Publikation Globalisierung - International / Transnational - Amerikas Quito – Treffpunkt der sozialen Bewegungen Abya Yalas während des Ersten Sozialforums der Amerikas

von Achim Wahl

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Reihe

Online-Publ.

Autor

Achim Wahl,

Erschienen

August 2004

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Joachim Wahl ist Leiter des Regionalbüros der RLS - Instituto Rosa Luxemburg Stiftung in Brasilien

Allein schon die Stadt Quito, in der das „Foro Social de las Américas“ durchgeführt wurde, ist eine Reise wert. Liegt sie doch nur wenige Kilometer entfernt vom „Mittelpunkt der Erde“ („Mitad del Mundo“), den französische und einheimische Geografen im achtzehnten Jahrhundert (1736) bestimmten. Umgeben ist sie von Vulkanen wie dem Pichincha (4800 m) und dem in dunstiger Ferne sich erhebenden noch tätigen Chimbarazo (6310 m).

Schnell kommt der Zugereiste, der zu Fuss zu den Veranstaltungen des Forums eilt, ausser Atem. Denn die Hauptstadt Ecuadors liegt 2.800 m hoch und füllt ein Hochtal aus, in dem sie sich in Nord-Südrichtung fast 40 Kilometer mit nur 3 bis 8 Kilometer Breite erstreckt. Das alte koloniale Zentrum wurde von der UNESCO schon vor Jahren zum Weltkulturerbe erklärt. Enge, noch von den spanischen Kolonisatoren geplante Strassenzüge wechseln sich ab mit grossen, meist mit ehrwürdigen Kirchen geschmückten majestätischen Plätzen, auf denen sich ein buntes Leben abspielt.

Einige der Kirchen sind mit Baumaterial errichtet, das aus den von den Spaniern geschlissenen Bauten der Urbevölkerung stammt.

Quito in den Tagen des Forums

Charakterisiert wurde die Stadt Quito in den Tagen des Forums aber von den Aktivitäten der zahlreichen Besucher und den Manifestationen der Teilnehmer. Vor allem jedoch wurde das Antlitz der Stadt geprägt durch die vielfältigen Farben und Trachten der indigenen Völker Abya Yalas (in der Quechua-Sprache „unser Amerika“), die aus 20 Ländern angereist waren und verschiedene Völker (z.B. Quechua, Wayúu, Paez, Huarani, Zaparo, Achuar, Chachi, Manchineri, Jivi, Mapuche, Aymara, Maya u.a.) repräsentierten. Mitten im kulturellen Stadtzentrum hatten sie eine Zeltstadt errichtet, in der sie ihre Traditionen, ihre Kultur und Lebensweise demonstrierten. Die Nachricht, die sie mitteilten, war unmissverständlich: Wir lieben die „Pacha Mama“ (Mutter Erde). Sie ist unser Leben. Wir verehren und achten sie.

Sie alle können auf eine entwickelte, prä-inkaische Kultur verweisen. Schmunzelnd wird z.B. dem Fremden mitgeteilt, dass die französische Expedition, die den „Mittelpunkt der Erde“ bestimmte, sich um 800 Meter vermessen haben soll. Neuere Messungen ergaben, dass die Bestimmung des Mittelpunktes der Erde durch die Ureinwohner genauer ist als die des XVIII. Jahrhunderts.

Das Gipfeltreffen der indigenen Völker

Schon vor der Eröffnung des Forums fand das Zweite Gipfeltreffen der Indigenen Völker mit ca. 600 Vertretern aus 64 Völkern statt. An ihm nahmen Vertreter unterschiedlicher Völkerschaften des Südens und des Nordens des Kontinents teil.

Ihre Themen waren: Territorium, Autonomie, freie Selbstbestimmung, Diversität und Plurinationalität, Rechte der Völkerschaften und soziale Bewegungen im Prozess des Weltsozialforums, Militarisierung und die Rolle der Frauen beim Aufbau plurinationaler Staaten.

Jedes dieser Themen, gesehen vom Standpunkt dieser Bewegungen, ist für sie lebenswichtig. 500 Jahre nach der Kolonisierung durch Spanier, Portugiesen, Holländer und andere wirkt die aktuelle Version der neoliberalen Globalisierung in Richtung ihrer endgültigen Marginalisierung, ihres sozialen Ausschlusses und schliesslichen Endes  ihrer physischen Existenz.

