Publikation Globalisierung - Kapitalismusanalyse Sozialabbau und Globalisierung

Rede von Stephan Lindner, Sprecher der EU-AG von attac-D während des 2. Europäischen Sozialforums in St. Denis bei Paris auf dem Seminar "The future of welfare states in Europe"

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Online-Publ.

Erschienen

November 2003

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"Für ein anderes Europa - in einer anderen Welt"

Zweites Europäisches Sozialforum in Paris/St. Denis

 

Stephan Lindner ist Sprecher der EU-AG von attac-D

Rede während des 2. Europäischen Sozialforums 2003 in St. Denis bei Paris auf dem Seminar "The future of welfare states in Europe"

 

Als Vertreter aus Deutschland und des globalisierungskritischen Netzwerks attac möchte ich besonders auf die Situation des Sozialstaates in Deutschland und ihre Wechselwirkung mit der Globalisierung eingehen. Sozialabbau trägt in Deutschland zur Zeit den Namen Agenda 2010. Die Agenda 2010 ist Teil eines umfangreichen Projektes, an dessen Ende die Abschaffung des Sozialstaates und die Zerschlagung von Gewerkschaften in ihrer heutigen Form stehen.

 

Die Agenda 2010

Ich möchte an dieser Stelle nicht ausführlich auf die Agenda 2010 eingehen. Nur soviel: Agenda 2010 bedeutet in Deutschland:

  • Massive Verschlechterung für Arbeitslose, die wesentlich weniger Geld erhalten und auf die mehr Druck ausgeübt werden soll, Stellen mit unfairer Bezahlung und unter ihrer Qualifikation anzunehmen.
  • Drastische Einschnitte im Gesundheitswesen. Der Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherungen wird gekürzt. Zahnersatz muss z.B. in Zukunft über eine Zusatzversicherung abgesichert werden.
  • Aufweichung beim Kündigungsschutz.
  • Kürzungen bei den Renten. In Deutschland finden zur Zeit erstmals seit dem Zweiten Weltkrieg reale Rentenkürzungen statt.
  • Eine Steuerreform, die obere Einkommensschichten wesentlich stärker entlastet als untere.

 

Die Agenda 2010 ist Teil einer weltweiten neoliberalen Offensive, mit der auf breiter Front die Löhne gesenkt, die Sozialstandards abgebaut und die Macht der Gewerkschaften zurückgedrängt werden sollen. Schauen wir uns dazu an, was bei den großen und mächtigen internationalen Institutionen zur Agenda 2010 gesagt wird. Ich gehe im folgenden auf den IWF und die EU ein.

 

Die Agenda 2010 und der IWF

Weitgehend unbemerkt von der deutschen Öffentlichkeit hat sich letzte Woche der IWF zu Deutschland geäußert. Großes Lob gab es dabei explizit für die Agenda 2010. Sie sei ein sehr guter Anfang, dem weitere Schritte folgen müssten, worüber man sich mit der deutschen Bundesregierung einig sei: "Wir sind sehr erfreut über die deutsche Hinwendung zu strukturellen Reformen. Agenda 2010 ist ziemlich genau das, was wir vom IWF immer wieder gefordert haben. Besonders trifft das auf den Bereich des Arbeitsmarktes zu, in dem die Reformen des Arbeitslosengeldes und der Sozialhilfe eine sehr wichtige Maßname sind. Aber auch auf dem Gebiet der Gesundheits- und Rentenpolitik gibt es ein paar sehr, sehr gute Anfänge. Sie werden nicht alle strukturellen Probleme Deutschlands lösen. Die Renten- und Gesundheitsmaßnahmen tragen vielleicht ein Drittel bis die Hälfte des Weges dazu bei, eine Lösung für die langfristigen Kosten der Überalterung zu finden, und die Arbeitsmarktreformen müssen über die Zukunft auch noch verbessert werden, insbesondere um die Arbeitslosen mehr dazu zu bringen, angebotene Jobs zu akzeptieren und beim "hiring and firing" mehr zu deregulieren." Hier wird besonders gut deutlich, dass die Agenda 2010 nur der erste Schritt eines viel weiter reichenden, umfangreicheren Projektes ist, dass bereits in vielen Ländern für große Not gesorgt hat. Auf internationalem Parkett trägt diese Politik den Namen Washington Consensus.

 

Agenda 2010 und der Washington Consensus

Washington Consensus, das bedeutet:

  • Handelsliberalisierung um jeden Preis.
  • Rückzug des Staates durch sog. "Haushaltsdisziplin", was zur Zerschlagung der Sozialsystem führt.
  • Vorfahrt für Kapital vor den Bedürfnissen der breiten Masse der Bevölkerung, was sich ausdrückt in:
    • Privatisierungen
    • Niedrigen Steuersätzen, vor allem für Reiche
    • Patentrechten
    • Exportorientierung
    • Förderung des Unternehmertums

 

Das letzte aktuelle prominente Beispiel, bei dem der Washington Consensus seine zerstörerische Wirkung unter Beweis gestellt hat, ist die Wirtschaftskrise in Argentinien. Dieses Land, nach dem zweiten Weltkrieg reicher als die meisten europäischen Länder, ist heute verarmt. Die Wirtschaft ist zusammengebrochen und viele können sich nur noch durchschlagen, in dem sie sich in Tauschringen organisieren oder ihr Essen auf den Müllkippen zusammensuchen. Wenn wir die selbstmörderische Politik des Washington Consensus nicht bald stoppen, dann drohen überall argentinische Verhältnisse.

