Publikation Ungleichheit / Soziale Kämpfe - Globalisierung Für eine neue Dialektik im Kampf gegen den Neoliberalismus

Utopie Kreativ Heft 109-110 November-Dezember 1999

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Zeitschrift «Utopie Kreativ» (Archiv)

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November 1999

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UTOPIE kreativ, H. 109/110 (November/Dezember 1999), S. 83-91Eine neue Phase der kapitalistischen Entwicklung – die sogenannte neoliberale – bildete sich in den achtziger Jahren heraus. Zu Beginn der neunziger Jahre erhielt sie einen neuen Impuls auf Grund der definitiven Vereinheitlichung des Marktes im Gefolge des Zusammenbruchs der Länder des realen Sozialismus. Ihre aktuelle Bejahung in den Entwicklungen und ökonomischen Entscheidungen auf internationaler Ebene ließ den Neoliberalismus von einer minoritären Idee zum dominierenden ökonomischen Prinzip der letzten zehn Jahre werden, ein Modell, dessen Gerüst unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg1 entworfen wurde, dessen »globale« politisch-ökonomische Koordinaten aber bereits 1944 mit der Gründung der Weltbank und des Weltwährungsfonds bestimmt wurden.

Auf Grund dessen war seit der zweiten Hälfte der vierziger Jahre und in Auseinandersetzung mit dem Keynesschen Interventionismus »das neoliberale Denken in voller Entwicklung. 1944 bejahte Friedrich Hayek, der seit den dreißiger Jahren die Vorschläge von Keynes2 kritisiert hatte, in seinem Buch ›Der Weg zur Knechtschaft‹ erneut die neoliberale Doktrin und wies sowohl eine zentralisierte und dirigistische Wirtschaft als auch den demokratischen Sozialismus zurück, die Kontrolle und Planung der Wirtschaft, die nach seiner Auffassung in den Totalitarismus führten.«3

Wie jeder weiß, hatte die Zerstörung des interventionistischen Keynesschen Gebäudes, das der liberalen Philosophie des »laisser faire« dezidierte Grenzen setzte, mit der »Chicagoer Schule« und ihren einflußreichen Theorien, insbesondere mit jener Art von neoliberaler Bibel wie dem Buch von Milton Friedman »Kapitalismus und Freiheit« von 1962, ihre fruchtbarsten Perioden. Parallel dazu wurden auf institutioneller internationaler Ebene die »beherrschenden Ideologien der Globalisierung, besonders die des beschleunigten wirtschaftlichen Wachstums durch freien globalen Austausch und Deregulierung« in Kraft gesetzt.4

Während wir uns mit all dem noch in der Morgendämmerung des Neoliberalismus befinden, »gewinnt die theoretische und doktrinäre Umwälzung ihr ganzes Gewicht mit der Krise, die zu Beginn der siebziger Jahre offen ausbrach. Der Interventionismus erweist sich als immer weniger effizient, eine immer ausgeklügeltere Wirtschaftspolitik kann weder Arbeitslosigkeit noch Inflation eindämmen und die Thesen vom ›schlanken Staat‹ und ›laisser faire‹ tragen den Sieg davon. Diese Rückkehr der neoliberalen Doktrin wird durch den Sieg Margret Thatchers in England 1979 und durch den Ronald Reagans 1980 in den USA besiegelt«5. Hinzuzufügen ist noch, daß die Rückkehr des Liberalismus auf philosophischem Niveau mit seinem Auftreten als »neo« durch eine bestimmte Ideologie unterstützt – oder wenigstens begünstigt – wurde, nach der es notwendig sei, zu einem deregulierten und selbstregulierenden Markt zurückzukehren. Dies war ein Denken, das »in vitro« in höchst entwickelten Laboratorien und sehr gut ausgestatteten Studienzentren entworfen wurde, in Forschungen, die von Industriellen und Staatsmännern der USA, in der Umgebung des Präsidenten und häufig genug von der CIA selbst inspiriert und finanziert wurden.6

Auf der Basis starker Hoffnungen während der Jahre des Kalten Krieges7 und als westliche Antwort auf die Anziehungskraft einer wachsenden Zahl von Ländern unter sowjetischem Einfluß kam das neoliberale Denken der »Chicago Boys« empor. Sein praktisches Experimentierfeld fand er später in Chile unter Pinochet, in einem Land, von dem aus sich unablässig seine »Erfahrungen« und Diktate in der gesamten (Dritten) Welt ausbreiteten.