Mauergrafitis im Stadtbild Quitos rufen zur Gegenwehr auf: „Der Wind des Widerstandes kommt aus dem Altiplano (Hochland)“. Während des Treffens wurde der sich formierenden Widerstand sichtbar. Jedoch richten sich die Überlegungen weiter in die Zukunft, die die Verschiedenartigkeit des Lebens der Völker garantieren, ihr selbstbestimmtes Leben sichern und ihnen gleichberechtigte Entwicklung gewährleisten soll.

Ihr Kampf konzentriert sich auf die Sicherung ihres Territoriums und der kollektiven Rechte an Bodenschätzen. Ihre Forderung beinhaltet die Erfüllung der Konvention 169 der OIT (Internationale Arbeitsorganisation), in der die Anerkennung der Autonomie und die Gleichberechtigung der indigenen Völker in Arbeitsgesetzen festgeschrieben ist. Das Gipfelltreffen forderte die Unterzeichnung dieser Konvention durch die Regierungen ihrer Länder.

Es wendete sich gegen die zunehmende Ausweitung der US-Militärstützpunkte in Lateinamerika (Ecuador, Kolumbien, Peru, Honduras, Puerto Rico, Kuba und Argentinien) als Form der Rekolonialisierung des Kontinents.

Ganz im Sinne des Weltsozialforums stellte dieses Treffen fest: „Eine andere Welt ist möglich.“ Die Bewegung der indigenen Völker beschloss, sich aktiver als bisher in diesen Prozess einzuschalten, sich nicht nur als „eingeladen“zu betrachten, sondern eine eigenständige und selbstbestimmte Rolle zu spielen.

Gleichsam als Auftakt zu vielen Veranstaltungen während des Sozialforums gedacht, war das Treffen ein Zeichen des Aufbruchs einer breiten indigenen Bewegung, die sich als Teil der sozialen Bewegungen beider Subkontinente betrachtet und demokratisch - humanistische Traditionen der indigenen Gemeinschaften neu bewertet. Es wurde deutlich, dass es sich um eine gut organisierte und politisch durchdachte Bewegung handelt, die nicht mit herkömmlichen Masstäben zu messen ist. Sie repräsentiert eine andere Welt, die nur in ihrer besonderen Denk- und Handlungsweise erfasst werden kann.

Politische Ereignisse der letzten Zeit in Bolivien, Ecuador und Peru verdeutlichen die Erkenntnis, dass diese unterschiedlichsten Völker dabei sind, ihre nationale Identität neu zu erschliessen. Sie formieren sich in einer Zeit, da die staatlichen Institutionen schwach und nicht in der Lage sind, die Souveränität ihrer Länder zu sichern.

„Menschen, achtet einander“

Das „Erste Sozialforum der Amerikas“selbst wurde eröffnet mit dem vielstimmigen Ruf seiner Teilnehmer in alle vier Himmelsrichtungen: „JuyaYai“ „Menschen, achtet einander!“

Das Forum fand statt in einer Zeit zwischen Rekolonialisierung und  Wiederbelebung des Kampfes gegen Neoliberalismus und imperiale Vorherrschaft. In diversen Seminaren und Rundtischgesprächen wurden die Gefahren für Lateinamerika analysiert und Zielstellungen und Aktivitäten vereinbart, die den bedeutenden Aufschwung der sozialen Bewegungen in Lateinamerika zeigen.

Unter Rekolonialiiserung wurden die verschiedensten Erscheinungen subsummiert, wie z.B. die völlige Dollarisierung der Wirtschaft in Ecuador, die unkontrollierte, freie Bewegung von Kapital und die damit verbundene Strangulierung der nationalen Wirtschaften, die vorauszusehenden Auswirkungen des Abschlusses von Freihandelsverträgen der USA mit den Andenländern Bolivien, Peru und Ecuador.

In den Debatten konnte festgestellt werden, dass sich breite Netzwerke sozialer Bewegungen formiert haben, die den Kampf gegen die Amerikanische Freihandelszone (ALCA), für Nahrungsmittelsouveränität, gegen die Auslandsschulden, für die Achtung der Verschiedenartigkeit und Menschenrechte aufgenommen haben. Das Forum ermöglichte einen breiten Erfahrungsaustausch, den Austausch von Informationen und die Abstimmung gemeinsamer Aktivitäten. Mit der Informationsvermittlung zur Vielzahl der Initiativen und mit dem Meinungsaustausch zwischen den Bewegungen wurden ein breiter Konsens und Übereinstimmung erzielt.

