Publikation Bildungspolitik - Rosa Luxemburg Zivilgesellschaftliches Engagement und politische Bildung

Text der Woche 4/2002. von Evelin Wittich und Michael Brie

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Reihe

Online-Publ.

Autor*innen

Evelin Wittich, Michael Brie,

Erschienen

Januar 2002

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Nur online verfügbar

Text der Woche 4/2002Positionen der Rosa-Luxemburg-Stiftung

"Freiheit ist immer die Freiheit der Andersdenkenden" formulierte Rosa Luxemburg 1918 in Kritik der repressiven politischen Praxis der Bolschewiki. Als eine Andersdenkende wurde sie ein halbes Jahr später in Berlin ermordet. 1988 gingen Dissidenten der DDR mit eben dieser Forderung gegen die Herrschaft der SED auf die Straße. Knappe zwei Jahre später war diese Herrschaft beendet.

Wenn wir an diese Position der Namenspatronin unserer Stiftung erinnern, so deshalb, weil die Fähigkeit zum Andersdenken nicht nur in Diktaturen gebraucht wird. Vielleicht ist es heute sogar wichtiger als früher, weil es so leicht gemacht wird, vielem, was geschieht, zuzustimmen. Haben wir nicht - anders als in Diktaturen - die gewählt, die uns regieren? Ist nicht Microsoft deshalb so mächtig, weil alle ganz freiwillig seine Produkte kaufen? Und werden uns nicht zu viele Entscheidungen - enthoben jeder Verantwortung der Entscheidenden - als unvermeidliche Sachzwänge suggeriert? Es ist schwer, produktiven Dissenz mit den demokratisch gewählten Regierenden, mit Konzernen, die durch unsere eigenen Kaufneigungen, mit sogenannten Sachzwängen zu entwickeln. Aber genau dies ist das Salz einer lebendigen Demokratie.

Zivilgesellschaft ist nicht primär dazu da, das Versagen von Staat, Märkten und Regierungen zu kompensieren, wie so oft gefordert. Ihre eigentliche Funktion ist die Erzeugung eines produktiven Widerstands zu jenen Tendenzen in Wirtschaft, Politik, Kultur und Sicherheit, welche die Freiheit und Solidarität unserer Gesellschaften bedrohen. Zivilgesellschaft wird angesichts der großen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts mehr denn je gebraucht. Und politische Bildung hat u. E. vor allem die Funktion, Bürgerinnen und Bürger zu ermutigen, eine solche Zivilgesellschaft immer neu hervor zu bringen und ihnen die Kommunikations- und Lernorte dafür zu bieten. Wir sind uns darüber im klaren, dass wir gemeinsam mit allen Trägern politischer Bildung nur 2 bis 3 % der Bevölkerung direkt mit unseren Angeboten erreichen. Die Einrichtungen politischer Bildung, besonders auch die parteinahen Stiftungen bieten ein breites Spektrum an Themen, da sie in der Regel eine Klientel ansprechen, die sich in ihrem politischen Umfeld befindet. Das macht ihren unverzichtbaren Beitrag in der politischen Bildung als Teil des bürgerschaftlichen Engagements aus.

Wichtiger Bezugspunkt der politischen Bildung, wie sie die Rosa-Luxemburg-Stiftung versteht, sind die sozialen Bewegungen, die bürgerschaftlichen Initiativen, jene, die sich für soziale Gerechtigkeit, Humanität, Zivilität und Solidarität tätig einsetzen und genau dadurch auch Maßstäbe der Kritik, des Dissenses und der Auseinandersetzung erzeugen.

In der "Berliner Zeitung" war am 8. Januar des Jahres in einem Artikel von Stephan Kaufmann zu lesen: "Mit den Terror-Anschläge vom 11. September hat sich die weltweite Stimmung gewandet. Der Satz von US-Präsident George W. Bush: ‚Wer nicht für uns ist, der ist gegen uns', lässt keinen Raum für die Kritiker des Weltmarktes." Er fügt dann hinzu: "Öffentlicher Protest ist für die Teilnehmer zu einer riskanten Sache geworden. Die Schüsse der Polizei auf Demonstranten in Göteborg und Genua haben vielen Globalisierungskritikern die Lust auf weitere Kampagnen genommen."

Der Entstehung einer solchen Atmosphäre der Denunziation jeder Kritik als versteckter Legitimation von Terrorismus und der Durchsetzung repressiver Praktiken gegenüber öffentlichem Protest müssen wir uns widersetzen. Sie wären das Ende jeder Zivilgesellschaft. Natürlich - und auch dies ist Teil politischer Bildung, wie sie die Rosa-Luxemburg-Stiftung versteht - ist zivilgesellschaftlicher Dissenz nur dann ein Beitrag zur Zivilgesellschaft, wenn er zivil ist, wenn er uns lernfähiger macht, wenn er uns befähigt, uns und die Formen in den wir leben, wirtschaften und herrschen, zu verändern. Das Erbe der Gewaltfreiheit von 1989 ist deshalb untrennbarer Teil unserer Bildung.

Berlin, Januar 2002