spielen, hätten sich viel Zeit, Mühe und Scharfsinn ersparen können.
In Ländern des entwickelten Kapitalismus, in denen eine Revolution nicht aus anderen Gründen auf der Tagesordnung stand, gab es wohl Revolutionäre innerhalb und außerhalb der Arbeiterbewegung; aber die Mitglieder dieser Arbeiterbewegung selbst waren nur ausnahmsweise revolutionär, auch wenn ihre Parteien sich sozialistisch nannten. Die Rolle dieser Minderheiten der Revolutionäre war andererseits von Zeit zu Zeit eine bedeutende. Ich werde darauf noch kurz zurückkommen.
Am Anfang dieses Jahrhunderts schien also in den Staaten des entwickelten Kapitalismus der Symbiose der Arbeiterbewegung mit einem funktionsfähigen Kapitalismus nichts entgegenzustehen; und ein Zusammenbruch des Kapitalismus war ebensowenig zu erwarten wie der der bürgerlich-liberalen und sich demokratisierenden Verfassungen, die seine typische Staatsform darstellten. Kaum etwas schien das bürgerlich-kapitalistische Entwicklungsmodell und die imperialistische Struktur der Welt zu gefährden, d.h. die wirtschaftliche, kulturelle und nicht zuletzt politisch-militärische Überlegenheit der »entwickelten« bürgerlichen Welt und die Abhängigkeit der »rückständigen« Welt. Ja, sogar in den meisten rückständigen Ländern, in denen die Revolution wirklich und nicht nur rhetorisch auf der Tagesordnung stand, schien es für die Marxisten klar, daß es nur durch die bürgerlich-kapitalistische Entwicklung vorwärts ging. Für die sogenannten Legalmarxisten in Rußland wurde daher der Marxismus eine Ideologie der kapitalistischen Industrialisierung und nicht mehr, und sogar die Bolschewiki waren bis 1917 überzeugt, daß die kommende Revolution in erster Linie zu einer bürgerlichen Gesellschaft führen müßte, da erst durch diese die geschichtlichen Bedingungen für den weiteren Fortschritt zur proletarischen Revolution und damit zum Sozialismus geschaffen würden.
Der Erste Weltkrieg schien alle diese Prognosen wegzufegen. Was ich als das »Katastrophenzeitalter« genannt habe, von 1914 bis Ende der vierziger Jahre2, stand im Zeichen der Worte: Krieg, Zusammenbruch und Revolution, d.h. vor allem der russischen Oktoberrevolution. Für die alte Welt ging alles schief: Weltkriege mündeten in Revolutionen und Zusammenbrüchen der Kolonialreiche, die bürgerlich-liberalen und demokratischen Rechts- und Verfassungsstaaten wichen in Blitzesschnelle, innerhalb von zwanzig Jahren, politischen Regimes, die man sich vor 1914 kaum hätte vorstellen können, wie Hitlers Deutschland und Stalins UdSSR.
Der liberale Marktkapitalismus selbst schien in der Krise der frühen dreißiger Jahre zusammenzubrechen. Die Frage stellte sich, selbst für viele Bürgerliche: Konnte er überhaupt überleben, außer in einer Form, die Demokratie und Arbeiterbewegung abschaffte, d.h. als autoritäres oder faschistisches System? (An die Verbindung von Diktatur und uneingeschränkter Marktwirtschaft, wie sie in Chile oder Indonesien bekannt wurde, dachte noch niemand).
Daß man außerhalb Moskaus die primitive Wirtschaft der Stalinschen Sowjetunion ernstlich als ein dynamischeres Wirtschaftssystem als das westliche betrachten konnte, als mögliche Alternative zum Kapitalismus im Weltmaßstab, läßt sich nur durch die große Krise der beginnenden dreißiger Jahre erklären. Ja, bis in die frühen sechziger Jahre gab es bürgerliche Politiker (wie den englischen Ministerpräsidenten Macmillan), die (wie Chrustschow) glaubten, die sozialistischen Wirtschaften könnten die westlichen überholen. Aber auch wenn man das wirtschaftliche Potential des kommunistischen Staates skeptischer einschätzte, so konnte niemand die weltpolitische Bedeutung und die militärische Macht der Sowjetunion übersehen. Der Erste Weltkrieg hatte dem Zarismus das Genick gebrochen. Der zweite bewies die Überlegenheit des neuen Rußland gegenüber dem alten, es war der wichtigste Faktor für den Sieg über den Faschismus. Der Zweite Weltkrieg machte die UdSSR zur Supermacht. Und für die neu befreiten Kolonien und andere Staaten der Dritten Welt wurde sie, und durch sie der Sozialismus, tatsächlich ein wirtschaftliches Entwicklungsmodell.