Aber die Verwüstungen im sozialen Gewebe und in der Arbeit sowie die wirtschaftliche Verarmung riefen seit dieser Zeit der kapitalistischen Weltentwicklung nicht nur bei den politischen Führern und den Anhängern der Linken einen starken Widerstand hervor, sondern auch in weiten Bereichen des Katholizismus – gerade in den sensibelsten und in Übereinstimmung mit ihrer Weltanschauung lebenden Milieus, die in erster Linie die sozial und kulturell »abnormen« Effekte der Globalisierung erlitten. »In dieser Welt(un)ordnung gibt es nicht nur wachsende Ungleichheit, sondern die Armen sind jene, die auf paradoxe Weise die Reichen finanzieren, d. h., daß es sich um einen Kapitalfluß handelt, der von Süden nach Norden fließt und vollständig zum Nachteil des Südens. Zwischen 1983 und 1989 transferierte der Süden nach Norden 242 Milliarden Dollar«. Und dennoch: »Der freie Markt reduziert sich auf das Recht des Stärkeren, d.h. das Gesetz des Dschungels … Überläßt man ihn seiner Spontaneität, kennt der Markt keine Gnade mit den Schwächsten, er ist weder menschlich noch ethisch.«8

Das Röntgenbild der aktuellen neoliberalen Phase des globalen Kapitalismus führt zu folgender Diagnose: »Der Markt und das Unternehmertum schaffen nicht mehr Beschäftigung, selbst wenn die Wirtschaft wächst«9. Die folgenden Daten über das gegenwärtige Wachstum der Arbeitslosigkeit illustrieren das, was hier zum Ausdruck gebracht werden soll. »Zwischen 1980 und 1993 haben die 500 bedeutendsten Unternehmen vier Millionen Arbeitsplätze beseitigt, aber in derselben Periode haben sich ihre Umsätze um den Faktor 1,4 vergrößert, ihr Kapital um den Faktor 2,3 und die Einkünfte ihrer Generaldirektoren um den Faktor 6,3«10. Mehr noch: »Während der siebziger Jahre gab es nur einige hundert multinationale Konzerne. Ihre Zahl hat sich bis heute auf 40 000 erhöht. … Summiert man die Umsätze der 200 wichtigsten Unternehmen des Planeten, repräsentieren sie mehr als ein Viertel der ökonomischen Aktivitäten auf der Welt, zugleich aber geben diese 200 Unternehmen lediglich 18,8 Millionen Menschen Beschäftigung, d.h. weniger als 0,75 Prozent der Weltarbeitskraft.«11 Insgesamt ist »die neue Weltökonomie durch viele Inkohärenzen charakterisiert wie die Wiederkehr der Massenarbeitslosigkeit, die Lähmung von Unternehmen bei hohen Gewinnen und einem wirtschaftlichen Wachstum, das mit niedrigen Löhnen und der Zunahme instabiler Beschäftigungsverhältnisse einhergeht«12.

Bei Analyse der Daten von Produktion, Beschäftigung und Produktivität für Frankreich zwischen 1896 und 1994 stellt Michel Husson fest, daß »die naive Idee weit verbreitet ist, daß die Massenarbeitslosigkeit durch die technologischen Veränderungen hervorgerufen wird. Es gibt wenige theoretische Annahmen, die so leicht zu widerlegen sind«. Denn, wenn es danach ginge, »müßten wir eine Koinzidenz zwischen Beschleunigung der Produktivität und Wachstum der Arbeitslosigkeit konstatieren«; das Gegenteil ist der Fall: »die Phasen des Wachstums der Arbeitslosigkeit, sei es in der Periode 1925 bis 1939, sei es die, in der wir seit zwanzig Jahren leben, sind nicht durch eine Beschleunigung der Produktivität charakterisiert … Die Produktivität pro Arbeitsstunde erhöhte sich in Frankreich seit Beginn der Krise um 2,1 Prozent, dagegen betrug dieser Anstieg während der Jahre von Expansion und Vollbeschäftigung 5,1 Prozent.«13 Der brasilianische Ökonom Osvaldo Coggiola wendete gegen die These, daß das Ende des »Sozialpaktes« und die »Krise des Fordismus … das Resultat der Verwendung neuer Technologien in breitem Maßstab« seien.14

