Publikation Gesellschaftstheorie - Globalisierung Das Projekt der sozialen Demokratie am Beginn des 21. Jahrhunderts

Rezension zu: Thomas Meyer: Soziale Demokratie und Globalisierung. Eine europäische Perspektive. Bonn: Dietz Nachf. 2002, 189 S., 9,80 Euro. von Michael Brie

Information

Reihe

Buch/ Broschur

Autor

Michael Brie,

Erschienen

März 2002

Bestellhinweis

Nur online verfügbar

Rezension zu: Thomas Meyer: Soziale Demokratie und Globalisierung. Eine europäische Perspektive. Bonn: Dietz Nachf. 2002, 189 S., 9,80 Euro

IThomas Meyer gehört zu den einflussreichsten konzeptiven Theoretikern der deutschen Sozialdemokratie. Er ist nicht nur wissenschaftlicher Leiter der Akademie der politischen Bildung der Friedrich-Ebert-Stiftung, sondern auch stellvertretender Vorsitzender der Grundwertekommission der SPD. Wichtigste programmatische Dokumente wie das Berliner Parteiprogramm und neuere Positionsbestimmungen tragen auch seine Handschrift.

Thomas Meyers neuestes Buch beginnt mit einer Herausforderung. Der neoliberalen These, die Geschichte habe ihr konzeptionelles Ende in rechtsstaatlicher Demokratie und kapitalistischer Marktwirtschaft gefunden, stellt er die Position gegenüber, dass nach dem Zusammenbruch des sowjetischen Staatssozialismus eine neue Auseinandersetzung gerade erst begonnen habe - es handele sich um den "Beginn eines weltweiten Ringens zweier Modelle der Demokratie: Der liberalen und der sozialen Demokratie" (S. 21).

Von der Durchsetzung des Projekts der sozialen Demokratie, so eine Grundthese, hinge die Existenz der Demokratie selbst ab, denn: "die Ergebnisse wirtschaftlichen Handelns müssen in sozialer und ökologischer Hinsicht politisch verantwortbar sein, wenn nicht die Demokratie selber ... ihre Legitimation einbüßen soll" (S. 23).

Thomas Meyers Buch endet mit einer Vision, der Vision des Vorrangs der Demokratie vor den Märkten und der dadurch möglichen "Zivilisierung des Kapitalismus". "Zivilisiert ist der Kapitalismus erst dann", so der Autor, "wenn er überall auf der Welt zur Erfüllung der Menschenrechte beiträgt, statt sie zu verletzen, wenn er Gewalt überwindet, statt Anlässe zu ihr zu schaffen, wenn er die natürlichen Grundlagen der menschlichen Zivilisation respektiert, statt sie zu gefährden." Dies sei "eine im Anspruch pragmatische, in der Realisierung jedoch epochale Vision" (S. 175).

Im Kern stellt Thomas Meyers Buch einen sehr gut geschriebenen, systematischen und vor allem intelligenten und glaubwürdigen Versuch dar, das Projekt der sozialen Demokratie auf der Höhe der Zeit neu zu formulieren. Erstens werden die Grundwerte der Sozialdemokratie neu austariert und mit Willy Brandt der Vorrang der Freiheit betont. Aber damit ist nicht die neoliberale Freiheit rücksichtlosen Egoismus gemeint, sondern eine sozial verantwortliche Freiheit: "Freiheit, als gegenüber den Freiheitsrechten der anderen verantwortete Selbstbestimmung, ist schon als solche universell, nämlich als Freiheitsrecht aller Menschen" (S. 67 f.).

Aus einem solchen Freiheitsverständnis leiten sich dann auch Thomas MeyersVorschläge für Veränderungen im programmatischen Selbstverständnis ab. So solle betont werden, dass Gerechtigkeit Gleichheit in der Verteilung der Macht und im Zugang zu Bildung, Ausbildung und Kultur verlange. Ungleichheiten in Einkommen und Eigentum seien "nur in dem Maße gerecht, wie sie auf persönlichen Leistungen beruhen, der gesamten Gesellschaft zugute kommen und daher von ihr gewollt sind" (S. 79). Heute sei weltweit und national ein höheres Maß an Gleichheit bei der Verteilung von Einkommen und Eigentum notwendig.

Ausgehend von solchen Maßstäben werden in einem zweiten Schritt die neuen Wege der Sozialdemokratie analysiert, werden verschiedene Typen von Kapitalismus, Sozialstaaten und Reformmodellen verglichen, um die Einheit in der Vielgestaltigkeit sozialdemokratischer Politik der Gegenwart zu identifizieren. Dabei wird deutlich, dass nicht nur die Auslegung der Grundwerte zwischen den verschiedenen sozialdemokratischen Parteien Europas stark differiert, sondern noch mehr auch die konkreten Strategien in den einzelnen Ländern. Der Verweis auf nationale Pfade, unterschiedliche Parteienkonstellationen und Kulturen ist dabei sicherlich wichtig und richtig.