Der Sturz des Kapitalismus und nicht die Symbiose mit ihm schien also im Katastrophenzeitalter an der Tagesordnung; der revolutionäre Aufbau einer neuen Gesellschaft und nicht der langsame Vormarsch durch Reformen auf ein praktisch kaum mehr angestrebtes Endziel. Ja, das Ehepaar Webb z.B., die Gründer der englischen Fabier-Gesellschaft, von denen seinerzeit Bernstein den Revisionismus gelernt hatte, sagten sich in den dreißiger Jahren vom Reformismus ab und wurden Bewunderer der Sowjetunion. Das ist heute schwer zu verstehen, Historiker müssen aber wissen, daß es damals so war.
Doch – obwohl es nach 1918 und in den dreißiger Jahren weiß Gott nicht so aussah – drohten dem Kapitalismus in seinen Hauptländern weder der endgültige Zusammenbruch noch die soziale Revolution. Die blieb auf die Länder an der Peripherie des Systems beschränkt, und die Hoffnung, sie könnte von Moskau nach Berlin überspringen, war nie realistisch. Daher blieb die Basis der reformistischen Symbiose bestehen. Ja, die russische Revolution und das Gespenst eines kommunistischen Weltumsturzes machten sie für die bürgerliche Politik und die Unternehmer noch reizvoller, besonders da sich nach 1917 die reformistischen und die revolutionären Parteien ganz scharf voneinander abgrenzten.
Bloß: Zwischen den Kriegen fehlte zeitweise die wirtschaftliche Konjunktur, welche die Mittel für die dafür notwendigen Konzessionen an die Arbeiterbewegung hätte liefern können. Übrigens blieb die Arbeiterbewegung in diesen Ländern auch in den ärgsten Krisenzeiten mehrheitlich bei reformistischen und nicht bei revolutionären Parteien. Nur während des Krieges änderte sich das in einigen Ländern.
Zwischen den Kriegen gab es nur drei Staaten, in denen legale kommunistische Parteien Massenanhang hatten, und auch dort blieben sie bis zum Ende der Legalität schwächer als die Sozialdemokratie: Deutschland, Frankreich und die Tschechoslowakei; wäre die kommunistische Partei in Finnland legal gewesen, dann hätte es wohl vier gegeben. Anderswo hatten die revolutionären Parteien maximal gegen 6 Prozent (Belgien, Norwegen, Schweden) und auch das nur flüchtig.
Nach dem Zweiten Weltkrieg kehrte die Symbiose wieder, diesmal im Rahmen einer systematischen wirtschaftspolitischen Reform des westlichen Kapitalismus, gestützt sowohl auf eine bewußte Politik der Integration der Arbeiterbewegung durch Vollbeschäftigung und Sozialstaat, wie auch auf das Wirtschaftswunder des »goldenen Zeitalters« (1947-1973). Wäre diese neue Symbiose auf diese Art zustandegekommen ohne die traumatische Erfahrung der großen Krise und des deutschen Nationalsozialismus? Auch ohne die Furcht vor dem Vormarsch des Kommunismus, hinter dem jetzt eine Supermacht stand? Hätte Bernstein ohne Hitler und Stalin siegen können? Wahrscheinlich nicht.
In den Kernländern des Kapitalismus siegte also das revisionistische Modell der Arbeiterbewegung, allerdings offiziell erst nach Ende des Katastrophenzeitalters, so z.B. mit der Absage der SPD an den Marxismus im Godesberger Programm (1959). Doch den Marxismus konnte man als sozialdemokratische Partei ruhig aufgeben. Wer brauchte den Sozialismus, wenn in der Praxis – d.h. gegen Ende des »goldenen Zeitalters« 1947-1973 – die Ziele des Reformismus fast hundertprozentig erreicht waren und es den Arbeitern besser ging, als es sich die optimistischsten Vertreter der Symbiose vor 1914 hätten vorstellen können! Die revisionistischen Parteien blieben trotz Absage an den Sozialismus von Marx weiter in der Arbeiterbewegung verankert und wurden – nicht zuletzt von ihrem Wählerstamm – als Vertreter der Arbeiterklasse behandelt.
