Erschienen:
Sozialismus 7/8-19993 Jahre lang hat sich Benjamin Netanyahu, der seinen Wahlerfolg 1996 maßgeblich drei furchtbaren Hamas-Anschlägen mit 60 Todesopfern verdankte, durchlaviert. Er hat sich mit immer neuen Tricks über Krisen hinweggerettet, damit aber alle innen- und außenpolitischen Probleme nur vergrößert. Unter seiner Führung geriet Israel in eine noch tiefere internationale Isolation als unter Premierminister Schamir vor 1992. Der auch unter Rabin und Peres zweischeidige Friedensprozeß war so sehr beschädigt, daß er eine Wiederwahl Netanyahus nicht überlebt hätte. Innenpolitisch vertiefte die opportunistische Schaukelpolitik den Kulturkampf um ein religiöses oder säkulares Staatsverständnis.
Angesichts dieser Bilanz sind die internationale Erleichterung und der Jubel der Wahlnacht auf dem Tel Aviver Rabinplatz nur zu verständlich. Fast alles ist besser als eine Wiederwahl Netanyahus.
Wenn sich trotztdem Skepsis in die Erleichterung mischt, hat das zwei Gründe. Zum einen gilt Ehud Barak als "Falke" mit nur geringer politischer Erfahrung und wenig Ausstrahlung. Zum anderen sind die Ergebnisse der Knessetwahlen keineswegs ein klares Votum für Mitte-Links. Angesichts der erneuten Stimmenverluste der Arbeiterpartei (trotz neuer Partner wie etwa Ex-Likud-Außenminister Levy kam sie auf kaum mehr als ein Fünftel der Stimmen) sowie der Gewinne des religiösen Lagers ist Baraks klarer Sieg in der Direktwahl des Ministerpräsidenten (56% gegen Netanhyhus 44%) in erster Linie ein Votum gegen die Unseriosität "Bibis" gewesen. Erfreulich, daß dieses Anliegen so vielen Israelis am Herzen lag - aber ein eindeutiges Votum für eine andere Politik ist dies noch nicht.
Ehud Barak, Israels höchstdekoriertester Offizier, ist ähnlich wie sein Mentor Jitzak Rabin eher ein "Falke" als eine "Taube". Insbesondere gegenüber den Palästinensern sowie in der Jerusalem-Frage vertritt er harte Positionen. Seine Ankündigung in der Wahlnacht, Jerusalem werde ewig die ungeteilte Hauptstadt Israels sein, und das Versprechen, jede Gebietsveränderung im Friedensprozeß an ein Referendum zu knüpfen, sind in der internationalen Politik ein unübliches und bedenkliches Mittel, handelt es sich doch um annektierte oder besetzte arabische Gebiete. Anders als Rabin hat Barak keine langjährige politische Vorgeschichte. Ob er, bei aller analytischen Begabung, Rabins Fähigkeit erwerben wird, das als unvermeidbar angesehene auch im Dialog mit Feinden durchzusetzen, bleibt abzuwarten.
Zu Zweifeln gibt auch Anlaß, daß schon unter Rabin und Peres der Friedensprozeß von israelischer Seite selten unzweideutig war und in den letzten drei Jahren fast das gesamte, mühsam erworbene Vertrauen zwischen Israel und den Nachbarn zerstört wurde. Insbesondere die sich verschlechternde Lebenssituation der meisten Palästinsenser, die sowohl der israelischen Politik als auch der Unfähigkeit der Autonomieregierung geschuldet ist, hat die Friedensbereitschaft der Palästinenser deutlich gedämpft. Auch wenn Hamas und andere Radikale sich derzeit mit Terroranschlägen zurückhalten, die Gefahr einer neuen Intifada besteht. Fatalerweise könnten viele Palästinenser aus der libanesischen Entwicklung und der Geschichte der ersten Intifada den Schluß ziehen, daß nur neue Gewalt ihnen internationale Aufmerksamkeit und israelisches Entgegenkommen sichern würden. Doch wäre dies vermutlich ein tragischer Irrtum, denn anders als gegenüber Syrien und Libanon hat Israel gegenüber Palästina grundsätzliche territoriale und ideologische Ansprüche, die eine pragmatische Lösung auch für Barak äußerst schwer machen. Daher drohen die Palästinenser auch bei einer Neuauflage des Friedensprozesses die eigentlichen Verlierer zu bleiben, wenn Syrien bei einer Rückgabe des Golan zum Frieden mit Israel bereit ist. Eine arabische Solidarität mit den Palästinensern war vielleicht noch nie so nötig wie heute, doch lehrt die Erfahrung der letzten 50 Jahre, daß die arabischen Führer die Palästinenser meistens nur für nationalegoistische Anliegen mißbraucht haben. Deshalb wäre es Aufgabe der Amerikaner und vor allem der EU, des Hauptgeldgebers, auf ein Gesamtpaket zu drängen sowie die Palästinenser durch massive wirtschaftlich-soziale Hilfe für die fast sicheren politische Mißerfolge (Ost-Jerusalem wird nicht Hauptstadt eines Staates Palästina, die meisten Siedlungen werden unter israelischer Herrschaft bleiben) zu kompensieren. Dazu bräuchte es aber eine effizientere und demokratisch kontrollierte Autonomieverwaltung.
