Publikation Bildungspolitik Soziale Ungleichheit und politische Bildung

von Dr. Evelin Wittich und Lutz Brangsch

Information

Reihe

Online-Publ.

Autor*innen

Evelin Wittich, Lutz Brangsch,

Erschienen

Mai 2000

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Nur online verfügbar

Gleichheit ohne Freiheit ist Unterdrückung.

Freiheit ohne Gleichheit ist Ausbeutung.

Freiheit und Gleichheit haben eine gemeinsame Wurzel: Solidarität

Die übergreifende Aufgabe der politischen Bildungsarbeit der Rosa-Luxemburg-Stiftung besteht darin, Menschen die Möglichkeit zu bieten, sich Wissen und Fähigkeiten anzueignen, die es ihnen gestatten, sich an der politischen Willensbildung in der Gesellschaft zu beteiligen. Ausgehend von Grundpositionen des demokratischen Sozialismus ist eine Gesellschaft, in der die freie Entwicklung eines jeden zur Bedingung der freien Entwicklung aller geworden ist, gesellschaftspolitisches Leitbild.

Die Rosa-Luxemburg-Stiftung steht in der hundertfünfzigjährigen Tradition sozialistischen Denkens und damit des Ringens um eine soziale und demokratische Alternative zum Kapitalismus. In dem Bemühen um diese Alternative, greift unsere Bildungsarbeit zurück auf den sinnstiftenden, demokratischen und emanzipatorischen Grundsatz sozialistischen Denkens und ist bemüht, sich ernsthaft und sachlich mit dem gescheiterten Realsozialismus auseinanderzusetzen. Wir stimmen mit jenen überein, die sich im Herbst 1989 auf den Weg zu einer demokratisch-sozialistischen Gesellschaft gemacht haben. Voraussetzung war und ist der konsequente Bruch mit einem durch die „Partei neuen Typus“ dogmatisierten und ideologisierten Begriff politischer Bildung sowie den daraus erwachsenden politik-didaktischen Konzepten.

Das Thema sozialer Ungleichheit ist für eine politische Bildungsarbeit, die Gleichheit nicht durch Tyrannei und Freiheit nicht durch Ausschluss großer Bevölkerungsgruppen von sozialen Grundrechten bezahlen will, eines der wesentlichsten und kompliziertesten Felder. Dabei wird die Frage der sozialen Ungleichheit untrennbar mit der Frage nach sozialer Gerechtigkeit bzw. Ungerechtigkeit zu behandeln sein. Nicht Gleichheit oder Ungleichheitsind dabei das eigentliche Problem, sondern die Frage, wann aus sozialer Gleichheit bzw. Ungleichheit soziale Gerechtigkeit oder Ungerechtigkeit wird.

Soziale Ungleichheit ist sehr ambivalent. Ungleichheit kann geschätzt und als Wert verstanden werden, sie kann die Gesellschaft bereichern und sie voranbringen. Voraussetzung ist, dass die Unterschiede zu einer produktiven Vielfalt beitragen und diejenigen, die durch diese Unterschiede benachteiligt werden, dennoch davon profitieren. Es ist aber keine produktive Vielfalt, wenn Einkommenszuwächse der sowieso Bessergestellten auf Kosten der Benachteiligten erfolgen. Aus dieser Sicht kann es keine Akzeptanz vieler gegenwärtiger Ungleichheiten geben; z.B. jener, dass 348 Menschen soviel besitzen wie 2,7 Milliarden Menschen und dass die gegenwärtige Art des Welthandels diese Ungleichheiten verstärkt.

Ungleichheit aber auch Gleichheit können genauso Ausdruck von Ungerechtigkeit, von Diskriminierungen sein, welche die Gesellschaft letztlich zerstören können.

Dies hängt vor allem mit folgenden Faktoren zusammen.

