Publikation Ungleichheit / Soziale Kämpfe - Gesellschaftstheorie - Soziale Bewegungen / Organisierung Über den »dritten Weg« zur »neuen Mitte«?

Utopie Kreativ Heft 107 September 1999

Information

Reihe

Zeitschrift «Utopie Kreativ» (Archiv)

Autorin

Horst Dietzel,

Erschienen

September 1999

Bestellhinweis

Nur online verfügbar

UTOPIE kreativ, H. 107 (September) 1999, S. 36-44

Horst Dietzel - Jg. 1943, Dr. sc. phil., Sozialwissenschaftler, arbeitet in der Grundsatzkommission beim Parteivorstand der PDS mit.

Eine Zäsur in der Entwicklung der SPD

»Dritter Weg« und »neue Mitte« – das sind die neuen Schlagworte, mit denen Tony Blair und Gerhard Schröder für einen Kurswechsel der Sozialdemokratie werben. Das von beiden Politikern im Juni 1999 veröffentlichte Papier ist nur ein weiterer Baustein, um den Wechsel vom sozialdemokratischen Etatismus zum Neoliberalismus durchzusetzen. Im Bundestagswahlkampf 1998 war viel von Politikwechsel die Rede, die Richtung war aber reichlich diffus. Hier mischten sich noch traditionelle sozialdemokratische Vorstellungen von sozialer Gerechtigkeit mit Versatzstücken dessen, was der sozialdemokratische Bundeskanzler Gerhard Schröder nunmehr ohne den Ballast innerparteilicher Konsensfindung freier formuliert.

In verschiedenen Kommentaren und Betrachtungen über den Schröder-Kurs und die ihn begleitenden Papiere wird die »grundlegende Wende« hervorgehoben, die dieser neue Kurs eingeleitet habe. Tony Blair und »New Labour« dienen dem SPD-Vorsitzenden als Vorbild, nach dem er die deutsche Sozialdemokratie formen will. Die Fragen lauten: Worin besteht dieser – von verschiedenen Seiten prognostizierte – tiefgreifende Kurswechsel der Sozialdemokratie? Inwieweit verändert er den Charakter der SPD? Und: Wie sehen die Konsequenzen für die politische Landschaft in Deutschland aus?

Um diese Fragen zu beantworten, ist zunächst ein Rückblick auf die Entwicklung der SPD in den achtziger und neunziger Jahren angebracht.

Die innerparteiliche Entwicklung seit dem Regierungsverlust 1982

Die SPD ordnete nach dem Verlust der Regierungsmacht 1982 ihre innerparteilichen Verhältnisse neu. Im Jahre 1983 lehnte die Partei die Stationierung der Mittelstreckenraketen auf deutschem Boden ab. 1986 wurde der Beschluß gefaßt, innerhalb von zehn Jahren aus der Atomenergie auszusteigen; 1988 wurde der Weg zu einer Mindestquote für Frauen in innerparteilichen Ämtern und Mandaten beschlossen. Schließlich fand mit der Annahme des neuen Grundsatzprogramms in Berlin im Dezember 1989 die inhaltliche Erneuerung der SPD ihren Höhepunkt und – Abschluß.1 Das Programm trug wesentlich deutlichere kapitalismuskritische Züge als das Godesberger Programm aus dem Jahre 1959. Es wurde der sozial-ökologische Umbau skizziert und Abschied vom puren Wachstumsdenken genommen.2

1990 begann eine neue Etappe in der Entwicklung der SPD. Der Zusammenbruch der DDR und des Realsozialismus wirkten sich in vielfältiger Weise auf die Sozialdemokratie aus. Nicht nur, daß im Zusammenhang mit der deutschen Einheit Helmut Kohl erneut Bundeskanzler werden konnte und Oskar Lafontaine die Wahlen verlor. Der Einschnitt war tiefer. Vieles, was an kapitalismuskritischen und emanzipatorischen Positionen in den achtziger Jahren erarbeitet worden war, ging verloren. Die Ost-SPD hatte ohnehin mit den sozialistischen Traditionen der Sozialdemokratie nichts im Sinn. Der Begriff »demokratischer Sozialismus« wurde wie eine heiße Kartoffel fallengelassen.