Positiv ist immerhin zu vermerken, daß die Regierung Barak pragmatisch genug ist, einen Palästinenserstaat nicht prinzipiell abzulehnen. Pragmatisches Eigeninteresse wird die neue Regierung vermutlich auch zu einer Rückgabe des Golan, dessen strategische Bedeutung im Raketenzeitalter gesunken ist, sowie zu einem Abzug aus Südlibanon bewegen. Denkbar sind dabei zwei Varianten: Ein bedingungsloser einseitiger Rückzug bei gleichzeitigem Nachrücken der libanesischen Armee und einem Stillhalten der Hisbollah, oder, wahrscheinlicher, eine Gesamtlösung mit Syrien, ohne dessen Zustimmung in Libanon kein Frieden möglich ist.
Auf lange Sicht werden jedoch innenpolitische Fragen über Israels Zukunft entscheiden. In dieser Hinsicht spiegelt das Wahlergebnis die ganze Zerrisenheit des Landes wider. In dem Maße, wie Israels äußere Bedrohung nachgelassen hat und hoffentlich weiter sinken wird, werden die innergesellschaftlichen Risse sich verstärken. Die Trennlinien sind dabei aber nicht eindimensional. Im Unterschied zu anderen Ländern, in denen eine Rechts-Links-Trennung maßgeblich entlang wirtschafts- und sozialpolitischer Positionen verläuft (oder doch verlaufen sollte), beantworten in Israel zwei Antworten die Frage "What's left?": Die Haltung zum Friedensprozeß und das säkulare oder religiöse Staatsverständnis. "Links" im Sinne des Friedensprozesses sind die traditionelle Mehrheit der Arbeitspartei (Barak jedoch nur bedingt) sowie das linke Meretz-Bündnis und die drei arabischen Listen, die ihren Stimmenanteil seit 1992 verdoppelt haben. "Rechts" sind der Likud, die Nationalreligiösen und die extremen Nationalisten, bedingt auch die Parteien der russischen Einwanderer. Dazwischen stehen die neue Zentrumspartei, die trotz prominenter Spitzenkandidaten wie Ex-Verteidigungsminister Mordechai schwach abschnitt, die antireligiöse Shinui und auch der eigentliche Wahlsieger, die Shas- Partei als Vertreterin der marokkanischen und anderen arabischen Juden.
Steht jedoch das Staatsverständnis im Mittelpunkt, gehört die Shas-Partei der "Rechten" an, ebenso wie die anderen Religiösen. Meretz und Shinui sowie Teile der Arbeitspartei bilden die "Linke", aber auch die russischen Einwanderer sind mit ihrem säkularen Verständnis in dieser Frage der Linken näher.
Dementsprechend favorisieren diejenigen Linken, denen eine Gegenwehr gegen die religiösen Eiferer wichtig ist, eher ein Bündnis mit dem geschwächten Likud, während für den Friedensprozeß die eher indifferente Shas-Partei unproblematischer erscheint, die dafür aber den Einfluß der Orthodoxie weiter stärken und immer mehr Staatsgeld für ihre religiösen und sozialen Einrichtungen verlangen wird.
Eine Mitte-Links-Regierung ohne Religiöse und Likud hätte mit den zehn Stimmen der arabischen Parteien eine Mehrheit, was Barak aber scheut, um nicht als Verräter an der jüdischen Mehrheit diffamiert zu werden wie vor ihm Rabin. Ein Bündnis mit den kleineren, überwiegend nationalistischen religiösen Parteien wiederum würde dem Friedensprzoeß mehr schaden als eine Beteiligung der Shas-Partei.
Langfristig wird der Kulturkampf immer bedeutsamer. Wie lange kann Israel eines der wenigen Länder bleiben, daß weder Zivilehe noch Zivilscheidung kennt, wenn gleichzeitig der ultraorthodoxe Einfluß in den Rabinaten wächst? Kann ein Staat, dessen arabisch-nichtjüdische Minderheit fast ein Fünftel der Bevölkerung stellt, sich nur als jüdischer Staat definieren und dabei auch noch den Rabinaten die Entscheidung überlassen, wer als Jude zu verstehen ist? Kann israel, das sich mit Recht -wenn auch nicht in seiner Besatzungspolitik- als einzige Demokratie des Nahen Ostens rühmt, auf Dauer ohne eindeutige Verfassung auskommen? Und wie ist der sephardisch-aschkenasische Konflikt aufzulösen? Wie sind die unterschiedlichen kulturellen Impulse der russischen und äthiopischen Einwanderer, um nur zwei der jüngeren Zuwanderungsgruppen zu nennen, fruchtbar zu machen?
Immerhin hat Barak mit seiner Entschuldigung bei den sephardischen Israelis für ihre langjährige Benachteiligung und der Wahrnehmung ihrer sozialen Nöte erste Schritte getan, um die sozialen Ursachen ihrer verbreiteten religiösen und nationalistischen Fundamentalpositionen zu überwinden. Viele weitere werden folgen müssen, damit der Friedensprozeß nach außen wie die Überwindung der kulturellen Spaltung nach innen gelingen können. Insbesondere die Arbeitspartei, mehr aber noch das linke Meretz-Bündnis (das die erste arabische Frau in die Knesset entsendet) müssen die Sozialpolitik als dritte Säule einer wirklich linken Politik errichten. Dies ist freilich eine langfristige Aufgabe. Kurz- und mittelfristig muß der Friedensprozeß wiederbelebt werden.