 

Deutsche Bundesregierung und IWF

Vergleicht man die Situation in Argentinien mit der in Europa und vor allem Deutschland, dann muss man aber auch einen wichtigen Unterschied hervorheben. Während die argentinische Regierung relativ wenig Einfluss auf die Politik des IWF hat, ist der Einfluss der EU und der deutschen Bundesregierung im IWF relativ groß. Neben den USA ist die EU einer der mächtigsten Akteure im IWF. Deutschland hat nach den USA und knapp hinter Japan die drittmeisten Stimmanteile. Am Beispiel des IWF lässt sich sehr gut zeigen, dass IWF und Bundesregierung am selben Strang ziehen. Die deutsche Bundesregierung ist in Bezug zum IWF nicht Opfer, sondern Mittäter. An der Spitze des IWF spricht man deutsch. Dort führt zur Zeit mit Horst Köhler ein Mann die Geschäfte, der dort nur durch intensive Lobbyarbeit der deutschen Bundesregierung und ihrer europäischen Partner hingelangen konnte.

 

Agenda 2010 und die EU

Ähnlich wir mit dem IWF verhält es sich auch mit der EU- Politik. Auch hier lässt sich zeigen, wie die deutsche Bundesregierung innerhalb der EU Druck ausgeübt hat, um z.B. den Stabilitäts- und Wachstumspakt durchzusetzen oder die "unabhängige" Europäische Zentralbank nach dem Vorbild der deutschen Bundesbank zu errichten, die nur einer niedrigen Inflationsrate verpflichtet ist, unabhängig davon, was dies für Auswirkungen auf die Beschäftigung hat. Die deutsche Bundesregierung war es auch, die auf dem "beschäftigungspolitischen Gipfel" in Köln 1998 das Instrument der "Beschäftigungspolitischen Leitlinien" durchgesetzt hat, mit dem Beschäftigungs- und Sozialpolitik zum Gehilfen einer neoliberalen Wirtschaftspolitik degradiert wird. Festgeschrieben ist dies auch noch einmal in der Strategie von Lissabon, der Agenda 2010 auf EU-Ebene. Mit Hilfe des Instruments der Offenen Koordinierung und jährlichen Empfehlungen versuchen Europäischer Rat und Europäische Kommission diese Politik EU-weit durchzusetzen. Die Empfehlungen für dieses Jahr für Deutschland enthalten ziemlich genau das, was die deutsche Bundesregierung jetzt mit ihrer Agenda 2010 in Deutschland umzusetzt.

 

Alternativen zur herrschenden Politik

Wenn wir der herrschenden Politik unseren Widerstand entgegensetzen wollen, dann müssen wir deutlich machen, was Solidarität bedeutet und was es nicht bedeutet:

  • Solidarität ist da gefragt, wo sie wirklich notwendig ist. Beim gerechten Handel mit den Ländern des Südens, beim Erhalt der sozialen Sicherungssysteme, beim Umverteilen von shareholder-value zu Löhnen und Gehältern und beim gerechten Verteilen von Arbeit.
  • Im Rahmen der Agenda 2010 geht es nur darum, den Standortwettbewerb zu verschärfen, was überall zu mehr Armut und Arbeitslosigkeit führt, in Deutschland und weltweit. Deutschland ist heute schon einer der wettbewerbsfähigsten Standorte weltweit. Das zeigt sich auch darin, dass Deutschland Exportweltmeister ist, und zwar trotz der angeblich zu hohen Löhne und Sozialleistungen. Mit Räubern darf es keine Solidarität geben.

 

Die Forderungen von Attac Deutschland

Attac Deutschland hat seit langem zentrale Forderungen aufgestellt. Wir fordern Reformen, aber solche, die diesen Namen wirklich verdienen:

  • Auf globaler Ebene bedeutet das z.B. die Einführung der Tobin Tax, einer Transaktionssteuer auf Devisenumsätze, die Sand im Getriebe des weltweiten Kasinokapitalismus wäre.
  • Auf EU-Ebene muss mehr getan werden, um Steueroasen zu schließen.
  • In Deutschland fordern wir die Einführung einer Vermögenssteuer, damit endlich wieder der Grundsatz zum Tragen kommt: Eigentum verpflichtet.
  • Außerdem müssen die sozialen Sicherungssysteme auf eine breitere Grundlage gestellt werden. Das bedeutet, dass zur Finanzierung der Gesundheits-, Kranken- und Arbeitslosensysteme alle Einkunftsarten herangezogen werden müssen, auch die aus Kapitalvermögen und unternehmerischer Tätigkeit.

