Publikation Wirtschafts- / Sozialpolitik Soziale Sicherheit als Zivilisationsgewinn?

Utopie Kreativ Heft 113 März 2000

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Reihe

Zeitschrift «Utopie Kreativ» (Archiv)

Autor

Lutz Brangsch,

Erschienen

März 2000

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UTOPIE kreativ, H. 113 (März 2000), S. 232-237

Lutz Brangsch – Jg. 1957; Diplomwirtschaftler, Dr. oec., Mitglied des Geschäftsführenden Ausschusses des Vorstandes der Rosa-Luxemburg-Stiftung.

»Das Problem liegt ... nicht da, wo man es häufig vermutet. Es liegt nicht in der Schwierigkeit, eine Lebensweise akzeptabel zu machen, in der fremdbestimmte Arbeit im Leben aller viel weniger Gewicht zukommt. Es liegt nicht in dem ›dringlichsten Verlangen aller‹, eine feste Vollzeitbeschäftigung anzunehmen. Und es liegt auch nicht im Rückstand der Denkweisen gegenüber den Möglichkeiten eines entspannteren und multiaktiven Lebens. Im Gegenteil, es besteht gerade im Rückstand des Politischen gegenüber der Entwicklung der Denkweisen. Es besteht in der Tatsache, daß sämtliche ökonomischen Rechte (Anspruch auf ein volles Einkommen), sozialen Rechte (Anspruch auf soziale Absicherung) und politischen Rechte (Recht auf kollektive Handlung, Repräsentation und Organisation) einzig an die immer seltener werdenden Stellen mit regelmäßiger Vollzeitarbeit gebunden bleiben. Es besteht in der Gefahr, mit dem festen Arbeitsplatz jegliches Einkommen, jegliche Möglichkeit, sinnvollen Aktivitäten nachgehen zu können, jeglichen Kontakt zu anderen etc. zu verlieren. Es besteht folglich darin, daß der Arbeitsplatz ein Wert an sich ist: Und zwar nicht grundsätzlich durch die Befriedigung, die die Arbeit verschafft, sondern durch die Rechte und Möglichkeiten, die an den Besitz des Arbeitsplatzes und allein daran gebunden sind.«

André Gorz: Arbeit zwischen Misere und Utopie, Frankfurt/M. 2000, S. 91 (Hervorhebungen im Original).

»Selbst Anhänger eines freien Marktes äußern immer unverhohlener den Verdacht, daß nach dem Kollaps des Kommunismus nur ein Gegner der freien Marktwirtschaft übriggeblieben ist – die freie Marktwirtschaft, die ihre Verantwortung für Demokratie und Gesellschaft abgestreift hat und allein nach der Maxime kurzatmiger Gewinnmaximierung handelt.«

Ulrich Beck: Wohin führt der Weg, der mit dem Ende der Vollbeschäftigungs-gesellschaft beginnt?, in: Ulrich Beck (Hrsg.): Die Zukunft von Arbeit und Demokratie, Frankfurt/M. 2000, S. 14 (Hervorhebung im Original).

»Ein überzeugender Gegenentwurf zur britischen, niederländischen oder amerikanischen Strategie, niedrige Arbeitslosigkeit mit niedrigen Einkommen und niedrigen Sozial standards zu bezahlen, ist nirgendwo in Sicht.«

Ulrich Beck: Wohin führt der Weg, der mit dem Ende der Vollbeschäftigungs-gesellschaft beginnt?, in: Ulrich Beck (Hrsg.): Die Zukunft von Arbeit und Demokratie, Frankfurt/M. 2000, S. 13.

»Ehe sie die Kosten übernehmen, ist es für die Gutsituierten viel einfacher, Mängel im Charakter derjenigen zu finden, die zur unteren Klasse gehören, und zunehmend auch Mängel in den Einwanderungs-gesetzen und ihrer Anwendung. Und eine soziale Tugend zu entdecken in einem scheinbar prinzipiellen Widerstand gegen die Steuern und den sich einmischenden Staat. Und, wenn Ärger droht, nach mehr Polizei zu rufen und schärferen Gerichtsurteilen oder in die Vororte umzuziehen.