Die Kanzlerkandidaten und Parteivorsitzenden wechselten in schneller Folge; auch in der Politik wurden wichtige Weichenstellungen vorgenommen und sozialdemokratische Positionen vor allem in den drei zentralen Fragen Asylrecht, großer Lauschangriff und friedenschaffende Bundeswehreinsätze Stück für Stück aufgegeben.

In der Wirtschafts-, Ökologieund Sozialpolitik wurde demgegenüber vieles in der Schwebe gehalten. Mit der überraschenden Wahl Oskar Lafontaines zum Parteivorsitzenden im Herbst 1995 schien es, als würden sich auf diesen Gebieten wieder linkere Positionen durchsetzen. Das trat nicht ein. Im Gegenteil, mit den wirtschaftspolitischen Beschlüssen des Hannoveraner Parteitages im Dezember 1997 mit dem Titel »Innovationen für Deutschland« wurden die Weichen eindeutig in Richtung neoliberaler Grundorientierung gestellt. Wichtige inhaltliche Positionen, wie sie noch im Grundsatzprogramm (aber nicht nur dort) beschlossen worden waren, wurden aufgegeben. Das betraf nicht nur die ökologische Komponente und die erneute Glorifizierung des Wachstums, sondern auch wichtige Positionen in der Frage, welche Wege aus der Massenarbeitslosigkeit gegangen werden könnten.

Mit der Wahl Gerhard Schröders zum Kanzlerkandidaten und der Verabschiedung des Wahlprogramms am 17. April 1998 in Leipzig war diese Periode in etwa abgeschlossen. Im Wahlkampf setzte die SPD weniger denn je auf Programmatik, sondern auf die Person. Die Amerikanisierung des Wahlkampfes ging dieses Mal in erster Linie von der SPD aus. Schon das hatte weitreichende Folgen für den Zustand der SPD – über den Wahltag hinaus. Der Abschied der SPD von einer Programmpartei war vorweggenommen.

Das Programm von 1998 – ein Schritt in die neoliberale Richtung

Obwohl auch dieses Wahlprogramm Formelkompromisse enthielt und verschiedene Logiken miteinander zu verbinden suchte, war es insgesamt »das marktwirtschaftlichste Programm, das die SPD je hatte« – so formulierte es Gerhard Schröder. Es enthielt schon im Ansatz ein deutlich anderes Herangehen als die Grundrichtung des Berliner Grundsatzprogramms von 1989. Wurden damals die Defizite der Marktwirtschaft deutlich herausgearbeitet, so hieß jetzt der Slogan »Erneuerung der sozialen Marktwirtschaft«. Im Berliner Programm war formuliert, »Reparaturen am Kapitalismus« genügten nicht; eine »neue Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft« sei nötig. Im Wahlprogramm 1998 hieß es dagegen: »Wir setzen auf die Kräfte des Marktes und die Leistungsbereitschaft der Menschen. Der marktwirtschaftliche Leistungswettbewerb der Unternehmen ist der beste Motor für Innovation und neue Arbeitsplätze.«3 Der grundlegende politische Ansatz des Wahlprogramms folgte dem Thesenpapier des wirtschaftspolitischen Diskussionskreises vom September 1997.4

Die Grundlogik lautete: Verbesserung der Angebotsbedingungen für die Unternehmen, deutliche Exportorientierung, Flexibilisierung der Arbeitsmärkte, Betonung der Eigenverantwortung gegenüber kollektiver Absicherung.5 Auf dieser Grundlage gab es einige Spezifika. Der internationale Standortwettbewerb sollte nicht in erster Linie über Kostenkonkurrenz und vor allem Lohnkürzung, sondern über Qualifikationssprünge in Branchen mit hoher Technologieintensität gewonnen werden. Deshalb hätten Bildung, Qualifikation, Forschungsund Technologieförderung einen besonders hohen Stellenwert. Die wichtigsten Instrumente zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit sah die SPD vorrangig darin, die Arbeit zu verbilligen, insbesondere durch die Senkung der Lohnnebenkosten, und darin, einen Billiglohnsektor zu installieren. Bei der Arbeitszeitverkürzung hielt sich die SPD zugleich deutlich zurück. Sie orientierte in erster Linie auf Flexibilisierung der Arbeitszeit und auf Teilzeitarbeit. Erst durch Intervention der SPD-Linken wurde ein allgemeiner Satz über die Arbeitszeitverkürzung aufgenommen. Von einem öffentlich geförderten Beschäftigungssektor war nicht die Rede.

