Publikation Demokratischer Sozialismus Neues Programm der PDS und Rückenwind fürs Politikmachen

Text der Woche 44/2003. von Konstanze Kriese

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Reihe

Online-Publ.

Autorin

Konstanze Kriese,

Erschienen

Oktober 2003

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Text der Woche 44/2003Ein halbes Jahr nach dem Chemnitzer Parteitag von 1912 schrieb Rosa Luxemburg in der Leipziger Volkszeitung, dass die utopischen Sozialisten mit Ideen und Projekten ihre soziale Kritik immer leidenschaftlicher schärften, aber "Allein auch diese Kritik war im wesentlichen eine Anklage gegen die bestehende Gesellschaftsordnung, ihre Beurteilung und Verurteilung vom Standpunkte der Moral und der Vernunft. Und gerade deshalb schwebten alle diese sozialistischen Lehren in der Luft..." *

Um es an dieser Stelle sehr, sehr kurz zu machen: Rosa Luxemburg hielt die Verbindung von Programmatik, ökonomischer und politischer Analyse und dem politischem Tagesgeschäft für ein Lebenselixier strategischer Entscheidungen. Und sie besaß auch angesichts der bitteren und blutigen Niederlagen der sozialistischen Bewegung die würdigende Respektlosigkeit, den Satz von Marx:

"Die Menschen machen ihre Geschichte selbst, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken." umzukehren. Sie orientierte auf Entschlossenheit und setzte auf eine neue Betonung: "Die Menschen machen ihre Geschichte nicht aus freien Stücken, aber sie machen sie selbst!"

Dieses politische Selbstbewusstsein hat den Programmparteitag in Chemnitz, die PDS 2003, erfasst und die Delegierten haben sich für ein modernes sozialistisches Programm entschieden.

Das Programm leistet Vieles. Für mich provoziert es in erster Linie den spannenden Versuch, in einer herrschenden Öffentlichkeit, welche Freiheit als Gegenentwurf zur Gleichheit lebt und propagiert, einen solidarischen Freiheitsbegriff in die Zukunftsdebatte zu bringen. Zugleich ist das Programm eine begonnene Antwort auf die beschleunigte, selbstzerstörerische Entwicklungslogik des sogenannten "flexiblen" Kapitalismus, seiner neoliberalen Offensive. Und es ist keine Frage, dass ein Sozialismusverständnis als transformatorischer Prozess ein Gewinn für die PDS in mehrerlei Hinsicht ist. Eine solche Auffassung fordert demokratische Wege, Bündnisfähigkeit und Reformalternativen für eine gerechte Weltwirtschaftsordnung geradezu heraus. Eine solche Auffassung zwingt zu einem entschieden kritischen Umgang mit der Geschichte der sozialistischen Bewegung in Ost und West, und eine solche Sozialismusauffassung skizziert die eigenen Ideen nicht als bodenlose oder anmaßende Wunschvorstellung, sondern als realistische Visionen. Wir leben in einer Zeit, in der selbst die Berechtigung perspektivischer Vernunft gegenüber einer Raum greifenden Politik der Alternativlosigkeit, einer Ohnmacht herrschender Parteienpolitik gegenüber einem weltweiten Verdrängungswettbewerb menschlicher Lebensgrundlagen, verteidigt werden muss.

Auf dem Programmparteitag der PDS in Chemnitz sagte eine junge Frau sinngemäß, bedenken wir doch, dass ich, die ich Kinder habe, meiner Arbeit nach Essen hintergezogen bin und in dieser Gesellschaft sicher trotzdem als arm gelte, dass ich überhaupt nicht zu den sozial Schwachen gehöre - vielleicht zu den sozial Benachteiligten -, aber ich engagiere mich gemeinsam mit vielen Freunden für das, wofür die PDS programmatisch steht und ich führe auch dadurch ein bereicherndes Leben, weil ich im Austausch mit anderen gegen soziale Benachteiligung ständig unterwegs bin. Für mich hat sie einen entscheidenden Wert der programmatischen Debatte für den unmittelbaren politischen Alltag skizziert, für einen Alltag, in dem alternative Politik als praktiziertes Programm, Lebenssinn und auch Erfolg bedeuten.

Um wieder überzeugende Politik zu machen, hat die PDS einen aufregenden Weg vor sich, in den Kommunen und in Europa. Dafür braucht es mit der programmatischen, auch die kulturelle Erneuerung, eine Offenheit, in denen z. B. Geschäftstellen und Wahlbüros Ideenschmieden, Organisationshilfe und politische Adresse zugleich sind.

Der belebende Schritt wieder von der denkenden und erklärenden zur handelnden und lernenden Partei im Alltag zu werden - in Betrieben, Parlamenten, Universitäten, auf der Strasse - pflegt und entwickelt zugleich den Humus für die Tragfähigkeit strategischer Entscheidungen in den Wahlkämpfen.

Wollen wir eine "PDS Plus", die gesellschaftliche Opposition gegen Aufrüstung und gegen Sozialabbau lebendig macht, braucht die PDS vielleicht auch eine eigenständige Intelligenzpolitik, eine selbständige Medien- und Veranstaltungsentwicklung, Kulturläden und Internetcafes, die über aufklärende Informationsproduktion hinausgehen. Die PDS muss selbst an den Kommunikationszentren bauen, in denen alternative Politik stattfindet, wo sie gehört und bereichert wird.

Statt Nebelwänden vor sich und dünnem Eis unter sich, wie der Parteienforscher Neugebauer die PDS nach dem Programmparteitag beschreibt, ist jetzt die Schwimmbrille, um auch bei Tauwetter und Rückenwind vorwärts zu kommen, vorhanden.

* Rosa Luxemburg: In: Leipziger Volkszeitung Nr.60 vom 14. März 1913. Gesammelte Werke, Bd.3, S.178-184

Berlin, Oktober 2003