Es liegt in der Natur der Wohlhabenden-gemeinde, eine auf den eigenen Schutz fixierte, kurzfristige Sicht der eigenen Position an den Tag zu legen. Es muß wiederholt werden, daß es keine wesentliche Maßnahme gibt, um Armut zu vermindern oder das Leben der Armen zu verbessern und die friedenstiftende soziale Mobilität der Unterschichten zu gewährleisten, die nicht staatliche Aktionen erfordert, obwohl es so wortgewaltige, wie scheinbar kluge Argumente für das Gegenteil gibt. Der Zweck des letzteren besteht nicht darin, Lösungen zu finden, sondern die Reichen vor einem schlechten Gewissen und Kosten zu bewahren.«

John Kenneth Galbraith: Die Geschichte der Wirtschaft im 20. Jahrhundert, Hamburg 1995, S. 281.

Es mag eine der Ursachen für den Zusammenbruch des realexistierenden Sozialismus gewesen sein, daß zumindest seit den siebziger Jahren die ›Bewahrung‹ oder genauer die ›Aufhebung‹ dieses Zivilisationsgewinns praktisch nicht vollzogen werden konnte.

In den Diskussionen um die Zukunft der Gesellschaft gewinnt die Ausgestaltung der sozialen Absicherung offensichtlich einen wachsenden Stellenwert. Die Wechselwirkung zwischen sozialer Sicherheit und individuellem wie kollektivem Verhalten wird zunehmend als Triebkraft erkannt und thematisiert. Dies wird besonders im Bericht der Zukunftskommission der Länder Bayern und Sachsen deutlich, in dem zumindest für den deutschen Sprachraum erstmals der Versuch unternommen wird, neoliberale Gesellschaftsvorstellungen unter dem Schlagwort »Zukunft der Arbeit« in einen ganzheitlichen Rahmen zu stellen. Die Haltung zu den bestehenden sozialen Sicherungssystemen und die Bewertung ihrer Perspektiven spielen hier eine zentrale Rolle.

In der gesellschaftlichen Diskussion lassen sich zwei Extrempositionen unterscheiden. Die eine geht davon aus, daß die sozialen Sicherungssysteme doch vor allem integrativen, tendenziell korrumpierenden Charakter tragen und – so die Konsequenz – daher ohnehin ersetzbar oder wenigstens uninteressant seien. Dies wird häufig mit dem Hinweis verbunden, daß das bundesdeutsche System sozialer Sicherung ohne die Existenz der DDR wahrscheinlich nie auf diesem Niveau ausgestaltet worden wäre.

Die andere Position weist diesen Systemen eine quasi übergesellschaftliche Funktion zu und betrachtet sie ausschließlich unter funktionalen Aspekten.

Beiden Herangehensweisen ist eine sehr begrenzte Sicht auf die Funktionsweise sozialer Sicherung gemein, die soziale Sicherung bzw. soziale Sicherheit als bloße Folge wirtschaftlicher Prozesse begreift. Die soziale Absicherung wird als nachgeordnet oder passiv interpretiert. Interessenkonstellationen, die der historisch konkreten Ausformung sozialer Sicherungssysteme zugrunde liegen, werden nur oberflächlich oder gar nicht berücksichtigt. Ihre Bedeutung für die Produktivitätsentwicklung und für die gesellschaftliche Arbeitsteilung oder ihr historischer Charakter werden negiert. Kurz gesagt – soziale Sicherheit und das System an Institutionen, die sie ›erzeugen‹, werden bisher kaum als ganzheitliche Phänomene betrachtet. Ein Herangehen, das dieser Komplexität gerecht werden würde, ist aber dringend notwendig, weil mit dem Untergang der realsozialistischen Staaten gerade ein Verständnis des historischen Werdens auch der sozialen Sicherungssysteme für die Suche nach Zukunftsoptionen eine außerordentliche Bedeutung hat.

Ansatzpunkte für die weitere Entwicklung der menschlichen Gesellschaft überhaupt müssen ausgehend von den Tendenzen der existierenden Gesellschaft entwickelt werden. Der Rückgriff auf Erfahrungen, die in den realsozialistischen Staaten gesammelt wurden, wird mitunter hilfreich sein, kann aber letztendlich keine Antworten auf die heute und morgen anstehenden Fragen geben. Soweit zum Verständnis (und zur Bewertung) gesellschaftlicher Prozesse nicht nur bestimmte Zustände erfaßt, sondern auch die Bedingungen ihres Werdens und Vergehens Beachtung finden müssen, ist die Frage nach möglichen Zivilisationsgewinnen im Kapitalismus vor allem auch im Zusammenhang mit den Formen sozialer Sicherung nicht nur legitim, sondern sogar zwingend.

