Publikation Gesellschaftstheorie Über die Sirenen der Ökonomie oder: elf Bemerkungen zum Escherkapitalismus

Text der Woche 26/2002. von Rainer Rilling

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Reihe

Online-Publ.

Autor

Rainer Rilling,

Erschienen

Juni 2002

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Text der Woche 26/2002

  1. Einst war es die Sache der gerechten Könige, sich um gedeihliches Wirtschaften zu sorgen. Und noch vor kaum 200 Jahren war es die Sache der Politik, also der Fürsten und der Republiken, die Märkte herzustellen, sie zu ordnen und, wenn nötig, zu verändern. Es war eben Politik, welche den Kapitalismus durchsetzte. Dass das alles auch auf Ausplünderung und Ausbeutung hinauslief, ist bekannt - wie auch anders. Aber es war Politik, diese frühe Deregulierung der freien Güter und Weiden, der enclosures, unter Heinrich dem VIII, welche diese der Aneignung durch die Aristokratie freigab, also die Privatisierung der Allmende bewerkstelligte und sicherte. Es war die Politik, welche die arbeitszeitliche Selbstzügelung des Kapitals vermittelte. Und es waren im Imperialismus die out-of-aera-Kanonenboote der Politik, die den Weg freiräumten für die Märkte der Kolonialstaatswaren. Der damalige Zusammenhang von Politik und Ökonomie scheint uns heute eigentlich recht übersichtlich.

  2. Im Keller der Metropolis des alten Kapitalismus arbeitete die flinke, ruhige Maschine der Ökonomie, darüber erhoben sich wohlgeordnet die Stockwerke der Polis und des Christentums. Zuverlässig griffen die Hand Gottes und die unsichtbare Hand des Adam Smith ineinander. Dass das eine recht stabile Konstruktion war, belegt der Satz "Ich glaube an Gott und die freien Märkte", gesprochen im Februar 2001 von Kenneth Lay, dem Chief Executive Officer der Firma Enron (1). Das Christentum wurde dann viel später, um es kurz zu machen, teilweise und zeitweilig von der Toscanafraktion abgelöst, die jene Gegend liebt, in der die Sprache der Banker erfunden wurde.

  3. Heute ist die Architektur des Kapitalismus aus den Fugen geraten. Sein Gebäude, in dessen Verschlingung wir herumhetzen, hätte von Escher entworfen sein können. Es gibt kein wohlgeordenetes Ineinander der Stockwerke mehr. Die Stockwerke sind von der Ökonomie zerfressen. Aber das ist nur die eine Verschlingung. Wir sind, so die NATO und Herr Bush, im Krieg - und in was für einem! Der 11. 9. hat den Blick auf die zwei real existierenden Wirklichkeiten aufgerissen, in denen sich die totalen Lösungen des letzten 20. Jahrhunderts im historischen Heute aufgehoben haben: der totale Markt und der totale Krieg, der Terror der Ökonomie und die Gewalt des Militärs. Das sind die zwei wildgewordenen Subsysteme der Gegenwart. Wilde Systeme kommen übrigens in der Systemtheorie nicht vor (2). Die Lebenswelt ist für die Kriegsfähigen und Marktaktiven bloß Gefahr und Beute. Sie beanspruchen alles. Sie gehen aufs Ganze. Sie lassen keiner anderen Utopie Raum. There is no alternative, wie das Thatchercredo des Neoliberalismus uns einhämmerte. Der Modus ihrer Bewegung ist die Überschreitung ohne Ende. Sie akzeptieren keine Schranken und keine Grenzen. Sie machen nicht Halt. Sie lassen nichts aus. Sie zielen auf Entgrenzung bis zum Universellen. Sie kommen nur dann zu sich, wenn sie ständig außer sich sind. Sie sind die wirkliche Globalisierung.