Die Abkehr der Arbeiterparteien von ihrer Klasse kam erst später – in den achtziger und besonders den neunziger Jahren. Denn bis Ende der siebziger Jahre erforderte der beispiellose Aufschwung der Industrie – trotz der hohen und steigenden Technologien – noch immer eine riesige Masse der Industriearbeiter, deren Anteil an der Bevölkerung, und daher als Wähler, trotz allem nicht fiel und in vielen Ländern sogar noch anwuchs. In den siebziger Jahren gab es wohl im kapitalistischen Europa absolut und relativ mehr Proletarier als in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts, als das neue Klassenbewußtsein plötzlich proletarische Massenparteien aus der Erde gestampft hatte. Allerdings stellte sich heraus, daß die Arbeiterparteien es (auch zusammen mit der antireformistischen Linken) bestenfalls auf ungefähr die Hälfte der Stimmen bringen konnten, und auch das erst nach dem Zweiten Weltkrieg und besonders in den siebziger Jahren, kurz vor ihrer Krise.
Wenn wir die Zwischenkriegszeit beiseite lassen, können wir also die Entwicklung der Arbeiterbewegung in den kapitalistischen Kernländern bis zum neuen Krisenzeitalter seit den siebziger Jahren wie folgt zusammenfassen:
Schon vor dem Ersten Weltkrieg begann die Politik der herrschenden Klassen sich im Zuge der Demokratisierung auf sozialen Reformismus umzustellen. Die Zwischenkriegszeit beschleunigte diesen Prozeß in den nichtfaschistischen Ländern, obwohl er sich erst in der zweiten Nachkriegszeit unter der Devise »Wohlfahrtsstaat« systematisch durchsetzte. Es gab im Zuge der Demokratisierung der Politik und des wirtschaftlichen Wachstums schon vor 1914 eine wachsende Anerkennung der Rolle gemäßigter Arbeiterbewegungen (Deutschland, mit seinem Sonderweg, war noch immer eine Ausnahme). In bürgerlich-demokratischen Ländern war deren Integrierung in den normalen Prozeß der Politik nur eine Zeitfrage. Und das bedeutete weiter, in der Praxis, die Identifizierung der Arbeiterbewegungen und -parteien mit ihren Nationalstaaten. 1914 wurde das bei Kriegsausbruch unter Beweis gestellt.
Die Kraft der organisierten Arbeiterschaft, d.h. der Gewerkschaftsbewegungen, wuchs sprunghaft im Ersten Weltkrieg. Obwohl sich das zwischen den Kriegen nicht halten konnte, wuchsen die Kräfte der Arbeiterbewegung weiter in und nach dem zweiten Krieg und erreichten, mit Ausnahme der fast immer schwach und unsicher organisierten Industrieländer Frankreich und Spanien, wohl ihre maximale Stärke in den siebziger Jahren. Die Arbeiterparteien wurden ab dem Ersten Weltkrieg bewußt zu staats- und systemerhaltenden Kräften, d.h. sie wurden in und nach dem Ersten Weltkrieg in die Regierungen einbezogen, bildeten bald selbst Regierungen, allerdings erst nach dem Zweiten Weltkrieg Regierungen ohne Unterstützung durch nichtsozialistische Parteien. Auch diese Entwicklung erreichte ihren Höhepunkt in den siebziger Jahren. Dann aber kam die Krise.