Das »Informationswunder« ist nicht mehr als ein »technologisches Palliativ« (Coggiola), das seiner Natur gemäß die Widersprüche des Kapitals nicht eliminieren kann und das im Kapital selbst dessen eigene Grenzen aufzeigt. Im übrigen haben gerade in Zeiten beachtlicher technologischer Veränderungen Konzerne und Unternehmen keinen Bedarf an spezialisierter Arbeit. »Heute besteht das Arbeitspotential (Führungskräfte ausgenommen) zu 80 Prozent aus angelernten oder ungelernten Lohnempfängern, und die Mehrheit der Facharbeiter besetzt ›traditionelle‹ Arbeitsplätze in der Industrie«, unterstreicht ein leitender Mitarbeiter der Gewerkschaftszeitschrift Labor Notes. Und weiter: »Jene Betriebe, die sich von ihren erfahrensten Arbeitern trennen, suchen nicht nach höherer Kompetenz, sondern nach jüngeren Menschen, die dieselbe Arbeit zu einem niedrigeren Preis verrichten. Mit anderen Worten, die Idee, wonach wir uns im Übergang von der Epoche niedriger und entfremdeter Qualifikation zu einem menschlicheren Arbeitsregime befinden, erweist sich in hohem Maß als Fiktion.«15 Die Klassenspaltung zwischen Reichtum und Armut breitet sich in beeindruckender und irreversibler Weise aus. Sie ist eine Ursache für die Verminderung der Nachfrage, die ihrerseits durch eine Politik zur Reduzierung der Lohnkosten hervorgebracht wird. Die Spirale zur Nivellierung nach unten dreht sich weiter.

Am Ende dieses Jahrhunderts leben wir in einer Situation, die durch eine Rücknahme erreichter sozio-ökonomischer und politischer Standards geprägt ist. Dies ist nicht so sehr die (wohlgemerkt: partielle) »Rückkehr« der Phase des präkeynesianischen Kapitalismus (wie man angesichts des scharfen Angriffs auf den »Wohlfahrtsstaat« annehmen könnte), sondern die des »Wildheitszustandes des Kapitalismus« (Husson) vergangener Jahrhunderte. Noam Chomsky schrieb dazu: »Heute zieht man es vor, von ›Neoliberalismus‹ zu sprechen, aber in Wirklichkeit handelt es sich um nichts anderes als um die klassische Ökonomie. Die grundlegende Idee ist, daß die Menschen keine Rechte haben. 1829 wurde proklamiert, daß sie nicht einmal das Recht auf Leben haben«16. Auch der ekuadorianische Ökonom Alberto Acosta erklärt, indem er eine These von Werner Kamppeter aufgreift: »die Weltwirtschaft ist heute weniger offen als jene zwischen 1870 und 1914«17.

Dennoch läßt sich sagen, daß unser ökonomischer und sozialer Alltag heute durch ein kontinuierliches Schwanken zwischen Gegenwart und Vergangenheit charakterisiert ist. So schreibt der Soziologe Alain Touraine: »Wir erleben erneut auf größerem Maßstab das, was zu Beginn des Jahrhunderts (1910) Hilferding ökonomischen Imperialismus nannte; d. h. die Suprematie des internationalen Finanzkapitals über das nationale industrielle Kapital.«18 Zusammenfassend: »Der Kapitalismus orientiert sich auf eine Rückkehr in die Vergangenheit, die für sein eigenes Überleben nötig ist, die aber gefährlich ist, insofern sie eine Gesellschaft der Ausgrenzung schafft, die sich auf Ungleichheit gründet und auf die Unterordnung der Mehrheit unter privilegierte Schichten, die von den herrschenden ökonomischen Kriterien inspiriert sind und die mehr und mehr hervorstechende Privilegien genießen.«19 Ein Entwicklungszyklus (natürlich ungleich auf der Klassenebene) ist vorüber und mit ihm der ökonomische und produktive Rahmen, den wir im Vierteljahrhundert nach dem Zweiten Weltkrieg gewohnt waren – gekennzeichnet durch Wachstum, stark ungleichgewichtig auf sozialer Ebene, der industriell entwickelten Länder, deren Wachstumsraten im Durchschnitt fünf Prozent betrugen (2,5 Prozent seit 1973 und zwei Prozent in der Periode zwischen 1914 und 1950), obwohl die ungleichmäßige kapitalistische Entwicklung in eine lang andauernde Krise eingetreten ist, die die Lebensbedingungen der Arbeiter im Weltmaßstab beträchtlich verschlechtert hat.