1.      Die angesprochene Wertschätzung der Ungleichheit im Sinne der Bestätigung von Individualität ist keineswegs die alleinige Tendenz in den hier betrachteten Verhältnissen. Die Akzeptanz von Ungleichheit ist immer mit der Forderung von Gleichheit in bestimmten Beziehungen verbunden. Handels- und Wirtschaftsbeziehungen mit Ländern der sogenannten 3. Welt dürfen nicht von vornherein dazu führen, dass der am Beginn der Beziehungen Benachteiligte bei deren Abschluss noch stärker benachteiligt ist

2.      Ungleichheit ist in der Gesellschaft immer mit Machtfragen verbunden. Sie ist einerseits Ausdruck von Ursachen von Machtverhältnissen, andererseits aber vor allem auf der ideologischen Ebene ein Argument für Machtausübung. Dies betrifft bekanntermaßen nicht nur die gesellschaftliche, sondern auch und in wachsendem Maße die mikrosoziale Ebene. Die Diskriminierungen im Alltag gegenüber AusländerInnen, Menschen mit Behinderungen, geschlechtsspezifische Diskriminierungen werden zunehmend zu einem Instrument der Konkurrenz und der Strukturierung von Machtverhältnissen auf unterster gesellschaftlicher Ebene. Die dauerhafte Ausgrenzung von Menschen aus dem Arbeitsmarkt bzw. ihr Verstoßen in prekäre und schlecht bezahlte Jobs sowie die zunehmende Kluft zwischen Einkommen aus Vermögen und aus Arbeit stellen die alten sozialen Fragen in neuer Schärfe.

Beide Faktoren führen dazu, dass das Thematisieren der Fragen der Ungleichheit auf eine Vielzahl von Vorbehalten wie auch Erwartungen trifft, die in der politischen Bildung sehr differenziert und mit Sachkenntnis zu diskutieren sind.

Nimmt man die oben gemachte Bestimmung des Inhaltes politischer Bildung zum Ausgangspunkt, so ist in der Behandlung von Ungleichheit erster Gegenstand die Frage nach der Befähigung der BürgerInnen, ihre eigene soziale Stellung realistisch einzuschätzen: Was macht mich gegenüber anderen ungleich, was macht mich mit ihnen gleich; woraus resultiert konstatierte Gleichheit oder Ungleichheit, sind sie akzeptabel oder sind sie inakzeptabel. Dabei muss politische Bildung auch helfen, Maßstäbe zu entwickeln. Diese Aufgabe ist in einem kulturellen Umfeld, dass zwar vorgibt, Rollenbilder beständig im Sinne permanenter und globaler Innovation aufzulösen, tatsächlich aber beständig neue, im Kern aber sehr tradierte Rollenzuweisungen hervorbringt, außerordentlich kompliziert.

Damit wird dann schließlich die Frage aufgeworfen, inwieweit Gleichheit oder Ungleichheit Gegenstand politischen Handelns werden können oder müssen. Die Debatten um die Zukunft der sozialen Sicherungssysteme oder um das Bildungssystem der Zukunft sind Beispiele für die unmittelbare Relevanz derartiger Bildungsinhalte. Derart komplexe Fragen sind nicht mehr mit Theoremen wie dem von der „Gleichheit am Start“ als „Urknall“ gesellschaftlichen Handelns, aus dem von der individuellen Leistungskraft abhängige und damit grundsätzlich legitimierte Ungleichheit erwächst, zu beantworten. Die heutige Gesellschaft, damit auch individuelle Leistungskraft, sind nur im Zusammenhang existenzfähig, d.h. nur in dem Maße, in dem es der Gesellschaft gelingt, Ungleichheit und Gleichheit zu vermitteln. Diese Vermittlung kann z.B. in Formen direkter Repression, mehr oder weniger freier bzw. mehr oder weniger regulierter Konkurrenz aber auch über solidarische Handlungs- bzw. Lebensentwürfe realisiert werden. Es ist die Bewegung zu mehr Gerechtigkeit, die die Lebensfähigkeit einer freien und demokratischen Ordnung wesentlich ausmacht.

Es ist offensichtlich, dass die Entscheidung für die eine oder andere Vermittlungsform durchaus verschiedene Gesellschaftsmodelle nach sich zieht, die unmittelbar die Lebensgestaltung und die politische Artikulations- und Handlungsfähigkeit eines jeden einzelnen bestimmen. Sache politischer Bildung ist es, diese Tragweite bewusst zu machen und verschiedene Ansätze zur Lösung des Problems der sozialen Ungleichheit bzw. des Verhaltens dazu zu diskutieren – ob es moderne sozialistische, konservative, liberale bzw. neoliberale oder sozialdemokratische sind. Eine größere Rolle sollte das Aufgreifen der Bürgerarbeitsdebatte, kommunitaristischer Diskurse, Traditionen gewerkschaftlichen Handelns oder geschichtlicher wie gegenwärtiger Versuche des Realisierens solidarischer Lebensmodelle (sozialistisch-utopische oder religiös motivierte) spielen. Die in diesen Debatten aufgeworfenen ethischen, kulturellen, sozialen und wirtschaftlichen Fragen fordern auf sehr verschiedene Art und Weise dazu heraus, das eigene Verhältnis zu Gleichheit und Ungleichheit in der Gesellschaft zu bestimmen. Mehr denn je erscheint es dabei nötig, im Rahmen der politischen Bildung das Gewicht auf die Darstellung der Vielfalt von Lösungsversuchen im Spannungsfeld von Gleichheit und Ungleichheit zu legen.