Von Linken wird die Diskussion zu Zivilisationsgewinnen im Kapitalismus meist abstrakt und letztlich unhistorisch geführt – oft finden sich auch sachfremde Unterstellungen oder gar persönliche Diffamierungen.

Daß wichtige Elemente der gesellschaftlichen Zusammenhänge im Kapitalismus als Zivilisationsgewinn begriffen werden können, kann nur auf den ersten Blick verwundern. Es geht hier nicht um eine moralisierende Wertung der kapitalistischen Gesellschaftsformation, sondern um den nüchtern zu konstatierenden Fakt, daß die Herausbildung sozialer Sicherungssysteme auf gesellschaftlicher Ebene eine Entwicklungsnotwendigkeit dieser spezifischen Produktionsweise ist. Aus ihrer Entstehung resultieren selbstverständlich widersprüchliche Wirkungen – die Sicherungssysteme integrieren in die Gesellschaft, institutionalisieren und vermitteln Werte, geben aber gleichzeitig auch den verschiedenen gesellschaftlichen Akteuren, Gruppen, Klassen usw. neue Entfaltungsmöglichkeiten. Historisch gesehen ist diese Institutionalisierung sozialer Sicherung auf der Ebene der Gesellschaft notwendige Kehrseite und Voraussetzung voranschreitender Vergesellschaftung in der Produktion. Die kapitalistische Form der Produktion und der ihr gemäße Produzententyp erzwingen einen neuen Typ sozialer Absicherung. Diese neue Konfiguration sozialer Zusammenhänge wird selbst zur Voraussetzung gesellschaftlicher Entwicklung; auch wenn dies nicht die Intention maßgeblicher Akteure bei der Schaffung dieser Sicherungssysteme war bzw. ist. In diesem Sinne kommt der Sozialpolitik und dem durch sie konstituierten Typ sozialer Sicherheit keine sekundäre Rolle gegenüber der Wirtschaft bzw. der Wirtschafts- und Finanzpolitik zu. Sozialpolitik hat zwar ihre Basis in individueller und gesellschaftlicher Konsumtion sowie Distribution, erschöpft sich aber nicht darin, was sich zum Beispiel bei der Verteilung gesellschaftlicher Ressourcen zur Verwirklichung einer komplexen Gesundheitspolitik oder einer flächendeckenden wohnortnahen Sozialarbeit zeigt.

Hier wird die These vertreten, daß in dem Maße, wie die ›Wissenschaft zu einer unmittelbaren Produktivkraft‹ wird, das Gewicht sozialer Sicherheit als aktive gesellschafts- und zukunftsgestaltende Aufgabe wächst.

Der im Zuge kapitalistischer Entwicklung stattfindende Zerfall tradierter Sicherungsformen, insbesondere die Auflösung der Großfamilie mit ihrer Fähigkeit zur Selbstreproduktion, erzwingt diesen Übergang. Dabei sind die historisch konkreten Formen, in denen sich dieser Zerfall vollzieht, eine wesentliche Ursache für die unterschiedliche Ausgestaltung dieser Systeme in verschiedenen Ländern. Der Kern dessen, was als Zivilisationsgewinn beschrieben werden kann, besteht vor allem in der Entwicklung von Fähigkeiten zu kooperativer Arbeit bestimmter Qualität. Wie der Kapitalismus seine weltgeschichtlich zivilisatorische Rolle dadurch exekutiert, daß er einen spezifischen Arbeitsethos hervorbringt, persönliche Abhängigkeiten durch Marktbeziehungen formaler Gleichheit ersetzt, die Arbeitsteilung (bzw. die Fähigkeit zur Realisierung arbeitsteiliger Prozesse) entwickelt und die beständige Veränderung der Gesellschaft als deren Existenzbedingung setzt, besteht seine historische Funktion im Bereich der sozialen Sicherung in der Ausbildung von gesamtgesellschaftlich organisierten Systemen sozialer Absicherung. Diese Systeme sind Ausdruck politischer Kräfteverhältnisse, und ihre Entwicklung ist abhängig von der Veränderung dieser Verhältnisse. Die systeminhärente Wechselwirkung von Gesellschaftlichkeit im Handeln auf der einen und Individualitätsanspruch auf der anderen Seite erlangt einen – im Vergleich zu allen vorhergehenden Klassengesellschaften – überragenden Stellenwert. Soziale Sicherheit ist unter diesem Gesichtspunkt ein Gegengewicht zur allgegenwärtigen konkurrenzbedingten Unsicherheit gesellschaftlicher Reproduktion. Daher stellt sich die Frage des gesellschaftlichen Zusammenhaltes in völlig neuer Dimension, und sie wird auf neue Art und Weise beantwortet – hier liegt der entscheidende Zivilisationsgewinn, der über die gesamte Entwicklung der kapitalistischen Gesellschaft im Zentrum gesellschaftlicher Auseinandersetzungen steht.