  4. Aus den Briefing Rooms der New Economy des Escherkapitalismus kommt ein steter Fluß zufriedener Botschaften. Ihr Lob gilt dem Homo Oeconomicus. Seinem erbarmungslosen Erwerbsfleiss und seiner mobilen Betriebsamkeit. Der für ihn typischen Paradoxie von absoluter Loyalität und Dienstbereitschaft einerseits und unbegrenzter Flexibilität und Fähigkeit zu opportunistischem Gefolgschaftswechsel andererseits. Der neue Homo oeconomicus ist aber auch "ein Hybrid aus Westernheld und Börsenjobber, so einsam und tapfer wie Doc Holliday und so listig und erfolgsgewiß wie Bill Gates."(3) Zu seiner Grundausstattung gehören ziemlich viel Zweckrationalität und moderates auch an Kooperationswillen angekoppeltes Eigeninteresse, ein ordentliches Zielsystem, ein paar Gran Unsicherheiten in der Entscheidungssituation, ausgebildete Fähigkeiten zur Kalkulation von Handlungsfolgen, schließlich ein paar reziproke altruistische Neigungen zur Herstellung kontrollierter Sozialtüchtigkeit und im übrigen eine veritable Präferenz für Waren und die Lektüre bunter Benchmarking-Grafiken. Ansonsten gilt einfach: er arbeitet ohne Ende und rechnet mit allem. Das ist er, der neue Mensch. Dieser Mensch träumt nicht. Er kommt ohne Transzendenz aus - die ständige Selbstoptimierung, welcher er hinterherjagt, ist ganz im Diesseits begründet. Seine Sorge gilt der Selbstverbesserung auf den Märkten der Bildung oder des Erwerbs, der Freizeit oder der Kultur oder der Menschenkörper. Auch gilt es vorausschauend die Konkurrenzlage seiner Kinder zu verbessern durch den vorsorgenden Zuschnitt des genetischen Gebrauchswerts der Abkömmlinge. Und er arbeitet natürlich, ist er ganz modern, an der Optimierung von sich als Arbeitskraftunternehmer, will sagen: an der Maximierung der Gewinnbeteiligung an der Ausbeutung seiner selbst.

  5. Das ist also der profane Mensch der New Economy des entgrenzten Escherkapitalismus. Er ist vorbildlicherweise männlich. Er ist auf die Veränderung seiner selbst aus, und nicht der Welt. Für ihn ist eine andere Welt nicht möglich. Schließlich verläuft die kapitalistische Entwicklung naturgesetzlich, nur wir können uns ändern. Er ist demokratisch, denn er kennt nur eine Differenz, eine Unterscheidung: Teilhabefähigkeit am Markt oder nicht. Wer drin ist, im Markt, hat Legitimität, ist anerkannt und begegnet allen Marktteilnehmern als Gleicher unter Gleichen. Das ist entscheidend. Die Ungleichheit der Bedingungen des Markteintritts zählen da nicht. Einmal dabei, ist Indifferenz Geschäftsbedingung, die sich mal als souveräne Gleichgültigkeit inszeniert, mal als nüchterner Pragmatismus oder gar, dann sehr moralisch, als Toleranz. Wo kein grundlegender Unterschied gemacht wird - alle nehmen am Markt teil - sind insofern alle gleich. Das ist die Utopie des Marktes. Zukunft tritt ansonsten nur noch als Spekulation auf.(4)

  6. Der Markt freilich ist kein Platz oder Basar, er ist überhaupt kein Ort, sondern eine Bewegung, eine Reiterarmee, die den Zahlungs- und aussichtsreich Verschuldungsfähigen hinterhergaloppiert. Wo der Markt nur zu sich gekommen ist, wenn er die ganze Welt vermittelt, da muss und soll alles seinen Preis haben, alles gekauft und verkauft werden können. In jeder Minute entstehen neue Märkte, die Märkte der Menschen und Mäuse, der Heilkräuter und Saatgüter, der biologischen Ersatzteile und virtuellen Softwaregadgets. Überall neue Preisschilder und Lizenznummern. Und mehr noch: nach der Logik des Totalen Marktes muss das Angebot an Produkten und Dienstleistungen ständig präsent sein; jeder Bedarf muss jederzeit befriedigt werden können und ständig müssen neue Bedarfe gemacht werden. Maßloses Wachstum und ununterbrochene Arbeit an neuen Entgrenzungen und Einverleibungen sind eins. Und die Priester der neuen Religion sind ständig dabei, die Wirtschaftswissenschaftler, welche die Seelsorge des totalen Marktes, also den Konsumismus, besorgen. Das Ganze soll also auch noch Spaß machen - freilich sterben Spaßgenerationen grundsätzlich nicht gern - schon gar nicht an den Risiken und Nebenwirkungen und Kollateralschäden eines Marktes (Amery) - daher meine persönliche Gewißheit, dass Herr Westerwelle mit seiner Politik des psychophonetischen Mumpismus nie Bundeskanzler werden wird (5).