Auf sozialpolitischem Gebiet waren die Positionen widersprüchlich. Einige unsoziale Maßnahmen der CDU/FDP-Regierungskoalition sollten zurückgenommen werden, zugleich setzte das Wahlprogramm auf diesem wichtigen Politikfeld neue Akzente. So sollten die Rentenkürzungspläne zwar rückgängig gemacht, das Rentenmodell der beitragsbezogenen Rente aber zugleich wesentlich reformiert, ergänzt bzw. verändert werden (»Vier-Säulen«-Modell Schröders). Schon hier hatte der traditionalistisch orientierte Flügel um Rudolf Dreßler eine Niederlage einstecken müssen. Ähnlich wie CDU und FDP betonten nun Sozialdemokraten, daß »Eigenverantwortung und Eigeninitiative« die Ziele eines modernen Sozialstaates seien.

Die ökologische Komponente in der Politik der SPD wurde (im Vergleich zum Grundsatzprogramm) deutlich zurückgenommen. Die Partei setzte nunmehr vor allem auf »Selbstverpflichtungen der Wirtschaft und auf Vereinbarungen«. Die Investitionskraft der Unternehmen für einen wirksamen Umweltschutz sollte gefördert werden.

Neue Akzente setzte die SPD in bezug auf den Staat und die innere Sicherheit. Wandte sie sich früher traditionell mehr oder minder deutlich gegen die Privatisierung öffentlicher Aufgaben, so wurde diese jetzt de facto befürwortet. Die Ansprüche an den Staat müßten ohnehin zurückgeschraubt werden.

Die Weichen in eine neue Richtung für die SPD waren also schon im Wahlprogramm gestellt worden. Konsequenz und Tragweite der Umorientierung wurden aber noch teilweise durch die auf soziale Gerechtigkeit abzielende Wahlpropaganda überdeckt. Schließlich wurde im Wahlkampf die Rücknahme unsozialer Maßnahmen angekündigt, die nach der Wahl im wesentlichen auch erfolgte.

Das Blair-Schröder-Papier – Kampfansage an alte sozialdemokratische Traditionen

Das vor den Europawahlen präsentierte Papier6 löste ein breites Echo in der Öffentlichkeit aus. Die FDP meinte, das Papier könnte eigentlich von ihr stammen. Die Unternehmerverbände zollten Anerkennung. Ein großer Teil der Gewerkschaften und die SPD-Linke kritisierten es mehr oder weniger stark. Die Medien sprachen von einer »Inszenierung«, wie sie Schröder und Blair in ihren Wahlkämpfen und sonstigen Auftritten bereits vielfach »gepflegt« hätten.

In der Tat: Es handelt sich hier um eine »Politikinszenierung«, was nicht heißt, daß das Papier politisch belanglos wäre. Obwohl es im allgemeinen verhaftet bleibt, sind die politischen Grundrichtungen, die sich schon im Wahlprogramm (und zuvor noch deutlicher im Papier des wirtschaftspolitischen Diskussionskreises vom September 1997) abzeichneten, jetzt klar erkennbar. Der politische Zweck besteht offenbar nicht darin, ausgearbeitete politische Konzepte vorzulegen, sondern die Mitgliedschaft von dem neuen politischen Kurs und die breite Öffentlichkeit von der »Modernität« der Sozialdemokratie zu überzeugen. Letztlich ist dieses Papier wohl als »ideologische Untermauerung« des praktisch-politischen Kurses der rot-grünen Bundesregierung gedacht.

Der grundlegende Gestus, mit dem der Aufsatz daherkommt, lautet: Wir müssen uns den »objektiv veränderten Bedingungen« anpassen. Gefordert werden »realitätstaugliche Antworten auf neue Herausforderungen«. Kritikwürdig ist nicht, daß sich Schröder und andere führende Sozialdemokraten den Umbrüchen in der heutigen Welt stellen – es sind die dafür gewählten politischen Weichenstellungen. Einige Thesen sind für sozialdemokratische Spitzenpolitiker in der vorgetragenen Schärfe tatsächlich außergewöhnlich. Das betrifft vor allem die Einschätzung der sozialdemokratischen Politik in den letzten Jahrzehnten.