Gegenwärtig findet ein Kampf der Neuverteilung von Reichtum bzw. Neuzuteilung von Armut, um Integration oder Ausgrenzung, um Mitbestimmung oder Fremdbestimmung statt. Globalisierung, Informations- und Dienstleistungsgesellschaft, freier Welthandel sind neoliberal besetzte Schlagwörter in diesen Auseinandersetzungen. Forderungen nach Überwindung globaler Armut und Umweltzerstörung sowie nach neuen Formen sozialer Sicherheit stehen dem gegenüber.

Die Frage nach sozialer Gerechtigkeit in der Gegenwart ist im Jahr 2000 das Leitthema der Rosa-Luxemburg-Stiftung (RLS) und wird darüber hinaus auch künftig zu den Themen gehören, die für die Arbeit der Stiftung von herausgehobener Bedeutung sind. Wir bemühen uns als PDS-nahe[1] Bundesstiftung gemeinsam mit unseren Teilnehmerinnen und Teilnehmern um Kompetenzgewinn auf diesem Gebiet. Beginnend mit der Analyse gesellschaftlicher Problemlagen, über den Vergleich und die Kritik von Lösungsstrategien und Programmen verschiedener politischer Kräfte zur sozialen Problematik geht es in den Diskussionen um Alternativen, die den Werten und Zielen der sozialistischen Grundströmung in Deutschland entsprechen. Nach sozialistischem Verständnis ist Gesellschaft immer ein Verhältnis wechselseitiger Verantwortung zwischen dem soziopolitischen Gemeinwesen und den einzelnen. „Der Beitrag jedes einzelnen zur Gestaltung der Lebensbedingungen aller gehört genauso dazu wie die Pflicht aller, für jeden einzelnen die Voraussetzung zur Realisierung der grundlegenden Anrechte zu schaffen.“[2] Soll dieses allgemeine Verständnis in realistische Konzepte umgesetzt werden, treten zahlreiche Fragen auf, bedarf es auch der kritischen Auseinandersetzung mit bisherigen sozialistischen Konzepten zur Lösung der sozialen Frage. Gerade ist das Buch „ReformAlternativen- sozial-ökologisch-zivil“ [3] erschienen, in dem genau solche Wege zu gesellschaftlichen Reformen zur Diskussion gestellt werden und das als Material für die politische Bildung genutzt werden soll. Das Themenspektrum in der politischen Bildung reicht von „was ist soziale Gerechtigkeit? – Positionen, Befunde und Kontroversen im politischen Diskurs“ über “ Das neue Jahrtausend - Ende oder Anfang sozialer Visionen?“ bis hin zu Themen über die Zukunft der Arbeitswelt wie die soziale Grundsicherung und den öffentlich geförderten Beschäftigungssektor aber auch Themen zur Renten- und Gesundheitspolitik. Selbstverständlich wird der Zusammenhang von Eigentum und sozialer Problematik ebenso zum Gegenstand der politischen Bildungsarbeit wie jener zwischen Nachhaltigkeit und sozialer Frage und die generelle Such nach einem Gesellschaftsmodell, das nicht ausschließlich auf dem Egoismus beruht. Das ist nicht ethisch gedacht und setzt keinen besseren Menschen voraus, sondern Institutionen und Organisationen, die durch Kooperationseffekte gewinnen. [4]

Höhepunkt in der politischen Bildungsarbeit der RLS zu diesem Thema wird eine internationale Konferenz am 5. und 6. Oktober in Berlin sein. Das Thema: Gerechtigkeit oder Barbarei wurde in Anlehnung an die von Rosa Luxemburg vertretene Alternative gewählt.

Die Arbeit der alternativen Zukunftskommission der Stiftung sowie die Projekte der Forschungsförderung[5] sind in hohem Maße auf das Leitthema orientiert. Ihre Ergebnisse werden unmittelbar in der politischen Bildung zur Diskussion gestellt.