Es ist oft darüber geschrieben worden, daß die aktuelle Struktur des transnationalen Finanzkapitals ein komplexes System ist; nach unserer Auffassung ist das Produktions- und Sozialsystem, in dem wir leben, weniger komplex als kompliziert, d. h. verwickelt und in einem bestimmten Sinn mystifizierend. Denn »die neoliberale Utopie eines reinen und perfekten Marktes«20 wurde in eine Theorie des ökonomischen Chaos, sozialer Stupidität und Katastrophenmanagement transformiert. Eine Transformation, die unter dem Motto steht: »Täusche vor, daß du weißt, was du tust«21.

In diesem Sinn, bei Erweiterung der Perspektive, ist die neue Komplexität der internationalen Politik in Wirklichkeit einer abgeleiteten Komplikation geschuldet, d. h. der größeren Dezentralisierung (bekannt als Verlagerung und Verkleidung) des grundlegenden internen Widerspruchs in die »gegenwärtige tripolare Form imperialistischer Macht«, also der USA, Japans und der EU, »die sich« – schreibt Pala – »in der neuen institutionellen Dreifaltigkeit von Weltwährungsfonds, Weltbank und WTO reproduziert«22. Diese tripolare Form ist durch starke interne Widersprüche gekennzeichnet, die in den Begriffen »perfekter Simplizität« nicht erklärbar ist: »Unsere Welt ist keineswegs ›komplex‹, wie es jene vorgeben, die ihre Fortexistenz sichern wollen. Sie ist selbst in großen Zügen von perfekter Simplizität.«23

Ein anderes Element relativer Neuheit ist die wachsende Mobilität des Kapitals: Sie steht der Logik der kapitalistischen Produktion in Zeiten beständiger technologischer Innovationen entgegen. Darüber hinaus wurde sie »enorm durch die Entwicklung der globalen Finanzmärkte beschleunigt«24. Die »beispiellose Mobilität des Kapitals« (Bourdieu) wird auf soziokultureller Ebene durch eine Art Hypermobilität »reflektiert« – um einen Terminus des englischen Historikers John Urry aufzugreifen – der sich definiert durch eine geringe soziale und politische Verwurzelung der Identität definiert bei Hervorbringung einer außerordentlichen Beschleunigung sozialer Dynamiken und bei raschestem Wechsel »neuer« politischer Führer. Auf dieser Hypermobilität beruht auch die Krise der Parteien, eine Krise, die in den letzten zehn Jahren ausreifte und irreversibel wurde, die eine mehr und mehr bürokratisierte und vom Sozialen getrennte Realität prägte.

Als Antwort auf diese Pattsituation sind in den letzten Jahren dynamische Vereinigungen und Organisationen entstanden, deren prinzipielle Charakteristika sind: Kampf gegen den Staat, Selbstorganisation und Basisorganisation, sozialer Kooperatismus, Ablehnung des Repräsentativsystems. Als Beispiel für den Mangel an Vertrauen in die Parteiform, wie er sich in den letzten Jahren herausgebildet hat, und für die Notwendigkeit, ihn in soziale Formen einer direkten Demokratie zu überführen, stellen wir den zapatistischen Diskurs vor, der aus einem Land wie Mexiko kommt und das dennoch (oder genauer, das trotz seiner Staatspartei, der Partei der institutionellen Revolution, die seit 70 Jahren an der Macht ist) ein Laboratorium politischer Experimente des revolutionären Kampfes und der radikalen Opposition gegen den neoliberalen Kapitalismus ist.

Durch negative Erfahrungen vorsichtig geworden, ist der Mangel an Vertrauen des Zapataisten dadurch begründet, daß ihre frühere revolutionäre Berufung erschöpft ist, und auf der anderen Seite dadurch, daß eben diese Organisationen in einen Sumpf von Querelen und ungezählten Kämpfen geraten sind, daß sie interne Rechnungen begleichen, die sie in eine Glaubwürdigkeitskrise gestürzt haben. Dank tyrannischer Fraktionen, die – wie Heinz Dieterich Steffan schreibt – »als erstes Ziel die Eroberung der Macht haben, aber nicht die Eroberung der Demokratie«25. Dazu sehe man sich den Brief vom 3. August 1994 an »Das mächtige Schiff der Parteilosen. Das Schiff von Aguascalientes«, in dem Subkommandante Marcos schreibt: »Fast alle Parteien und alle großen und kleinen Organisationen des verstreuten Spektrums der mexikanischen Linken sind zu verschiedenen Zeiten dazu gelangt, uns offen zu sagen, daß sie uns unterstützt haben, indem sie die Zeiten und die Orte, die Quantität und die Qualität ihrer Hilfe erläuterten … Im Austausch für die Hilfe, die sie uns gegeben haben, forderten sie uns auf, sie bei verschiedenen Abrechnungen zu unterstützen. Wir bedürfen ihrer absolut nicht: Wir haben völlig allein begonnen, völlig allein kämpfen wir und völlig allein sterben wir. Es war unser Blut, nicht ihres, das ’94 erhellt.«