Da wird behauptet, die Forderung nach sozialer Gerechtigkeit würde mit der Forderung nach »Gleichheit im Ergebnis« verwechselt. Der Weg zur sozialen Gerechtigkeit sei mit immer höheren öffentlichen Ausgaben gepflastert worden, »ohne Rücksicht auf Ergebnisse oder die Wirkung der hohen Steuerlast auf Wettbewerbsfähigkeit, Beschäftigung oder private Ausgaben«. Und: »Allzu oft wurden Rechte höher bewertet als Pflichten.«7 Eine Bewertung sozialdemokratischer Politik als Gleichmacherei, verantwortungsloses Anspruchsdenken und Innovationsfeindlichkeit vergißt, daß der »sozialdemokratische« Wohlfahrtsstaat über lange Jahre weitgehende Vollbeschäftigung und soziale Absicherungen gewährleistete. Daß das unter den heutigen Bedingungen nicht mehr so wie früher funktioniert, schmälert nicht den Erfolg, den dieses Modell erbrachte. Aber offenbar brauchen Blair und Schröder diese ahistorische Kritik, um ihre Konzeption durchzusetzen, die im Kern den gegenwärtigen Wachstumstyp fortsetzen und die sozialen Gegensätze nicht abbauen soll.

Schröder und Blair behaupten, sie wollten »Treue zu unseren Werten« und »Bereitschaft zum Wandel der alten Mittel und traditionellen Instrumente«8. Doch gleich zu Beginn ihres Papiers definieren sie die sozialdemokratischen Grundwerte um. Im Wertekanon taucht jetzt an erster Stelle »Fairneß« auf. Offenbar führen die Autoren diesen Begriff ein, um zu unterstreichen, daß die sogenannten unteren Schichten gegenüber den Mittelund Oberschichten »fair« sein sollen, also das Maß an Anspruchsdenken nicht überziehen. So wird nicht nur die Absage an eine Umverteilung von oben nach unten untermauert; es geht darum, die soziale Kontrolle derjenigen zu verschärfen, die auf die soziale Alimentierung durch die Gesellschaft angewiesen sind.

Das im Berliner Programm definierte Politikverständnis der Sozialdemokratie reduzieren die Autoren auf Anpassung an neue Bedingungen und Unterstützung »der Wirtschaft« (worunter allein das Unternehmertum – nicht auch die Arbeitnehmer – verstanden werden!). Sie negieren also das eigentlich »Politische«, das letztlich »die Wirtschaft« in allgemeine menschliche Ziele und Werte einbinden soll. Daß dies nicht so ist, liegt auf der Hand. Aber statt der größer gewordenen Unternehmermacht entgegenzusteuern, propagieren sie das Gegenteil.

Die neuen Tendenzen in der Politikkonzeption, die schon im Wahlprogramm angelegt waren, werden jetzt im Klartext formuliert. Primat hat die weltmarktorientierte Wachstumspolitik – und dieser wird staatliches Handeln untergeordnet. Vor allem die Sozialpolitik soll diesen veränderten Anforderungen angepaßt und umgebaut werden. Es geht hier um strukturelle Reformen, deren Konturen nur in Umrissen deutlich werden. In der politischen Praxis sind die Beschlüsse zur Rentenreform und zur Gesundheitsreform, das 630-DM-Gesetz und das Gesetz über die Scheinselbständigkeit unausgegoren und nicht in ein Gesamtreformkonzept eingebettet. Die Bemühungen, das Soziale anders als auf die traditionelle sozialdemokratische Weise zu beantworten, führen zu ambivalenten Ergebnissen. Wie die Regierungspolitik zeigt, kommt es in der Praxis zu Belastungen der unteren Schichten, und zugleich sollen/können bestimmte Teile der Bevölkerung vor dem völligen sozialen Absturz bewahrt werden (Programm gegen die Jugendarbeitslosigkeit und für Ausbildung, geplante Grundrente).

Es sind vor allem drei miteinander verbundene Säulen, auf denen die Politikkonzeption von Blair und Schröder beruht, die in Deutschland noch nicht durchgesetzt ist: Erstens ist das die Installierung eines Niedriglohnsektors. Unter dem Motto »Irgendeine Arbeit ist besser als gar keine« sollen vor allem die gering qualifizierten Menschen eine Arbeit erhalten. Damit das funktioniert, sollen die Arbeitgeber Subventionen auf »Einstiegsjobs« erhalten.