In Seminaren und Workshops wurde über neue Formen des Widerstandes gegen den Kapitalismus gesprochen. Hier flossen vor allem die Erfahrungen der indigenen Bewegungen ein, die in Ecuador, Bolivien und auch Peru zum Symbol einer sozialen Transformation geworden sind. In Ecuador stürzten sie den neoliberalen Präsidenten und erreichten eine neue Verfassung. In Bolivien erhoben sie sich gegen die Privatiiserung des Erdgases und des Wassers.

Die Konföderation der Indigenen Völker Boliviens (Cidob), z.B., errang territoriale Autonomie. Ihr Ziel ist es, die politische Struktur des Landes auf friedlichem Wege zu verändern. Auf ihrem Territorium im Osten Boliviens sind sie dabei, ihre Gemeinden und kommunalen Gebiete entsprechend ihrer Herkunft zu reorganisieren. Das Territorium, das sie bewohnen ist weder verkäuflich noch teilbar. Sie selbst nehmen kollektiv die Rechte zur Nutzung und Ausbeutung wahr.

Gemeinsam mit anderen Bewegungen bereiten sie sich auf die 2005 stattfindende verfassungsgebende Versammlung vor, deren Einberufung im Ergebnis des Sturzes der korrupten Regierung Lozada im Oktober 2003 erkämpft wurde. In der neuen Verfassung Boliviens sollen die Anerkennung der kulturellen Vielfältigkeit und der pluri-ethnische Charakter des Landes festgeschrieben werden.

Ihre Alternative zur Privatisierung ist die Forderung, strategische Ressourcen als Allgemeingut der Menschheit zu betrachten. Sie nehmen das Vermächtnis ihrer Vorfahren der demokratischen Gemeinschaft und des kollektiven Gemeingutes auf und suchen neue Formen der Demokratie.

Das Forum wurde aber auch durch die Erfahrungen städtischer sozialer Bewegungen bereichert. Aus Uruguay waren Vertreter der Selbsthilfegruppen angereist, die sich während der tiefen Wirtschaftskrise bildeten. Spontan waren in Montevideo, bes. in den stetig wachenden irregulären Siedlungen (jeder fünfte Einwohner Montevideos lebt dort, insges. 1,5 Mio), Gemeinschaftsgärten geschaffen worden, die der Notversorgung der Bevölkerung dienten. Im Oktober 2003 fand das erste Treffen der städtischen Landwirte statt.

Die Piqueteros Argentiniens berichteten, dass in denen von ihnen verwalteten Gebieten Schulen und Krankenstationen eingerichtet wurden.

Im Stadtteil El Alto der Hauptstadt Boliviens, La Paz, existieren mittlerweile 500 Nachbarschaftsräte (juntas vecinales), die die Wasserversorgung organisieren, für den Bau und die Erhaltung von Strassen usw. sorgen. Die eigentlichen Gemeindevertreter ordnen sich den Entscheidungen der Basis unter.

Die Räte sind Ausdruck der partiellen Aneignung der Territorien seitens der Bürger dieses Stadtteils. Sie sind Teil eines sozialen Geflechtes, das über Jahre entstanden ist und das Probleme der Nahrungsmittelversorgung, der Gesundheit, der Bildung, des Wassers und des Zusammenlebens löst.

Diese Erfahrungen zeigen, dass die Bewegungen immer weniger vom Staat fordern, sondern sich ihre Rechte sichern und selbst schaffen, was für die Menschen erforderlich ist. Die territoriale Kontrolle, die sie über das von ihnen bewohnte Gebiet ausüben, wirft die Frage auf, ob es sich in diesem Sinne noch um „soziale Bewegungen“ handelt. Denn die Gesellschaft ist in Bewegung geraten, verfügt über ihre Autoritätenund ihre gut organisierten Gruppen. Sie ist in der Lage, sich ohne „Führer“ zu orientieren. Das trifft nicht nur auf solche Bewegungen wie die MST in Brasilien oder die Landlosen in Paraguay sondern auch Bewegungen in den Peripherien der Grossstaedte zu.