 

Forderungen von Gewerkschaften

Für die Gewerkschaften sollte Widerstand gegen die herrschende Politik der Umverteilung von unten nach oben bedeuten:

  • Weiterhin Eintreten für die 30-Stundenwoche bei Lohnausgleich;
  • Widerstand gegen alle Versuche, betriebliches Mitbestimmungsrecht, Flächentarifverträge und Kündigungsschutz auszuhöhlen.

 

Strategien, unsere Forderungen durchzusetzen

Es reicht aber nicht, eine richtige Analyse und davon abgeleitete Forderungen zu haben. Wir brauchen auch eine Strategie, wie wir diese durchsetzen können. Dazu gehört:

  • Eine verstärkte Zusammenarbeit von sozialen Bewegungen wie z.B. globalisierungskritischer Bewegung und Gewerkschaften, um eine starke Kraft aufzubauen, mit der wir gesellschaftlich wieder in die Offensive kommen. Dabei müssen wir alle lernen, uns auch mit unseren Unterschieden und kleinen "Fehlern", die wir alle haben, auszuhalten. Die Demo am 1. November, bei der allein ver.di Stuttgart 25 Busse organisiert hat und Bernd Riexinger eine kämpferische Rede hielt, war bereits ein guter Anfang, der für andere Vorbild sein sollte.
  • Vom ESF wird das Signal für einen europaweiten Aktionstag gegen Sozialabbau ausgehen, ähnlich wie am 15.2. gegen den Krieg im Irak.
  • Ein besseres Verständnis davon, wie der Neoliberalismus so wirkungsmächtig und durchsetzungsmächtig wurde.

 

Ein besseres Verständnis neoliberaler Strategien zur Hegemoniegewinnung

Neoliberalismus hat sich nicht als Partei gegründet, um wirkungsmächtig zu werden, sondern hat seinen Angriff gegen die große Masse der Bevölkerung geführt. Dazu hat er große Teile des Parteiensystems und der staatlichen Bürokratien unterwandert. Um diesem Angriff etwas entgegensetzen zu können, müssen wir das Wirken einzelner Neoliberaler und den von ihnen ins Leben gerufenen Institutionen wie zum Beispiel Think-Tanks genauer untersuchen. Als ein kleines Beispiel dafür möchte ich zum Schluss noch kurz auf die Stiftung Geld und Währung eingehen.

 

Die Stiftung Geld und Währung

Diese Stiftung wurde Anfang des Jahres 2002 von Bankern der Deutschen Bundesbank unter Mithilfe des Bundesfinanzministeriums gegründet, um mitzuhelfen, die Hegemonie des Neoliberalismus auch in Zukunft abzusichern.

Zur Finanzierung des Stiftungskapitals wurden aus dem Goldschatz der Deutschen Bundesbank anlässlich der Abschaffung der DM und der Einführung des Euro goldene 1 DM Sondermünzen geprägt und verkauft. Zusammengekommen ist dadurch ein Nettoerlös von 100 Mio. DM, das entspricht etwa 51 Mio. Euro. Dies ist das Startkapital der Stiftung.

Mit diesem Kapital finanziert die Stiftung seither neoliberale Propaganda. An Universitäten werden Stiftungslehrstühle und Forschungsvorhaben finanziert. Außerdem wird Öffentlichkeitsarbeit betrieben und Konferenzen abgehalten.

Das Geld dieser Stiftung ist auch unser Geld und wir sollten es uns zurückholen, damit es in Zukunft sinnvoll verwendet werden kann.

Diese Stiftung ist nur ein kleines Beispiel dafür, wie der Neoliberalismus seine Hegemonie erringt und stabilisiert. Es gibt noch viel mehr solcher Einrichtungen, nicht nur in Deutschland, sondern auch in anderen EU-Staaten und weltweit.

Damit bin ich am Ende und möchte mich bei allen für das Zuhören bedanken. Ein ganz besonderer Dank gilt den Übersetzern und vielen ehrenamtlichen Helfern, ohne die eine solche Veranstaltung sicher nicht durchführbar wäre. Außerdem schulde ich der Rosa-Luxemburg-Stiftung Dank, in deren Delegation ich am Europäischen Sozialforum teilnehmen durfte. Ohne ihre großzügige Übernahme der Reise- und Übernachtungskosten hätte ich heute hier wahrscheinlich nicht sprechen können.

Ein andere Welt ist möglich und ein anderes Europa, ein Europa ohne Neoliberalismus und Krieg, auch.

Danke.

 

Links zu weiteren Informationen im Internet:

 

Originaldokumente

Internationaler Währungsfond

 

Europäische Union

 

Stiftung Geld und Währung

 

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