Zweitens geht es um die Verschärfung der Bedingungen für Sozialleistungen. Hier lautet das Motto: »Moderne Sozialdemokraten wollen das Sicherheitsnetz aus Ansprüchen in ein Sprungbrett in die Eigenverantwortung umwandeln.« Das bedeutet, die Arbeitslosen und Sozialhilfeempfänger ökonomisch dazu zu zwingen, unter deutlich schlechteren Bedingungen »irgendeine« Arbeit anzunehmen.

Diese Strategie ist machbar. Die Arbeitslosigkeit kann verringert und damit sozialer Sprengstoff aus der Gesellschaft genommen werden. Soziale Gerechtigkeit wird so nicht geschaffen – es ist der Weg in die Dienstbotengesellschaft. Die »neue Mitte« soll entlastet, einfache Arbeit verbilligt werden, so daß es sich für die höheren Einkommensbezieher lohnt, Dienstleistungen zu kaufen. Die »neue SPD« unter Gerhard Schröder findet sich mit einer noch tieferen Spaltung der abhängig Beschäftigten ab: zwischen einer wachsenden Schicht von Erwerbstätigen in niedrig bezahlten Jobs und einer saturierten Schicht von gut bezahlten und relativ sicheren Stammbelegschaften, Angestellten und Beamten. Es handelt sich hier primär nicht um eine Spaltung zwischen Kapital und Arbeit.

Ergänzt wird das mit einer weiteren Privatisierung öffentlicher Aufgaben und der »Verschlankung des Staates«. Die extensive Staatsverschuldung dürfe nicht toleriert werden. Und: Gerhard Schröder setzt auf eine Wiederbelebung des Neokorporatismus, wie die Bemühungen um ein »Bündnis für Arbeit« zeigen.

Die dritte Säule der politischen Konzeption von Blair und Schröder beruht darauf, die Steuerund Abgabenbelastung für die unteren und mittleren Einkommensbezieher zu senken. Ob die erwarteten Effekte eintreten, bleibt fraglich, weil eine Neuordnung der Verteilungsverhältnisse nicht angestrebt wird. Man landet so »zwangsläufig bei der Fortschreibung der Abgabenbelastung für die abhängig Beschäftigten und muß zugleich einen Umbau des Systems sozialer Sicherung ganz im Geiste neoliberaler Programmatik betreiben«.9

Diese »Drei-Säulen-Konzeption«, die vorerst nur in Ansätzen umgesetzt wurde, zeigt: Es handelt sich nicht um »Neoliberalismus pur«. Doch folgt die politische Linie weitgehend dieser Logik, wenn der Weltmarkt zum Drehund Angelpunkt erklärt wird und die politischen Maßnahmen (Niedriglohnsektor, Sozialabbau) davon abgeleitet werden. Um eine Reformkonzeption für eine solidarische Gesellschaft handelt es sich nicht. Die entscheidenden Probleme (Arbeitslosigkeit, ökologische Krise und die Unterentwicklung) werden sich auf diesem Weg nicht lösen lassen.

Bei der Bewertung dieser Konzeption sollte beachtet werden, daß sie noch nicht voll ausgearbeitet ist. Robert Misik schreibt zu Recht, ein Dilemma des »dritten Weges« bestünde darin, daß seine Frontleute radikale Pragmatiker seien. Sie folgten keinen Weltbildern, keinen Theorien »aus einem Guß«, ja nicht einmal klaren politischen und ökonomischen Konzepten.10 Ein weiteres Problem besteht darin, daß sich »dritte Wege« immer über zwei andere definieren und nicht aus sich selbst heraus, in diesem Falle über Neoliberalismus pur und sozialdemokratischen Etatismus. Johano Strasser schreibt: »Das Problem ist offenbar, daß niemand so recht weiß, wohin die Reise in Europa gehen soll. In all den werbewirksam inszenierten Schlachten zwischen sogenannten ›Traditionalisten‹ und ›Modernisierern‹ ist doch bisher nicht deutlich geworden, mit welcher Reformstrategie die moderne europäische Sozialdemokratie denn nun ins 21. Jahrhundert gehen soll.«11

Die »neue Mitte« – Konzeption oder nur Medienspektakel?