Natürlich kann dieses spezifische Moment der gesellschaftlichen Entwicklung nicht losgelöst von gegenläufigen Tendenzen gesehen werden. Das ist bekannt und weitgehend unstrittig, läßt aber die erstgenannte Tendenz nicht »verschwinden«. Gerade die aktuellen Diskussionen um offene oder verdeckte Formen des »Umbaus« – genauer der Auflösung – solidarischer Sicherungssysteme und der damit einhergehende Druck in Richtung auf eine Privatisierung sozialer Absicherung fordern zu neuen Überlegungen heraus.

Rücknahme bürgerlicher Freiheitsideale – die Zeit frißt ihre Kinder

Ein Verständnis, das die Entwicklung sozialer Sicherungsformen auf der Ebene der Gesellschaft als Ganzes als ein notwendiges Moment der Entwicklung des Kapitalismus – und auch als Zivilisationsgewinn – begreift, ist durchaus kein Selbstzweck. Wenn sich eine bestimmte Form der Organisation sozialer Sicherheit als wesentliche Quelle für die Bewahrung gesellschaftlichen Zusammenhaltes bewährt, hat dies (wie bereits erwähnt) zwei Ausgangspunkte: die Notwendigkeit stabiler Reproduktionsbedingungen für die (Ware) Arbeitskraft auf der einen und das politische Gewicht der Arbeiterorganisationen als Gegenpol zu Vertretern der Kapitalinteressen auf der andern Seite. Das gegenwärtige Problem besteht nun darin zu ermessen, welche Formen der Anpassung der sozialen Sicherungssysteme sich durchsetzen, wenn sich dramatische Veränderungen im Kräfteverhältnis zwischen den beiden Lagern vollziehen. Der Gedanke, daß soziale Sicherheit, wie sie bisher durch die Sicherungssysteme des 20. Jahrhunderts vermittelt wurde, hinderlich sei, scheint an Akzeptanz zu gewinnen, und dies nicht nur unter der herrschenden Kapitalfraktion. Wird diese These akzeptiert, bleiben mindestens zwei Möglichkeiten der Reaktion. Entweder wird untersucht, inwieweit eine Reform der sozialen Sicherungssysteme notwendig und durchführbar ist, oder diese Systeme werden grundsätzlich in Frage gestellt. Damit würde dann die Suche nach völlig anderen Wegen zur Bewahrung des gesellschaftlichen Zusammenhaltes auf die Tagesordnung gesetzt.

Letzteres wurde vor allem durch die Zukunftskommission Bayern/Sachsen mit großer Konsequenz in den Mittelpunkt der Betrachtungen gestellt. Die hier getroffenen Aussagen gehen in jeder Hinsicht über die Positionen der ehemaligen Bundesregierung wie auch der Unionsparteien hinaus – sowohl, was ihren gesellschaftskonzeptionellen und intellektuellen Gehalt, als auch was die angezielte ›Radikalität‹ in der praktischen Umsetzung betrifft. Mit diesem Bericht wurde daher vor allem eine neue Runde im Kampf um die ›herrschenden Ideen‹, um einen grundlegenden Wandel im gesellschaftlichen Bewußtsein insgesamt, eingeleitet. Daß sich die Verfasser dieses Zusammenhangs sehr wohl bewußt sind, wird auch dadurch unterstrichen, daß sich die im Bericht exponierten Positionen durch eine – gemessen an der Interessenlage der Auftraggeber – bemerkenswerte Geschlossenheit auszeichnen. Das Plädoyer für ungehemmtes weltmarktkonkurrenzbestimmtes Wirtschaften wird bis zu seinen logischen gesellschaftspolitischen Konsequenzen geführt.

Kern der Darlegungen ist die Überzeugung, daß die Konkurrenz nur dann ihre Triebkraftwirkung voll entfaltet, wenn sie schrankenlos ist, d.h. wenn sie auch auf den sozialen Bereich ausgedehnt wird. Nur unter dieser Bedingung könne, so ließen sich die Auffassungen der Autoren zusammenfassen, das Lebensniveau der »Leistungsträger« und damit die Gesellschaft selbst erhalten werden. Gerade diese scheinbar zwingende innere Logik dürfte, trotz aller berechtigten, zum Teil vernichtenden Kritiken aus anderen politischen Lagern, dem Bericht eine langfristige Wirkung sichern.