Es handelt sich nicht darum, sich von Parteien zu lösen, sondern darum, sich der Aushöhlung bewußt zu werden, die die soziale repräsentative Demokratie durch die Parteien erlitt und die zum Bruch der EZLN mit der Parteiform führte. »Es gibt schon genügend politische Parteien, warum sollen wir uns einer weiteren anschließen? Wir wollen das nicht«, hat Subkommandante Marcos mehrfach erklärt.

Anders gesagt, einer der Aspekte von großem Interesse im zapatistischen Denken ist die Forderung nach Überwindung der repräsentativen Demokratien, die die politische Szene des Westens seit zweihundert Jahren dominieren und die zur Repräsentanz von Demokratie degeneriert sind; es geht um eine Überwindung in Richtung von Räumen und Formen einer partizipativen Demokratie, in der alle eine genau bestimmte aktive und unersetzbare Rolle haben. Das ist ein Denken, das zur Grundlage seines Kampfes und seiner revolutionären Vorhaben das nahm, was der mexikanische Anthropologe Leon Portilla »die Vision der Besiegten« genannt hat.

In seinem Buch Los hombres verdaderos. Voces y testimonios tojolabales schreibt der Anthropologe und Linguist Carlos Lenkersdorf: »Nach unserer Auffassung ist der Schlüssel, der uns Zutritt zur linguistischen Besonderheit der Tojolabales verschafft, die Intersubjektivität, in dem Sinn, daß wir alle Subjekte sind und daß es keine Objekte gibt, weder im Kontext des Idioms noch im kulturellen Kontext«26. Die kulturelle und linguistische Struktur der indigenen Gemeinschaften von Chiapas gründet sich nicht auf die »Subjekt-Objekt-Relation«, eine Relation, die stets die Kulturen »der dominierenden Gesellschaften indoeuropäischen Ursprungs charakterisiert hat.« Und diese Intersubjektivität ist auf zwei Ebenen organisiert: Die erste Ebene umfaßt die Komplementarität zwischen Gleichen, d. h. die Pluralität der Subjekte; die zweite ist die der vivencia, d.h. der psychischen Repräsentation, die in einem bestimmten Moment erlebt wird, und des Bewußtseins. Es handelt sich um strukturelle Unterscheidung, die sich auf verschiedenen, für die Gesellschaft konstitutiven Ebenen manifestiert. Sie umfaßt eine andere Sicht der Welt und des gesellschaftlichen Individuums.

Ein anderes fundamentales Element ist die Übereinstimmung: Das Einverständnis aller Mitglieder der Gesellschaft wird auf der Ebene der Zusammenkunft gesucht, aus der »man niemanden ausschließt«. Außerdem, fährt Lenkersdorf fort, »ist die Intersubjektivität, die aus der direkten Erfahrung geboren wird, nicht nivellierend; sie leugnet nicht die Unterschiede«, die zwischen den Mitgliedern der Gemeinschaft existieren und die sich in unterschiedlichen Rollen, die jeder zu erfüllen hat, manifestieren, sondern im Gegenteil: »sie gründet sich auf den Pluralismus« (S. 88/89)

Lenkersdorf sagt weiter, daß zwischen der herrschenden Gesellschaft indoeuropäischen Ursprungs und der tojolabalischen Gesellschaft eine Inkompatibilität herrscht: »es mag dort eine gegenseitige Toleranz untereinander geben, aber wir sehen nicht die Möglichkeit eines freundschaftlichen Lebens in Gemeinsamkeit« (S. 93). Es handelt sich um eine Unvereinbarkeit, die ihre Wurzeln zum einen in den unterschiedlichen Typen von interpersonellen Beziehungen hat, die in der dominierenden Gesellschaft und in der dominierten Gemeinschaft in Kraft sind, und zum anderen darin, daß Objekte keinen Existenzgrund haben und der andere sich uns entgegenstellen kann in seiner Eigenschaft als Subjekt selbst (S. 91).