Die hier skizzierten Grundzüge der Konzeption Blair/Schröder finden sich im Begriff »neue Mitte« zusammengefaßt. Von der SPD wurde er im Bundestagswahlkampf 1998 eingeführt. Er war wohl zunächst als eine »PR-Maßnahme« gedacht, um neue Wählerschichten für die SPD zu gewinnen. Deshalb wurde er bewußt allgemein und schwammig definiert. Diese Rechnung ging auf.

Setzt man diesen Begriff ins Verhältnis zu der oben analysierten Politikkonzeption, so erhält er eine Bedeutung, die weiter reicht, denn er spricht die »Leistungsträgerinnen und Leistungsträger« der Gesellschaft, die »hoch qualifizierten und hochmotivierten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer«, die »vorausschauenden und engagierten Manager und Unternehmer«, die Handwerker und Freiberufler, die Informatiker, Ärzte und Ingenieure, die (erfolgreichen) Techniker und Wissenschaftler an.12

Der angestrebte Konsens schließt (im Unterschied zu CDU und FDP) die Gewerkschaften mit ein. Er knüpft vor allem an die Interessen hochleistungsfähiger Kernbelegschaften und weltmarktfähiger Unternehmen sowie breit gefächerter Mittelschichten an. Der »Normalverdiener« soll entlastet, die Mittelschichten sollen nicht stärker belastet werden. Dadurch soll Spielraum für Sozialausgaben gewonnen werden. Belastet werden diejenigen, die nicht in einem Erwerbsarbeitsverhältnis stehen bzw. nicht unternehmerisch tätig sind. Die SPD wird so bewußt auf eine andere Klientel orientiert als die, die von ihr bisher traditionell angesprochen wurde: Statt der »kleinen Leute« (ob Arbeiter, Angestellte, Sozialhilfeempfängerin oder Rentnerin) geht es jetzt vorwiegend um die im Arbeitsprozeß Stehenden.

Der neue Gesellschaftsvertrag, den Gerhard Schröder offenbar will, soll die saturierten Schichten stabilisieren, sie nicht »verprellen« und die anderen in Billigjobs »aktivieren«. Letztere sollen damit zufrieden gestellt werden, daß sie überhaupt eine Arbeit erhalten und damit in die Gesellschaft integriert bleiben. Den Schlüssel sehen Schröder und die neue Sozialdemokratie bei den etablierten und saturierten lohnarbeitenden Schichten bzw. Selbständigen. Das ist die »neue Mitte«.

Es handelt sich offenbar um den Versuch, die Interessen sehr unterschiedlicher sozialer Schichten und kultureller Milieus – die traditionelle Arbeitnehmerschaft und die leistungsorientierten Eliten wie auch unterschiedliche Mittelstandmilieus – zusammenzuführen. Ein solches »Bündnis« funktioniert allenfalls für den Wahlkampf, längerfristig ist es nicht stabil. Auch die teilweise quer zu den sozialökonomischen Lagen verlaufenden Konfliktlinien in der Ökologieoder in der Demokratiefrage können mit dem Slogan »neue Mitte« nicht kaschiert werden.13

Der weitere Weg der SPD

Die hier dargestellten Entwicklungen bedeuten einen tiefen Einschnitt in die Entwicklung der SPD. Der Prozeß ist bei weitem nicht abgeschlossen. Die SPD verläßt ihre eigenen Wurzeln. Sie verabschiedet sich ganz von der Arbeiterbewegung. Als Arbeiterbewegung bleibt nur die Gewerkschaftsbewegung. Und auch diese befindet sich im Umbruch, weil die Erwerbsarbeitsverhältnisse sich nachhaltig geändert haben. So wie »die Arbeiterbewegung« nicht mehr »die« Trägerin des Fortschritts ist, ist die Sozialdemokratie nicht automatisch »die« Fortschrittskraft.

Das muß nicht als moralisch verwerflich beurteilt werden. Vielmehr handelt es sich bei dem neuen »dritten Weg« um eine spezifische Reaktion auf die neuen Bedingungen. Zu Zeiten des Fordismus spielte der auf Reformen ausgerichtete Teil der Arbeiterbewegung eine nicht unwesentliche Rolle bei der Durchsetzung des Sozialstaatsmodells. Das Ende des Fordismus, die Globalisierung einerseits und die Individualisierung andererseits, die weitere Entwicklung der Produktivkräfte, die unübersichtlichen sozialstrukturellen Verhältnisse wirbelten die klassischen Wählerklientelen der Parteien durcheinander. Da sucht die Sozialdemokratie nach einem neuen Selbstverständnis und nach ihrem Platz im Parteiengefüge.