Sozialpolitik hat hier zwei Funktionen. Zum einen soll sie »Anreize« zur Arbeit schaffen. Niveau und Zugangsbedingungen sozialer Absicherung sollen dazu zwingen, daß jede/r unter (fast) allen Umständen seine/ihre Arbeitskraft und finanziellen Ressourcen dem Markt zur Verfügung stellen muß. Es soll eine Situation geschaffen werden, in der für die abhängig Beschäftigten der Erfolg auf dem Markt (sowohl der eigene wie auch der des Unternehmens) zum alleinigen Bestimmungsfaktor der Lebensverhältnisse wird. Durch eine wie auch immer geartete Basisversorgung auf niedrigstem Niveau soll zum anderen gleichzeitig eine soziale Gruppe am Leben gehalten werden, die den »Leistungsträgern« stets eine bedrohliche Perspektive im Falle eigenen Versagens vor Augen hält. Parallel dazu gilt es, diese Gruppe sozial Deklassierter auf einem hinreichenden Qualifikationsniveau zu halten, so daß sie ein Reservoir zum Ersatz für verschlissene »Leistungsträger« bietet. Soziale Stabilität soll in Ergänzung zu dieser Absenkung des Niveaus sozialer Leistungen durch »Bürgerarbeit« – durch moralisch motivierte Wohltätigkeit – gesichert werden. Eine ›Ergänzung‹, die keinesfalls eine tatsächliche Kompensation für den Wegfall von Rechtsansprüchen darstellt.

Letztlich basiert das Konzept im wesentlichen auf zwei Elementen, die gesellschaftliche Stabilität vermitteln sollen: Einmal auf der realen Drohung mit der möglichen Vernichtung der sozialen Existenz, also auf Angst und zum zweiten auf moralisch motivierter Wohltätigkeit, die gleichzeitig moralischen Druck zur Konformität vermittelt. Damit aber setzen derartige Konzepte eine bedrohliche Spirale von Gewalt und Gegengewalt in Gang. Die zweifache Ausgrenzung von Menschen – als »Minderleister« und »Versager« auf dem Markt auf der einen wie auch als »Objekt« von Wohltätigkeit der »Leistungsträger« auf der anderen Seite – dürfte soziale Konflikte zwar deckeln, lösen wird sie diese jedoch nicht. Im Gegenteil, es würde sozialer Sprengstoff mit enormer Brisanz entstehen. Dies wiederum dürfte die Tendenz zu politischer Repression erhöhen. Solidarität erscheint in einer derart ›liberalisierten‹ Gesellschaft letztendlich immer als Last, als lästige Vergabe von Almosen, die bestenfalls noch gegen niedrigere Kriminalität und eine geringere Zahl von Streiktagen aufrechenbar und so wirtschaftlich optimierbar erscheint.

Die Vorstellungen von Ulrich Beck zur Bürgerarbeit oder kommunitaristische Konzepte sind bereits ein Reflex dieser Umbewertung von Solidarität. Die Verteilungspolitik konzentriert sich so direkt nicht mehr nur und nicht einmal mehr vorrangig auf die Umverteilung von Geld, sondern vor allem auf die Verteilung von Lebenschancen – und damit von Macht.