Zusammenfassend: Es gibt zwei Begriffe in der Grundlage der politischen Vision, die von der EZLN aus den indigenen Gemeinschaften, deren Teil sie ist, abgeleitet wurden: Der Begriff der Intersubjektivität (der des anderen entbehrt, soweit dieser Objekt oder Feind ist), gekennzeichnet durch den Pluralismus, und der Begriff der Inklusion (also Übereinstimmung und Methode der Zusammenkunft).

Allerdings muß jetzt im Hinblick auf die objektive politische Aufstandssituation in Mexiko in ihrer Gesamtheit gesagt werden, daß das Laboratorium Mexiko nicht nur den einen neuralgischen Punkt Chiapas hat: andere Akteure, andere Organisationen, andere bewaffnete Kämpfe sind in der revolutionären Szene des Landes in den letzten Jahren aufgetreten. Dabei handelt es sich z. B. um die Revolutionäre Volksarmee (EPR), die am 28. Juni 1996 im Verlauf einer Manifestation, die aus Anlaß des ersten Jahrestages eines Massakers an Bauern in Aguas Blancas (Staat Guerrero) veranstaltet wurde, offiziell die Bühne betrat. Sie begann, einen anderen leeren Raum im Mosaik des bewaffneten mexikanischen Kampfes zu besetzen. »Beide Gruppen (EZLN und EPR) führen verschiedene Diskurse«, schreibt der mexikanische Historiker Antonio García de León, »und sie haben eine unterschiedliche Weise zu handeln«, besonders was die Machtkonzeption angeht. Aber, schreibt García de León weiter, »es gibt eine gewisse Übereinstimmung zwischen EZLN und EPR, insofern letztere die Rückkehr zu Rechtsstaat und die Wiederherstellung der Republik verlangt«27. Insgesamt verhindern die Unterschiede sowie die politischen und militärischen Besonderheiten beider bewaffneter Organisationen nicht den gemeinsamen säkularen Widerstand von »Gesichtslosen« gegen die herrschende Gesellschaft, der von neuem am 1. Januar 1994 in den canadas des »neuen Königsbergs, das der Wald von Lakadonien ist« (González Casanova) begann. Diese »Gesichtslosen«, die in der neoliberalen Terminologie als »Verlierer« definiert werden, sind die Protagonisten eines neuen revolutionären Kampfes, der das Bewußtsein und die Ansichten der »Linken« selbst erschüttert hat. »Aber diese ›Verlierer‹ revoltieren. Frauen, Kinder, Alte, Junge, Indigene, Ökologisten, Homosexuelle, Lesbierinnen, HIV-Positive, Arbeiter und alle jene, die die neue Ordnung stören, organisieren sich und kämpfen. Die aus der ›Moderne‹ Ausgeschlossenen bilden neue Widerstandsformen aus«, schrieb Subkommandante Marcos in »Sieben Stücke des neoliberalen Puzzles. Der vierte Weltkrieg hat begonnen« (Juli 1997).

An diesem Punkt ist offensichtlich, daß die Frage köstlich politisch wird, denn sie richtet sich direkt an das Subjekt der revolutionären Umwandlung. Man könnte mit Althusser antworten, daß das Subjekt der Umwandlung der Klassenkampf ist (und »immer« war). Aber es ist auch offensichtlich, daß sich die Klassenzusammensetzung in den letzten zehn Jahren auf bemerkenswerte Weise verändert hat: Daher steht auf der Tagesordnung ein Problem einer neuen Definition dringender und entschiedener als zu jener Zeit der berühmten Antwort von Althusser an John Lewis. Es ist eine Pflicht, die sich heute der Widerstandsbewegung gegen des neoliberale Weltsystem aufdrängt, das antagonistische Subjekt der Umwandlung zu bestimmen. Und wenn der Kern des Problems darin liegt, wo die EZLN in ihren Kommuniqués an die Zivilgesellschaft erinnert, dann ist es nötig, im eigenen Diskurs einen Qualitätssprung zu machen, der in sich natürlich Grenzen und Widersprüche enthält, der es aber ermöglicht, zur Erforschung neuer Formen einer partizipativen Demokratie weiterzugehen und dabei von der Revolution der »Gesichtslosen« zu einer Zivilgesellschaft weitergeht. Der Begriff der Zivilgesellschaft ist, auch wenn er schwach ist, ein experimenteller Begriff, von dem man in die Realität der Transformation zurückkehren muß, die unser Jahrhundertende darstellt.