Der Spielraum der beiden »Volksparteien« CDU und SPD, sich gegeneinander zu profilieren, war schon in der Vergangenheit gering, und das wird sich nicht ändern, das Problem wird sich eher noch verschärfen. Diese Parteien müssen Interessen verschiedener sozialer Schichten und unterschiedliche geistige Orientierungen zusammenzuführen suchen. Die politische Differenz verschwindet, sie wird durch personelle Kompetenz ersetzt. »Volksparteien« sind strukturell nicht mehr in der Lage, einen tiefgreifenden Reformaufbruch anzupacken.

Der Charakter der SPD als Mitgliederund Programmpartei, in der es ernstzunehmende, auf die Führungskräfte ihre Wirkung nicht verfehlende Willensbildungsprozesse gab, geht verloren. Der Bundestagswahlkampf der SPD als eine mediale Inszenierung war dafür ein herausragendes Beispiel, das Blair-Schröder-Papier ist ein weiteres. Die politische Willensbildung in der Partei spielt eine immer geringere Rolle. Man kann davon ausgehen, daß das von der Mitgliedschaft überwiegend akzeptiert wird, zumindest so lange, wie die SPD sich in Regierungsverantwortung befindet. Thomas Meyer sieht drei Gefahren, die sich aus dieser Entwicklung für die SPD ergeben:

»Erstens: Der Verlust ihrer grundwerteorientierten politischen Identität durch Anpassung an die medialen Vermittlungsregeln.

Zweitens: Die Demotivierung und Entfremdung einer Mitgliedschaft, die sich weder bei der Formulierung der politischen Ziele noch ihrer Vermittlung ernstgenommen fühlen kann.

Drittens: Der Übergang zu einer charismatischen Führerpartei, wobei den Medien eine weitgehende Verfügung über die Politik und das Führungspersonal der Partei zuwächst.«14

Trotz dieses Trends zur »charismatischen Führerpartei« (eher wohl: »Kanzlerpartei«) bleibt die Programmatik für die SPD zunächst noch wichtig. Das Politikverständnis des Berliner Grundsatzprogramms und nicht wenige inhaltliche Aussagen dieses Programms stehen gegen die jetzt eingeschlagene politische Linie. Deshalb hat der Vorsitzende der Grundwertekommission, Wolfgang Thierse, zu einer neuen Programmdiskussion aufgerufen.

Wird links Platz frei?

Bisher ist nicht absehbar, ob die SPD-Linke die politischen Weichenstellungen in Richtung »dritter Weg« und »neue Mitte« abwehren kann. Dafür agiert sie selbst auf einer relativ uneinheitlichen inhaltlichen Grundlage, und auch organisatorisch ist sie nicht in der Lage, die Kräfte zu bündeln. Der »Frankfurter Kreis« kann diese Aufgabe offenbar nicht mehr erfüllen, die Diskussionen dort sind relativ folgenlos.

Bündnis 90/Die Grünen verabschieden sich gegenwärtig ebenfalls von ihren Wurzeln und alternativen Reformkonzepten. Auch dort gibt es keinen nennenswerten Widerstand der linken Kräfte, sie bleiben weitgehend neutralisiert.

Für die PDS ergeben sich aufgrund dieser Situation neue Möglichkeiten. Sie kann sich deutlich als die »eigentliche« linke Kraft definieren, zumal die Schröder-SPD und auch die Fischer-Grünen den links-rechts Gegensatz in der politischen Landschaft negieren wollen.

Dennoch gibt es eine Reihe von Faktoren, die einer allzu vereinfachten Vorstellung, die PDS könnte das frei gewordene linke Terrain besetzen, entgegenstehen. Zum einen sind die Vorbehalte in der entsprechenden Wählerklientel im Westen gegenüber der PDS noch so groß, daß kaum zu erwarten ist, daß relevante Teile zur PDS überwechseln werden. Die PDS erscheint in der Öffentlichkeit immer noch primär als »Ostpartei« und Erbin der SED. Zum anderen wird die aus den Mittelschichten stammende Wählerklientel, die SPD gewählt hat, eher wieder zur CDU zurückkehren. Und schließlich ist davon auszugehen, daß das ausgesprochen »linke« Wählerpotential selbst abschmilzt oder sich weiter aufsplittert.