Hier entsteht im Keim schon diese „andere Welt, die möglich ist.“

Intellektuelle Begleitung diese Prozesses auf dem Forum

Eine gute Ergänzung erfuhren die vermittelten Erfahrungen durch Beiträge bekannter Wissenschafler. Der peruanische Soziologe Anibal Quijano, der sich v.a. mit den indigenen Bewegungen befasst, ist  der Auffassung, dass nicht Reform oder Revolution gefragt werden muss, sondern dass das eine das andere nicht ausschliesst. Seine auf der Basis des lateinamerikanischen Marxismus beruhende Theorie sieht in den indigenen Gemeinschaften neue Formen der Demokratie entstehen, die den Charakter der Macht verändern können.

Der belgische Theologe François Houtart meint, dass die sozialen Bewegungen heute Teil eines transformatorischen Prozesse sind und im Kampf um die Veränderung der Demokratie einen Beitrag zur Veränderung des Charakters der Macht leisten.

Gilmar Mauro, Vertreter der MST Brasiliens, erklärte, dass das Ziel der Bewegung nicht schlechthin die Durchsetzung der Agrarreform ist, sondern dass es um eine Transformation der Gesellschaft geht. Keine Bewegung ist vor Fehlern gefeit, aber es sei ein Fehler, aus Angst vor Fehlern nichts zu tun.

Kaum ein Mensch in unserer heutigen Welt bleibe von den Folgen der neoliberalen Globalisierung unberührt. Jedoch bleibe die Mehrheit noch inaktiv. Die MST verfolge im Verein mit anderen Bewegungen das Ziel, mehr Menschen zu gewinnen, die sich in diesen Prozess einzuschalten. Eine Forderung der Zeit, sei die Herstellung eines breiten Bündnisses aller progressiven Kräfte, v.a. auch zwischen Parteien und Bewegungen.

Von der Pachakutik Ecuadors (Partei, die aus der indigenen Bewegung hervorging) kam der Gedanke, dass die Demokratie von unten her neugestaltet werden muss. Ihre Losung in Kommunen und Gemeinschaften ist: „Nicht lügen, nicht veruntreuen, nicht müssig sein!“

Abschluss des Forums mit der Generalversammlung der sozialen Bewegungen des Kontinents

Am 30. Juli versammelten sich nochmals alle sozialen Bewegungen, um aus den Seminaren und Workshops zu berichten.

Diese Versammlung wurde so vor allem zu einer Manifestation ihrer gewachsenen Stärke und der Gemeinsamkeiten. Aus den Berichten der Netzwerke ergab sich ein umfassendes Bild eines gemeinsamen Aktionsplanes.

Die Bewegung des „Marchas Mundial de Mujeres“ führt am 17. Oktober eine kontinentweite Aktion gegen die ALCA, die Freihandelsverträge, gegen die Gewalt und Armut durch.

Die Koordinierung der Bauernorganisationen Lateinamerikas (CLOC) realisieren in der Zeit zwischen dem 6. und 12. August Solidaritätskundgebungen mit Kuba und Venezuela. Darüber hinaus im Dezember 2004 ein Gipfeltreffen zur Durchsetzung der Agrarreform.

Die „Kampagne des Kampfes gegen die ALCA“ wird am 12. Oktober ihren Protest gegen die ALCA ausdrücken. Am gleichen Tag wird der „Schrei der Ausgeschlossenen“ („Grito de los Excluidos“) Proteste gegen die Militarisierung Lateinamerikas durchführen. (Der 12. Oktober ist der 512. Jahrestag des Beginns der Kolonialisierung Lateinamerikas).

In mehr als zwei Stunden stellten die Bewegungen und Netzwerke ihre Aktionsprogramme dar. Sie widerspiegelten die grosse Vielfalt des Widerstandes, der Verschiedenartigkeit ihres Charakters, aber auch der Gemeinsamkeit im Kampf gegen den Neoliberalismus, gegen die Rekolonialisierung und Militarissierung.

Bis zum Weltsozialforum in Porto Alegre, Januar 2005, verbleiben noch fünf Monate. Das Erste Sozialforum Amerikas hat einen bedeutenden Teil zu seiner Vorbereitung jetzt schon beigetragen.

Gewachsen ist die Erkenntnis, dass das vor allem andin-geprägte Treffen mit seiner Vielfalt dem Weltsozialforum neue Impulse verleihen kann.