Neue Widersprüche, neue Interessenkonstellationen, neue Bündnisse

Die zivilisatorische Rolle der sozialen Sicherungssysteme erschöpft sich jedoch nicht allein in seiner Fixierung auf das Verhältnis von Kapital und Arbeit – sie erstreckt sich auch auf die Verhältnisse zwischen den Lohnabhängigen, zwischen verschiedenen Fraktionen des Kapitals und zwischen verschiedenen anderen sozialen Schichten. Soziale Sicherheit zivilisiert nicht nur das Verhältnis von Kapital und Arbeit, sondern in gleichem Maße, und das ist vielleicht noch wichtiger, das Verhältnis der verschiedenen Gruppen von Lohnabhängigen. Zivilisierung bedeutet hier Regulierung der Konkurrenz unter den Lohnabhängigen um Arbeitsplätze und Gewährleistung von Möglichkeiten zur Entwicklung einer eigenen Kultur und von Solidarität. Als ausgesprochen lehrreich erweist sich unter diesem Gesichtspunkt die Darstellung der Auseinandersetzung um das englische Fabrikgesetz und um den Acht-Stunden-Tag bei Marx. Das Bild, das Marx hier vom englischen Proletariat zeichnet, ist keinesfalls heroisierend; gleiches gilt für seine Schriften über die Wirkung von Kinder- und Frauenarbeit in der kapitalistischen Produktion. Neuere neoliberale Gesellschaftsentwürfe legen Konsequenzen nahe, die diesen Verhältnissen nur der Form, nicht dem Wesen nach unähnlich sind. Die Debatten um einen Niedriglohnsektor, um Bürgerarbeit, um die Absenkung der »Erwerbsneigung« von Frauen, um Lohnverzicht usw. sind nur scheinbar zivilisiertere Formen, in denen im 20. Jahrhundert die Konkurrenz unter den Lohnabhängigen angeheizt wird.

Die Auflösung der in den heutigen Sicherungssystemen vergesellschafteten Formen sozialer Sicherheit und ihre Ersetzung durch marktorientierte, individuelle oder gruppenzentrierte Varianten sozialer Sicherung läuft im Kern auf die Rücknahme eines unter kapitalistischen Bedingungen bereits erreichten und erreichbaren Zivilisationsgewinns hinaus.

Dieser Verlust brutalisiert aber nicht nur schlechthin die Gesellschaft, sondern beraubt auch verschiedene soziale Gruppen ihrer Fähigkeit zur Interessenartikulation und damit ihrer politischen Handlungsfähigkeit. Diese Unmöglichkeit, politisch im Rahmen der gewachsenen gesellschaftlichen Strukturen zu handeln, befördert augenscheinlich rechtsradikale Tendenzen, irrationale Lebensmodelle (wie sie z.B. durch Sekten vermittelt werden) wie auch gleichermaßen irrationale konsumzentrierte Lebenskonzepte. Die offensichtlich massenhafte Abwendung von der Gesellschaft in einer Situation, in der eigentlich massenhaftes eingreifendes Verhalten für die Menschheit überlebenswichtig ist, ist ein fataler Widerspruch. Wird dieser Widerspruch nicht produktiv gelöst, droht der Rückfall in eine Kastengesellschaft.

Davon sind nicht nur die Marginalisierten betroffen. An ein solches Gesellschaftskonzept knüpft sich auch eine ganze Reihe von Umbewertungen gesellschaftlichen Verhaltens, kultureller Werte und nicht zuletzt auch institutionalisierter Regelungen. Davon ist natürlich vor allem auch die Tarifpolitik betroffen. Die Auflösung des Flächentarifvertrages sowie die Deregulierung (besser: die Neuregulierung) der sozialen Beziehungen im Arbeitsleben und die Privatisierung der Lebensrisiken sind spiegelbildliche Prozesse.

Dies berührt zunehmend aber auch breite Teile der von Kanzler Schröder immer wieder beschworenen Neuen Mitte. Auf dem schmalen Grat zwischen Barbarisierung, sprich der Allmacht eines letztlich doch monopolistisch vermachteten Marktes, oder Selbstverwirklichung in neuen kreativen Bereichen, die an humanistischen Werten orientiert sind, sehen sich alle gesellschaftlich-politischen Akteure vor eine konkrete Frage gestellt – die Frage nach der Wertschätzung des Zivilisationsgewinns, den der »alte« Kapitalismus zunächst hervorbringen mußte, um ihn schließlich doch wieder abzuwerfen.

Der Kampf um die Bewahrung dieses Zivilisationsgewinns, so mager er heute auch aus der Sicht der großen alternativen Gesellschaftsentwürfe und ihrer Realisierungsversuche erscheinen mag, ist jetzt zu einer entscheidenden Frage für den Entwicklungsweg der menschlichen Gesellschaft überhaupt geworden. Dies dürfte wenigstens mittelfristig zu neuen Interessenkonstellationen führen und damit auch die Möglichkeiten und die Notwendigkeit für neuartige Bündniskonstellationen unter den abhängig Beschäftigten, aber auch weit darüber hinaus, vor allem im Bereich klein- und mittelständischer Unternehmen und der freiberuflich Tätigen eröffnen. Allerdings ist gegenwärtig noch keine politische Kraft oder Gruppierung in der Lage, auf die damit verbundenen Herausforderungen gültige Antworten zu geben.