Dennoch bestehen neue Chancen für die PDS, wenn sie es schafft, ihr inhaltliches Profil weiter zu schärfen. Ausschlaggebend dafür werden nicht allgemeine ideologische Kapitalismuskritik oder Sozialismusmodelle sein. Entscheidend wird sein, ob sie zum Sozialstaatsumbau, zur Erneuerung der Arbeitsgesellschaft und auch zur internationalen Politik eigene Antworten formuliert, die für die Öffentlichkeit nachvollziehbar sind und machbar erscheinen.

Kurzfristig fällt der PDS nahezu »objektiv« die Rolle zu, die bisher von SPD und Gewerkschaften erreichten sozialen Standards zu verteidigen, ohne auf eigene Antworten auf die neuen Herausforderungen zu verzichten.

Um die neuen weitergehenden Aufgaben annehmen zu können, müßte die PDS den Widerspruch zwischen einer mehr oder weniger pragmatischen Politik im Osten auf verschiedenen Ebenen und einer veralteten Ideologiediskussion auflösen. Die eigentliche Herausforderung besteht darin, sich stärker über die eigenen Inhalte zu definieren und nicht über Nähe oder Ferne zur SPD. Die beginnenden Programmdiskussionen bei SPD, Bündnisgrünen und PDS sind ein wesentlicher Schritt hin zur Neuprofilierung der drei Parteien. Die Suche nach Antworten auf die neue Weltsituation und auf die Veränderungen innerhalb der bundesrepublikanischen Gesellschaft beschäftigen heute alle Parteien. Die (sicher unterschiedlichen) Antworten sind noch nicht in ausreichendem Maße gefunden. Auch Schröders »dritter Weg« zeigt bisher nur sehr vage, wohin die Reise gehen soll.

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1 Vgl. Frank Unger, Andreas Wehr, Karen Schönwalder: New Democrats – New Labour – Neue Sozialdemokraten, Berlin 1998, S. 128-138.

2 Vgl. Grundsatzprogramm der SPD, beschlossen vom Programm-Parteitag der SPD am 20. Dezember 1989 in Berlin, Bonn o. J., bes. Kap. I, II und IV/4. (Das Programm wurde mit einer Änderung, die nunmehr vergangene deutsche Zweistaatlichkeit betreffend, auf dem Parteitag in Leipzig 1998 bestätigt).

3 Vgl. Arbeit, Innovation und Gerechtigkeit. SPD Wahlprogramm für die Bundestagswahl 1998. Beschluß des a. o. Parteitags der SPD am 17. April 1998 in Leipzig, Bonn o. J.

4 Vgl. Thesenpapier des wirtschaftspolitischen Diskussionskreises, in: Die Zeit, Nr. 39/1997 vom 19. September 1997.

5 Benny Mikfeld: »Das marktwirtschaftlichste Programm, das die SPD je hatte«, in: Sozialistische Politik und Wirtschaft (spw), H. 100, März/April 1998, S. 7.

6 Der Weg nach vorne für Europas Sozialdemokraten. Ein Vorschlag von Gerhard Schröder und Tony Blair, Manuskript. Leicht gekürzte Fassung in: Frankfurter Rundschau vom 10. Juni 1999.

7 Ebenda, Kapitel I: Aus Erfahrung lernen.

8 Ebenda.

9 Joachim Bischoff/Klaus Steinitz: Von der Hängematte zum Sprungbrett. Ein »Dritter Weg«. Ein neues Konzept der Sozialdemokratie, in: Disput, H. 6, 1999, S. 22.

10 Robert Misik: Philosophen, die die Welt nicht verändern. Der »dritte Weg« und die Bescheidenheit der Politik, in: Die Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte, H. 5, Mai 1999, S. 447/448.

11 Johano Strasser: Wege und Irrwege einer künftigen Politik, in: Ebenda, S. 463.

12 Arbeit, Innovation und Gerechtigkeit. SPD-Wahlprogramm … 1998, S. 13.

13 Benjamin Mikfeld/ Thomas Westphal: Die neue Mitte im Hochgeschwindigkeitsleerlauf, in: spw, H. 106, 1999, S. 25.

14 Thomas Meyer: Die Transformation der Sozialdemokratie. Eine Partei auf dem Weg ins 21. Jahrhundert, Bonn 1998, S. 169.