Was aber war die Rolle der Revolutionäre in der Arbeiterbewegung? In den Kernländern des Kapitalismus war die Arbeiterbewegung keine revolutionäre, da weder der Sturz des Kapitalismus noch der Sozialismus zu erreichen waren. Aber man brauchte sie, die Revolutionäre, da auch die unsozialistische Arbeiterbewegung auf die Verbindung von Klassenkampf in den Betrieben und politischem Druck auf Nationalregierungen angewiesen ist. Besonders wo Gewerkschaften stark waren, war also Platz für revolutionäre Aktivisten, so daß ganz kleine Minderheiten z.B. von Kommunisten eine verhältnismäßig enorme Rolle in den Gewerkschaftsbewegungen von Ländern wie Großbritannien und sogar den Vereinigten Staaten spielen konnten, in denen ihre Partei politisch überhaupt nicht zählte. In Großbritannien z.B. erreichte die KP den Höhepunkt ihres Einflusses in der Gewerkschaftsbewegung in den siebziger Jahren, als sie schon politisch im Sterbebett lag. In den Diktaturen, die noch vom Katastrophenzeitalter übrig geblieben waren – so z.B. Portugal und Spanien – spielten die Kommunisten noch immer die führende Rolle in der Illegalität wie seinerzeit im Faschismus, wo die Rolle der Revolutionäre, die ja an die Illegalität, den illegalen Kampf gewöhnt waren, sehr grundlegend war. In den Ländern Südeuropas spielten sie auch eine maßgebliche Rolle im Übergang zur Demokratie, wurden aber bald an den Rand gedrängt. In Italien glich sich die größte kommunistische Massenpartei systematisch dem sozialdemokratischen Modell an; in Frankreich, wo sie das nicht tat, ging es mit ihr steil abwärts.
Außerhalb der Kernländer des Kapitalismus war die Lage ganz anders. Hier aber müssen wir – leider – zwischen den Ländern der siegreichen leninistischen Revolution und denen der Dritten Welt unterscheiden. Kurz gefaßt: Die Kommunisten siegten z.T. durch das und sicher im Namen des Proletariats und schufen durch die Industrialisierung eine riesige Arbeiterklasse in den Ländern des Realsozialismus. Aber sie schafften eine Arbeiterbewegung im wirklichen Sinn des Wortes ab und ließen, solange sie es konnten, keine von Staat und Partei unabhängige Organisation der Arbeiter zu. Und ohne diese kann es eine Arbeiterbewegung nicht geben. In der Zeit des Kommunismus gibt es daher eine Arbeitergeschichte, wohl auch eine Geschichte der Arbeitskämpfe, aber, mit wenigen Ausnahmen wie z.B. die polnische »Solidarität« in den achtziger Jahren, keine Arbeiterbewegung im eigentlichen Sinn.
Anderswo, in der Dritten Welt, beginnt, mit wenigen und bescheidenen Ausnahmen, die Arbeiterbewegung erst mit der russischen Revolution. Die Zweite Internationale existierte kaum in der Dritten Welt, und die Grundlagen der sozialdemokratischen, geschweige denn der Bernsteinschen Politik existierten einfach nicht. Andererseits existierte in gewissen Teilen der Dritten Welt, in Lateinamerika, etwas, was aus historischen Gründen im alten Europa kaum zu finden war, nämlich die Bereitschaft demagogischer Staatsoberhäupter, die Arbeiterbewegungen ganz bewußt gegen ältere Eliten von Großgrundbesitzern zu fördern, manchmal sogar Grundlagen für eine Arbeiterbewegung legal zu schaffen, wie z.B. in Argentinien und Brasilien. Allerdings bestand – mit einigen wenigen Ausnahmen (Bergbau und Energie, Textil-, Transport- und Hafenarbeit) – bis zur wirklichen Industrialisierung der Dritten Welt in den siebziger Jahren auch kaum eine organisierbare Arbeiterklasse.
Seitdem gibt es dort den Aufstieg von mindestens zwei Massenarbeiterbewegungen, die sich mit den europäischen sozialistischen Parteien von vor hundert Jahren vergleichen lassen. Ich denke hier erstens an die »Partei der Arbeiter« in Brasilien und zweitens (darüber weiß ich weniger) an die Massengewerkschaftsbewegung in Südkorea. Beide entstanden in den achtziger Jahren. Wie weit das typisch ist, ist eine große historische Frage. Das ist wohl, ähnlich wie es in Europa war, ein Übergangsphänomen einer gewissen Phase der Industrialisierung, die auch in der dritten Welt die Form wie in der ersten Welt erreichen wird. Der Einfluß der Leninisten auf die Bewegungen der dritten Welt war zwar bedeutend, aber nur in einigen Gebieten, z.B. in Südafrika, entscheidend. Doch gleichviel, was für eine Ideologie oder Nichtideologie hinter diesen Bewegungen stand, sie lebten meist in Ländern, wo Umsturz, Revolution, Straßenkampf und Gewehre im zwanzigsten Jahrhundert weit vertrauter waren als die friedliche, verfassungsmäßige, demokratische Politik.