In engem Zusammenhang mit dem Leitthema steht ein weiterer Schwerpunkt der politischen Bildungsarbeit: Ungleichheit: Geschlechter – Klassen – Staatsbürgerschaft, in dem gesellschaftliche Ungleichheitslagen analysiert werden. Soziale Ungleichheiten, die in der Sozialstruktur der Gesellschaft deutlich werden, sind ebenso von Interesse, wie die Ungleichheit zwischen den Geschlechtern besonders bei der Teilhabe am Erwerbsprozess, am gesellschaftlichen Reichtum an Bildung und demokratischer Gestaltungsmöglichkeit. In den letzten Jahren ist eine wachsende Akzeptanz dieser Ungleichheiten zu beobachten: Sei es in einem resignierenden Sinne, sei im Sinne des Versuches, durch Diskriminierung einer anderen Gruppe, um auf deren Kosten den eigenen Status in der Gesellschaft zu bewahren. Intensiver Diskussion und Aufklärung bedarf die strukturelle Benachteiligung der Migrantinnen und Migranten in Deutschland und damit im Zusammenhang stehende politische Entwicklungen. Vor diesem Hintergrund ist die Beschäftigung mit Ungleichheit, Ungerechtigkeit und dem Inhalt von Solidarität vordringlich.

Die thematischen Schwerpunkte liegen in unserem Programm bei Jugend und Gewalt, Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus und Rassismus sowie Konfliktlösungsstrategien oder Wege der Konsensfindung. In einem Kompaktseminar – Jugend 2000 wird die Vielschichtigkeit dieser Problematik behandelt. Breiten Raum nimmt auch die Diskussion zur Gleichstellung der Geschlechter bzw. dem Geschlechterverhältnis ein. Globalisierung und Geschlecht, Haben Kriege ein Geschlecht oder Geschlechterverhältnisse und -widersprüche zwischen Ost und West sind Themen auch gut besuchter Werkstätten und Seminare.

Es ist offensichtlich, dass die Reflexion gesellschaftlicher Entwicklungen unter dem Gesichtswinkel des Gleichheits/Ungleichheits-Problems und die Entwicklung entsprechender Verhaltensstrategien helfen kann, im Rahmen der Politischen Bildung eine Vielzahl brennender Fragen anzugehen. Wie kaum ein anderes Thema ist es geeignet, das Zusammenwirken wirtschaftlicher, politischer und ethischer Prozesse darzustellen und zu begreifen.

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[1] Die Position der PDS „im gesamtdeutschen Parteiensystem ist primär durch die (alte) sozialökonomische Konfliktachse bestimmt: Sie ist die Partei der sozialen Gerechtigkeit schlechthin. Sie repräsentiert fast monopolistisch einen fundamentalen Wert, der im Zuge des sozialen Wandels und der Veränderung der Konfliktstruktur des bundesdeutschen Parteiensystems offenbar sträflich vernachlässigt wird. Diesen Befund wird man in PDS-Kreisen mit großer Freude zur Kenntnis nehmen, weil es sich weiterhin mit dem Selbstbild der Partei deckt, die sich als Repräsentantin der sozialen (sozialistischen) Belange gegenüber den besitzbürgerlich-marktwirtschaftlichen (kapitalistischen) Interessen sieht. Jedenfalls ist die Existenz der Partei durch einen grundsätzlichen Wertekonflikt abgesichert.“ Gero Neugebauer und Richard Stöss, Opladen 1996: Die PDS. Geschichte. Organisation. Wähler. Konkurrenten. S.279

[2] Vgl. Zur Programmatik der Partei des Demokratischen Sozialismus. Ein Kommentar. Hrsg. Gesellschaftsanalyse und Politische Bildung e.V.. Berlin: Dietz Verl. GmbH, 1997. S. 50

[3] ReformAlternativen - sozial – ökologisch – zivil. Hrsg, Rosa-Luxemburg-Stiftung. Gesellschaftsanalyse und Politische Bildung e.V., Karl Dietz Verlag Berlin GmbH 2000.

[4] Vgl.: Rainer Land: Moderner Sozialismus versus Neoloberalismus, Das Argument Nr..233, S. 821.

[5] Projekte der Forschungsförderung sind: Gesellschaftliche Reformalternativen einer sozialistischen Moderne, GFSP mbH; Politische Meinungsbildung in Deutschland, FOKUS e.V. Halle; Begleitforschung zur Regierungsbeteiligung der PDS in Mecklenburg-Vorpommern, BISS e.V.