Die Schlußfolgerung aus diesem Artikel kann, auch wenn sie provisorisch ist, nicht nur theoretisch sein, und auch wenn er nicht zum Gegenstand hat, einen genauen Weg des politischen Kampfes zu weisen, scheint es uns, daß jede dieser Seiten dazu aufruft oder sogar dazu zwingt, eine praktische Reflexion anzustellen und ein mögliches, wenn auch vorläufiges politisches Verfahren zu entwerfen, das den europäischen Aspekt eines Phänomens umgreift, das unter dem Namen Zapatismus auftritt. Denn – das ist unabweisbar – es gibt einen europäischen Zapatismus oder besser eine europäische Dimension des Zapatismus, die in Komitees und Organisationen, in Hilfs- und Solidaritätsbewegungen für den zapatistischen Kampf besteht. Aber die numerische Kraft von zapatistischen Komitees verdeckt eine substanzielle Schwäche, die dem Mangel an theoretischer Reflexion und politischer Ausarbeitung des europäischen Zapatismus geschuldet ist. Denn in dieser Hinsicht gibt es ein Problem politischer Besonderheit zu lösen. Der europäische Zapatismus, ein Ausdruck, in dem der Term nicht das Substantiv, sondern das Adjektiv ist, muß seine eigenen theoretischen und politischen Wertigkeiten finden, um seinen europäischen Kampf gegen den Neoliberalismus aufzunehmen.

Wir nennen einige Elemente theoretischer und politischer Reziprozität zwischen europäischem und mexikanischem Zapatismus, um sie miteinander zu verbinden. Dies könnten für einen gemeinsamen Kampf sein:

Erstens: Die Ausarbeitung neuer revolutionärer Strategien, sowohl globaler als auch lokaler, angefangen von der Ermittlung und Konstruktion neuer Räume einer partizipativen direkten Demokratie als Antwort auf die aktuelle Krise der Parteiform, und außerdem die Ausarbeitung einer kritischen Analyse des neoliberalen europäischen Prozesses, dessen fortgeschrittenste Phase die Verträge von Maastricht und die dort verankerten Konvergenzkriterien darstellen;

zweitens: die Ermittlung neuer Praxen des revolutionären Kampfes, die die lokalen, fragmentierten und voneinander getrennten Kämpfe in einer gemeinsamen Front vereinigen und organisieren, Kämpfe, die von den sozio-politischen Subjekten in der ganzen Welt geführt werden und die ihren Ausdruck in einer relativ neuen politischen Realität finden, die den »stets« Ausgebeuteten und Unterdrückten gemeinsam ist, und außerdem die Schaffung eines weltweiten Informationsnetzwerks, über das die Erfahrungen des Kampfes und des Widerstandes gegen den Neoliberalismus ausgetauscht werden können, um sie »in einem (inter)nationalen Kampf, in einem Klassenkampf, die verschiedenen lokalen Kämpfe, die durchweg denselben Charakter tragen, zu zentralisieren« (Marx-Engels);

drittens: die Ermittlung neuer Instanzen und internationalistischer Vereinigungen, die nicht dabei haltmachen, nur ihre Solidarität mit den Ausgegrenzten, den Ausgebeuteten und den Unterdrückten der ganzen Welt zum Ausdruck zu bringen;

viertens: die Überprüfung möglicher Weiterentwicklungen von zapatistischen Losungen auf europäischer Ebene wie »Kommandieren im Gehorchen«; »eine Welt, die viele Welten enthält«; »eine Revolution, die die Revolution möglich macht«;

fünftens: die Redefinition besonders neuer Aspekte der Arbeit und des sozialen Zusammenschlusses wie den »dritten Sektor« oder den informellen Sektor, um einen Punkt zu klären, dessen soziale Bedeutung und dessen politisch-ökonomische Rolle im Innern eines entwickelten kapitalistischen Landes noch Gegenstand gegensätzlicher Betrachtungen sind.

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1 Samir Amin: La mondializzazione: alibi del capitalismo selvaggio, in: Fondazione, Zeitschrift der Internationalen Lelio Basso Stiftung, II, Nr. 2, April/Juni 1996, S. 8.

2 Aber Keynes selbst läßt nicht aus zu präzisieren: »Moralisch und politisch teile ich praktisch alles im Buch Professor Hayeks, Der Weg zur Knechtschaft, und es handelt sich nicht einfach um Übereinstimmung, sondern um eine zutiefst motivierte Anteilnahme«. Gianfranco Pala schreibt in seinem Artikel »Neoliberismo n. 2« (La contraddizione Nr. 63, November/Dezember 1997, S. 94): »Keynes war nicht weniger liberal und nicht weniger Verteidiger der Interessen des Kapitalismus als seine rankünehaften Kritiker (d. h. von Mises und von Hayek)«.