Und nun komme ich am Ende dieses Vortrags zur großen Wende seit den siebziger Jahren. Ich denke hier nicht so sehr an den Zusammenbruch des Sozialismus sowjetischen Typs, sondern an den Zusammenbruch der Hoffnungen Bernsteins.
Das Gebäude des Reformismus ruhte auf drei Grundpfeilern.
Erstens, die Größe und das Wachstum der Arbeiterklasse und der Sinn für die Zugehörigkeit, der eine heterogene Masse von Arbeitenden und mehr oder weniger armen Menschen in eine einzige Klasse zusammenschweißte. In bürgerlich-demokratischen Staaten legte das schon vor 1914 Konzessionen an eine wichtige Wählermasse nahe, solange sie sich nicht zu radikal gebärdete. Aber seit den siebziger Jahren schrumpft die alte Arbeiterklasse in den Industrieländern der Ersten Welt sowohl relativ wie absolut, und sie hat viel vom einigenden Klassenbewußtsein verloren. Es kam hinzu, daß Arbeiterschichten, die früher bedingungslos zur Bewegung gehörten, jetzt zu wirtschaftsliberalen Parteien schwenkten, wie das in England unter Thatcher der Fall war. Denn mit der ungeheuren Bereicherung unserer Gesellschaften hat sie auch etwas verloren, nämlich die alte Überzeugung, daß wirkliche Besserung für den einzelnen nur durch oder wenigstens mit Solidarität und kollektivem Handeln zu erreichen ist.
Der zweite Grundpfeiler des Reformismus war seit der russischen Revolution 1917 und besonders seit 1945 die Angst vor dem Kommunismus und der Sowjetunion. Dessen Vormarsch schien nach 1945, wenigstens in Europa, nur durch eine Politik der Vollbeschäftigung und der Sozialreformen einzudämmen zu sein. Aber die UdSSR gibt es nicht mehr, und daher verlernte der Kapitalismus in den Jahren seit dem Fall der Mauer das Fürchten, und daher auch das Interesse an denen, die keine Aktien besitzen. Übrigens zeigte sich auch, daß die Massenarbeitslosigkeit in den achtziger und neunziger Jahren die alte Kraft zur politischen Radikalisierung verloren zu haben schien.
Doch nach 1945 erwies sich auch der Reformismus, und ganz besonders die Politik der Vollbeschäftigung, nicht nur politisch sondern auch wirtschaftlich notwendig, was Keynes und die schwedischen Ökonomen der Sozialdemokratie ja vorausgesagt hatten. Und das war der dritte Pfeiler, auf dem der Reformismus ruhte. Nicht nur sozialdemokratische Regierungen, sondern alle Regierungen verfolgten jetzt die gleiche Politik. Diese brachte den westlichen Staaten nicht nur politische Stabilisierung, sondern eine Hochkonjunktur und ein wirtschaftliches Wachstum des Kapitalismus wie noch nie zuvor. Erst in der Zeit der Krise seit 1973, als die Reformpolitik nicht mehr so erfolgreich war, ließen sich viele Regierungen von der ultraliberalen Wirtschaftsideologie überzeugen, die seit den Siebzigern in der volkswirtschaftlichen Fakultät Chicagos grassierte. Und für diese waren die Arbeiterbewegungen, Arbeiterparteien und öffentliche Wohlfahrtsvorkehrungen, ja überhaupt die Staaten, nichts als Behinderungen des freien Marktes, der maximales Wachstum der Profite und der Wirtschaft und daher so behaupteten diese Ideologen – der allgemeinen Wohlfahrt garantiere. Am besten, man könnte sie alle abschaffen. Statt Vollbeschäftigung gab es jetzt die Doktrin der »natural rate of unemployment«. Dazu kommt der Rückzug des Nationalstaates vor der transnationalen Globalwirtschaft, die seit den siebziger Jahren den Ton angibt. Die Arbeiterbewegungen blieben fest an ihre Nationalstaaten gekettet, ja mehr als je in den staatlich gelenkten Mischwirtschaften und Wohlfahrtsstaaten der zweiten Hälfte des Jahrhunderts. Ohne den Nationalstaat verlieren Arbeiterbewegung und Arbeiterparteien ihre stärkste politische Waffe. Und bis jetzt ist es den Arbeiterbewegungen trotz ihres theoretischen Internationalismus noch nie gelungen, sich vom rein nationalen Rahmen ihrer Tätigkeit zu befreien. Das müssen sie aber heute lernen.