Was ausgeblendet wird, ist die Frage, ob sich nicht eine Reihe von sozialdemokratischen Parteien zu Vollstreckern genau jenes neoliberalen Modells gemacht haben, dessen Gegner sie als Vertreter eines Projekts der sozialen Demokratie doch sein sollen, ob sie nicht die negative Integration der Weltgesellschaft durch Niederreißen aller nationalstaatlichen und internationalen Fesseln des Kapitals noch vorangetrieben haben - nicht zuletzt in der Europäischen Union.

Diese Frage ist deshalb so entscheidend, weil diskutiert werden müsste, ob nicht die Mehrheit der sozialdemokratischen Parteien nach 1990 das Projekt einer sozialen Demokratie zugunsten eines Projekts einer Stabilisierung des Projekts des Neoliberalismus aufgegeben haben, ob sie nicht anstelle der sog. Neuen Mitte vor allem auf ein Bündnis wichtiger Mittelschichten mit den wirtschaftlichen Eliten gesetzt haben bei gleichzeitiger Erhöhung des Zwangscharakters sozialer Sicherungssysteme für die, die zu Verlierern gemacht wurden. Wenn diese These stimmen würde, dann stünde die Erneuerung des Projekts der sozialen Demokratie gerade auch in Deutschland noch aus.

Es gibt eine weitere Frage, der sich Thomas Meyer nicht zuwendet. Sie ist mit dem Scheitern von Oskar Lafontaine verknüpft. Die sich 1998/99 abspielende Auseinandersetzung zwischen zwei strategischen Optionen innerhalb der SPD bleibt ausgeklammert, da nur die Unterschiede zwischen den verschiedenen nationalen Sozialdemokratien, nicht aber deren interne Differenzen betrachtet werden. Dadurch erhält unter der Hand der dominante Kurs der jeweiligen Partei über die Legitimation des Faktischen auch noch die des Normativen. Könnte es aber nicht sein, dass die Möglichkeit der Abwahl der SPD als Regierungspartei in Deutschland auch damit zusammenhängt, dass sie in sozialökonomischen Fragen Positionen rechts von der Mitte besetzt hat?

Blickt man in die Zukunft, so könnte sich erweisen, dass sich der Wind dreht. War die Linke nach 1990 gezwungen, unter den Bedingungen sozialer Depression zu handeln, erhielt sie bestenfalls den Zuspruch von Wählern, hatte aber keine Möglichkeit, mit starken sozialen Bewegungen zu kooperieren, so gibt es Tendenzen, die darauf hinweisen, dass sich dies ändert. Die Legitimation der neoliberalen Globalisierung ist tief erschüttert und die Bereitschaft, sich damit aktiv auseinander zu setzen, ist deutlich gestiegen, wie das zweite Weltsozialforum oder der Zulauf von ATTAC zeigen. Damit verändern sich aber auch die strategischen Optionen der Linken. Der Realismus jener Sozialdemokraten, die vor allem ein Reformbündnis mit den großen Konzernen suchen, könnte sich dann als strategische Fehlentscheidung erweisen.

In einem dritten Schritt wendet sich Thomas Meyer der Globalisierung zu. In den Entwicklungen, die seit den siebziger Jahren vollzogen wurden und dann unter dem Stichwort der Globalisierung Furore machten, sieht er vor allem eine negative Integration der Weltgesellschaft. Eine positive Integration verlange die Einhaltung von drei grundlegenden Normen: "Erstens muss die Wahrung universeller Menschenrechte Rahmen und Ziel legitimer Problemlösungen sein; zweitens müssen alle Entscheidungsbetroffenen in einem demokratischen Verfahren die betreffenden Entscheidungen gemeinsam fällen; und drittens muss sich das Kollektiv der Entscheidungsbeteiligten im Prinzip so weit erstrecken wie der Kreis der zugrundeliegenden Probleme und dann auf die von den Entscheidungen betroffenen Menschen." (S. 166)

Thomas Meyers Buch ist es wert, sehr, sehr aufmerksam gelesen zu werden. Es ist zugleich Ausdruck der inneren und äußeren Spannungsverhältnisse der deutschen Sozialdemokratie, ihres sozialen und demokratischen Potenzials wie auch der internen Auseinandersetzung mit einer Politik, die den Machtgewinn oftmals so betreibt, dass sie dabei das Projekt einer sozialen Demokratie ad absurdum führt. Dieses Buch sollte auch Gesprächsstoff in der PDS sein, die von diesen Problemen und Verführungen keinesfalls frei sein dürfte. Und vielleicht entdecken wir gemeinsam, dass eine wirkliche Politik der "Zivilisierung des Kapitalismus" die Dominanz der Kapitalverwertung über Wirtschaft und Gesellschaft überwinden muss.