3 Michel Beaud und Gilles Dorstaler: Keynes oder der Sinn für Verantwortung, in: Le Monde diplomatique/il manifesto Nr. 12, a. III, Dezember 1996, S. 22.

4 David C. Korten: The Limits of the Earth, The Nation, 15-22 Juli 1996.

5 Michel Beaud/Gilles Dorstaler, a. a. O., S. 22.

6 »Die Arbeit der Historiker“, schrieb Pierre Bourdieu in seinem Artikel »Euro-Bundesbank« (il manifesto, 31. Oktober 1996), »hat gezeigt, wie Think Tanks und intellektuelle Gruppen, die in den Jahren des Kalten Krieges von amerikanischen Agenten geschaffen und finanziert wurden, das neoliberale Denken ausgearbeitet haben und noch arbeiten, um es zu produzieren und zu verbreiten, mit Hilfe von Büchern und Zeitschriften, aber auch mit Hilfe von Journalisten und dem Echo der großen Presse, ein Denken, das heute so tief in den Köpfen nahezu aller politischen Menschen (von links bis rechts) verwurzelt ist.«

7 Entnommen dem Artikel von Susan George: Wie das Denken einheitlich wird, in: Le Monde diplomatique/il manifesto, September 1996, S. 2.

8 Alle Zitate wurden der »Proposta di riflessione/azione ’96« entnommen, der italienischen Ausgabe der L’agenda latinoamericana 1996, einer Publikation von »Progetto continenti« in Rom.

9 Mario Pianta: Le frontiere die bisogni postindustriali, in: Il manifesto, 11. Dezember 1996; dieser Artikel ist die Wiedergabe eines Referats, das auf dem Kongreß in Brüssel am 5. und 6. Dezember 1996 gehalten wurde, organisiert von den Europaparlamentariern des Ulivo.

10 David C. Korten: The Limits of the Earth, a. a. O.

11 Ignacio Ramonet: Globalitäre Regimes, in: Le Monde diplomatique/il manifesto, Nr. 1, a. IV, Januar 1997, S. 1.

12 Jeremy Brecher/Tim Costello: Contro il capitale globale. Strategie di resistenza, Feltrinelli, Mailand 1996, S. 45/46.

13 Michel Husson:

Il capitalismo di fine secolo, in: Nuove Edizioni Internazionali, Mailand 1996, S. 57/58.

14 Osvaldo Coggiola:

Crisi, sovrapproduzione, imperialismo, in: La contraddizione, Nr. 64, Januar/ Februar 1998, S. 54/55.

15 Kim Moody: Per una nuova politica, Bandiera rossa, Nr. 65, Dezember 1996/Januar 1997, S. 38.

16 Interview in La Jornada vom 1. Dezember 1995: El poder se desplaza a tiranías privadas.

17 Alcances et limitaciones de la globalización, in: A. Acosta und andere: Identitad nacional y globalización, Ediciones Ildin, Flacso, Quito 1997, S. 29.

18 Alain Touraine: El dilema europeo, in: El País vom 10. April 1996.

19 Michel Husson: L’ipotesi socialista, in: Bandiera rossa, a. a. O., S. 18.

20 Pierre Bourdieu: Der Neoliberalismus, Utopie (auf dem Weg zur Verwirklichung) einer Ausbeutung ohne Grenzen. In: Contrefeux, Liber-Raisons d’agir, Paris 1998, S. 110.

21 Siehe den Brief von Subkommandante Marcos vom 17. Juli 1995.

22 Gf. Pala: Economia nazionale e mercato mondiale. Laboratorio politico, Neapel 1995, S. 10/11.

23 A. Badiou: Sankt Paulus. Die Grundlegung des Universalismus. Presses Universitaires de France, Paris 1997, S. 10.

24 Brecher/Costello, a. a. O., S. 72.

25 Heinz Dieterich Steffan: Il Messico a un nuovo crocevia, in: Amanecer, Nr. 4/5, Juni 1995, S. 8.

26 C. Lenkersdorf: Los hombres verdaderos. Voces y testimonios tojolabales. Siglo Veintiuno Editores, Mexiko 1996, S. 14. Von hier an bezieht sich die Seitenbezeichnung in Klammern im Text auf dieses Buch.

27 Vgl. das Interview, das in der Zeitschrift Este Sur/Chiapas, Nr. 169 (1998) erschien.

(Aus dem Französischen von Arnold Schölzel)