Wir befinden uns also heute in einer neuen Phase der Geschichte der Arbeiterbewegung. Die Arbeiterbewegung besteht noch. In der sich neu industrialisierenden Dritten Welt ist sie, wie das Beispiel Brasilien und Korea zeigt, noch im Aufstieg. Dort kann von einer Schrumpfung der Industriearbeiterschaft noch keine Rede sein. Aber auch in den reichen Ländern der alten Industriewelt wird sie weiterbestehen, wenn auch in beschränkterem Umfang:
Erstens, weil (wie Marx voraussagte) die große Mehrheit der beschäftigten Bevölkerung aus Lohn- und Gehaltsempfängern besteht, deren Interessen, wenigstens als Arbeitnehmer, andere sind als die der Arbeitgeber. Konflikte zwischen beiden erfordern (jedenfalls auf der Arbeitnehmerseite) kollektives Handeln. Ob im politischen Sinn des Wortes oder unpolitisch – eine Art Klassenkampf geht weiter.
Zweitens gibt es noch eine gesellschaftliche Schichtung – d.h. gesellschaftliche Gruppen mit auseinandergehenden Interessen. Ob man sie Klassen nennt oder nicht – sie existieren. Daß diese heute anders aussehen als vor zweihundert oder vor hundert Jahren, das ist ganz natürlich. Die Politik geht daher weiter, wenn auch nur zum Teil als Klassenpolitik.
Drittens geht sie weiter, weil der Staat nicht im Aussterben ist. Ja, in mancher Hinsicht wächst seine Notwendigkeit in der Zeit der wirtschaftlichen Globalisierung, die er zwar nicht aufhalten kann, aber doch regeln muß. Der Staat oder öffentliche Behörden anderer Art bleiben weiter die einzigen Einrichtungen, durch die das Sozialprodukt nach menschlichen Kriterien unter der Bevölkerung verteilt werden kann, und zur Erfüllung der menschlichen Bedürfnisse, die der Markt nicht befriedigen kann. Die Politik bleibt also noch immer eine notwendige Dimension des Kampfes um soziale Besserung. Vielleicht ist sie in der globalen Wirtschaft, die nationale Gewerkschaften schwächt, noch wichtiger als früher.
Daß am Ende des Jahrhunderts die Arbeiterparteien der Zweiten Internationale noch immer, und meist unter ihrem alten Namen, in der Lage sind, Regierungen in den meisten europäischen Ländern zu bilden, ist also kein Zufall. Es ist aber auch kein Grund zum blinden Optimismus.
Zwei Gefahren drohen der Arbeiterbewegung am Ende dieses Jahrhunderts: die Abdankung ihrer Führer vor der Ideologie des Marktes und die Entpolitisierung der Bürger. Der sogenannte dritte Weg des Herrn Blair ist eine solche theoretische Abdankung – obwohl ich mit Genugtuung feststelle, daß die tatsächliche Politik der britischen Regierung in mancher Hinsicht noch an die alte Tradition des Labour anknüpft. Aber gefährlicher für die Zukunft der Bewegung wird es erst, wenn sich die Menschen selbst demoralisieren lassen. Wenn z.B. die Arbeiter und die Armen aufhören, an Wahlen teilzunehmen, weil sie sagen: Was werden die für unsereins schon tun? Wie in den USA, wo zwischen 1960 und 1988 die Teilnahme der Arbeiter an den Präsidentenwahlen um ein Drittel fiel. Entpolitisierung und das Gefühl der Machtlosigkeit sind die große Gefahr – und nicht nur für die Arbeiterbewegung, sondern für die Demokratie, ohne die sie nicht möglich ist.
1 Podiumsdiskussion an der Universität in Linz am 14. September 1999.
2 Vgl. Eric Hobsbawm: Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts, München/Wien 1995.