  7. Diese Transformation ist die neue Einhegungsbewegung des Gegenwartskapitalismus. Was noch außen war, wird eingeschlossen, inkludiert. Auch die neuen Räume im Inneren - die Psyche des Menschen - und die fremden Welten im weltdoppelnden Virtuellen werden eingemeindet. Im Ganzen wird die Anschlussfähigkeit an den Markt und den Kapitalkreislauf, also das wirtschaftliche Motiv zur Funktionsvoraussetzung zahlreicher gesellschaftlicher Systeme deklariert. Ein Theater muss nicht Schönheit, sondern Profit durch Ästhetik abwerfen und eine Hochschule soll nicht bilden, sondern geldwerte Funktionabilität auf dem Arbeits- und Kapitalmarkt herstellen. Wo immer Politik agiert, ist die Ökonomie schon da, nicht bloß als Fernwirkung oder Kontext, sondern als unmittelbarer Sinn und Funktionsbedingung. Die riesig aufblühenden Mafias der Welt sind in dieser Hinsicht nichts als die Avantgarde des Kampfes der "kriminellen" Ökonomie gegen jeden staatliche Aktivität. Es gibt eine Monetarisierung, Kommodifizierung und Vermarktlichung der Lebenswelt, täglich und überall spürbar als Verallgemeinerung des Geldmotivs. Diese neue mächtige, genauer gesagt: bestimmende Präsenz des "normativ durchgestellten" (Brütt) monetären Kalküls in bislang davon weitgehend freien Lebensbereichen, Lebensräumen und Lebensweisen und die damit zwingend verknüpfte neue Ungleichheit der Menschen ist vielleicht das zentrale Merkmal des postfordistischen Kapitalismus jenseits der jeweiligen Variation seiner aktuellen neoliberalen Verfasstheit.

  8. Das gilt übrigens auch für die neue Ökonomie des Politischen selbst. Die Selbstfesselung der Politik durch die auch politisch arrangierte Entfesselung der Märkte vermarktlicht auch die Politik und den Staat. Das alles ließe sich vielleicht in der Formel von der Entwertung, Schwächung der Politik zusammenfassen. Aber es gibt zugleich eine Aufwertung global agierender, gleichsam supranationaler para-weltstaatlicher, aufs engste kapitalkontrollierter Akteure: WTO, IWF stehen hier im Zentrum. Neben die Entwertung oder gar das Verschwinden von Politik tritt ihre Globalisierung, oftmals daher in der Form der Privatisierung. Und Ausdünnung der Politik heißt zugleich Hervortreten und Mobilisierung ihres "reinen" Zwangscharakters - Stichwort Arbeitszwang, Stichwort neuer Sicherheits- und Interventionsstaat. Der "Imperialismus des ökonomischen Motivs" geht also nicht einfach mit einer "linearen" Schwächung der Politik zusammen, sondern verändert diese selbst - auch als Entfesselung des interventionistischen Potentials der Politik.

  9. Dieser Prozess der Transformation und Einverleibung, in dem die Maximen des Marktes und das wirtschaftliche Motiv in die letzten Ecken und Enden der Lebenswelt expandieren, ist natürlich äußerst konfliktträchtig. Bildung oder Kunst, Wasser oder Luft so zu monetarisieren, dass anders nichts mehr geht, ist gar nicht so einfach. Das ist eine Erfindung, deren Umsetzung ständiges Simulieren, Nachahmen, Experimentieren, Einüben, Vertrautmachen, Anpassen verlangt. Die eigensinnigen Gesetze und Codes der bislang mehr oder weniger autonomen Gesellschaftsbereiche müssen umgebaut werden, damit sie sich dem ökonomischen Motiv wie selbstverständlich anschmiegen. Solcher Umbau verlangt Umbewertung, die den market values Geltung verschafft. Die Moralunterweisungen der Marktreligion müssen ja greifen auf dem Weg vom Wirtschafts- zum Kulturgut - und zurück. Da gibt es diffizile Sphären wie jene der Kunst, wo in den Schnittfeldern von Kulturförderung, Produktmarketing, Public relations und strategischer Kulturkommunikation neue marktfähige Idenditäten und dazu passende Kauf- und Verkaufsöffentlichkeiten zusammengesetzt werden (6). Der Produktionsfaktor Wissenschaft ist mittlerweile völlig wie Laokoon und seine Söhne von den Schlangen des Marktes umwunden - im Unterschied zu diesen allerdings wehrt sie sich dagegen kaum (7). Oder die heikle Medizin, die auf dem Weg zu neuen gewaltigen Kapitalanlage- und Verdienstmöglichkeiten eine gigantische Zeremonialschleppe von Ethikkommissionen, moralgeladenen Bedenkenträgern und humanistischen Feuilletondebatten hinter sich herschleift. Hier haben also auch die Sirenen der Ökonomie ihren Platz, also etwa jene Verlockungen aus den rund 3000 Konsumbotschaften, mit denen der marktfähige US-Amerikaner im Tagesdurchschnitt traktiert wird, damit er dann auch endlich am Markt teilnimmt und sei es bloß das winzige Marktsegment der Superluxusautos von weltweit 8000 Verkaufsexemplaren mit dem Einstiegsspreis für die Einfachversion von rund 300 000 Euro (8). Die Erfahrung zeigt, dass dieser Amerikaner am Markt teilnimmt, wenn er das kann, und dass auch wir das tun.

  10. Wir gewinnen nämlich nicht nur die unmittelbaren Vorteile aus Kauf und Verkauf der Waren, sondern sind auch endlich die ganzen anderen Probleme los, die wir so haben, wenn wir uns alle Zeit mit zahllosen lebensweltlichen Teilsystemen und ihren eigentümlichen Regeln und Codes herumschlagen müssen. Der "Imperialismus der Ökonomie" bietet uns allen einen fabelhaften Zusatznutzen: wo allerorten das Wirtschafts- oder vor allem das Geldmotiv vorgeschaltet ist, sind wir ganz grundsätzlich entlastet. Die Ökonomie selektiert für uns. Sie liefert die Unterscheidungen, an denen wir uns dann orientieren können. Wir können die zahllosen Welten, in denen wir gezwungenermaßen agieren müssen, zuvorderst nach Maßgaben der Ökonomie beurteilen. Was für ein Gewinn an Zeit, wie knapp können wir so unser Wissen halten, welche Ersparnis an Vernunft haben wir da, wozu noch Urteilskraft. Die bekanntlich so unübersichtlich gewordene Welt wird damit irgendwie einfach zu beurteilen und zu handhaben. Die Verlockungen der Ökonomie haben so einen kaum zu unterschätzenden alltagspraktischen Sinn, sie liefern eine kulturelle und kognitive Ordnungs- und gesellschaftliche Integrationsleistung, die den marktfundamentalen Neoliberalismus so verbreitet, massenattraktiv und nachhaltig macht.

  11. Die Sirenen der Ökonomie locken mit Konsumismus und der großen Reduktion von Komplexität, sie indizieren die Krise des ein Vierteljahrhundert dominierenden Neoliberalismus und sie stehen für eine aktuelle Zeit, in der auf neue Weise die maßlosen Dynamiken einer entfesselten Ökonomie und einer von Kriegskalkülen geprägten, also neu entgrenzenden und entgrenzten Politik zusammengehen.


Viele Anregungen und einige Formulierungen verdankt dieser Text dem hervorragenden und fabelhaft geschriebenem kleinen Buch von Carl Amery: Global Exit. Die Kirchen und der Totale Markt, München 2002

(1) San Diego Union Tribune v. 2.2.2001
(2) aber bei Harry Potter
(3) Clemens Knobloch: "Zukunft" - Beobachtungen über den veränderten Gebrauch eines Ausdrucks, in: Jahrbuch für Pädagogik 2001, Zürich 2001, S. 19
(4) Zum homo economicus siehe etwa Ralf Grötker: Die Vertreibung des Homo Oeconomicus, Telepolis v.29.03.2002; Kurt Dopfner: Die Rückkehr des verlorenen Menschen. Wege zum Homo sapiens oeconomicus, in: NZZ Dossier v. 25.8.2001; Armin Falk: Homo Oeconomicus Versus Homo Reciprocans: Ansätze für ein Neues Wirtschaftspolitisches Leitbild? Institute for Empirical Research in Economics, Universität Zürich Working Paper No. 79, Juli 2001 ISSN 1424-0459; M. Tietzel: Die Rationalitätsannahme in den Wirtschaftswissenschaften oder Der homo oeconomicus und seine Verwandten, in: Jahrbuch für Sozialwissenschaft 32 (1981); G. S. Becker / G. N. Becker, G.N.: Die Ökonomik des Alltags, Tübingen 1998.
(5) Zum Verständnis des eben gesagten: psychophonetisch ist ein Standardbegriff der Sprachwissenschaft. Er versucht zu beschreiben, was ein Mensch hört, wenn zum Beispiel ein sog. Westerwelle spricht. Als Hauptrepräsentant des politischen "Mumpismus" kann dementsprechend gegenwärtig die FDP angesehen werden, der Mumpismus-Moellemannismus ist seine höchste Form und die "Mumpitzologie" ist die Wissenschaft vom Westerwelle.
(6) Verena Voigt: Vielfältige Aktionsfelder an der Schnittstelle von Wirtschaft und Kultur. Arbeiten in der Kulturkommunikation, in: Faz v. 8.6.2002
(7) Bildungssponsoring ist für Unternehmen interessant, in: FAZ v. 17.6.2002
(8) "Ein Maybach kostet einst und heute soviel wie 33 Opel, in: FAZ v. 1.6.2002 S.67

Berlin, im Juni 2002