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Text der Woche 19/2004. von Fabio De Masi Nachruf auf Paul Marlor Sweezy, Jahrhundertökonom und Albert Einstein des US-Marxismus

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April 2004

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Text der Woche 19/2004

Der Text erschien in gekürzter Form in der Zeitschrift Sozialismus, Heft Nr. 4 (April 2004). Der Autor Fabio De Masi ist Studienstipendiat der RLS und studiert Wirtschafts-wissenschaften an der Hamburger Universität für Wirtschaft und Politik.

Widersprüche sind unvermeidbar wenn man auf das Leben von Paul Marlor Sweezy (1910 – 2004) zurückblickt. Sweezy gehörte mit Sicherheit nicht zu jenen Ökonomen die ihre Heimat, die USA, als Land der unbegrenzten Möglichkeiten bezeichnen würden. Als solches erscheint es aber, wenn man sich mit der Biographie des „dean of radical economists“ und  „the most noted American marxist scholar“ (John Kenneth Galbraith im Wall Street Journal 1972) des 20. Jahrhunderts beschäftigt. Es ist nicht die Geschichte eines Tellerwäschers der zum Millionär wurde, es ist die Geschichte eines Sohnes des feinsten US-amerikanischen Establishments, eines Harvard-Ökonomen der zum Marxisten wurde und als unbeugsamer Intellektueller auszog den Eliten seines Landes das Fürchten zu lehren.

Sein ökonomisches Wirken war eng mit den Arbeiten von Karl Marx und Alois Schumpeter verbunden. Aus diesen hervorgegangen ist seine Untersuchung und Kritik der kapitalistischen Epoche, von ihrem Ursprung, über ihre Entwicklung und dem prognostizierten Niedergang. Wer sich heute als Student der Wirtschaftswissenschaften durch eine Vorlesung der Mikroökonomie quält, der Königsdisziplin der orthodoxen Gleichgewichtslehre, kommt auch dort an dem alten Gentleman nicht vorbei. Seine frühen Arbeiten zum Marktversagen und Oligopolen, die berühmte „kinked demand curve“ hat auch hier ihre Spuren hinterlassen. In der Performance der Oligopole, die vorhandenen Profitchancen des Marktes nicht auszunutzen, weil sie bei Ausweitung der Produktion die Preise zu ihren eigenem Nachteil beschädigen, hat er die Ursache für die langfristige Stagnation des profitorientierten Kapitalismus gesehen. Der keynesianischen Kompromiss, der Wohlfahrtsstaat, der lange Zeit für eine Stabilisierung der Investitionen, des Konsums und der Balance zwischen den Akteuren des Marktes sorgte, schien Sweezys Prognose zu verdrängen. Sweezy blieb umtriebig, davon zeugen nicht zuletzt seine letzten Veröffentlichungen zur Globalisierung der Finanzmärkte oder der ökologischen Frage.

Sweezy starb am 27. Februar diesen Jahres an einem Herzleiden in seinem Haus in Larchmont, New York. Der Kollaps des sozialistischen Experiments in Osteuropa 1989 hat Sweezy jedoch keine Herzattacke beschert, an dessen ökonomischen und demokratischen Erfolg hat er längst nicht mehr geglaubt. Mit dem Untergang des Ostblocks starb jedoch auch der keynesianische Kompromiss, die Öffnung der Märkte bescherte den neoliberalen Lobbies Rückenwind und den Prognosen des alten, geduldigen Mannes wieder Aktualität. Genossen hat der Mitbegründer und -herausgeber der monthly review, dem weltweit führenden Journal des „independent marxism“, die späte Wiederbelebung seiner Thesen wohl kaum. Dies passte nicht zu seinem Charakter, wenn man jenen horcht die ihm begegnet sind. Sweezy hielt die Torheiten des Kapitalismus für veränderbar, Geschichte wahr für ihn keine Einbahnstrasse. Seine engagierten Debatten mit den großen Denkern seiner Zeit, zumeist aus dem liberalen Milieu, zeichnen das Bild eines redlichen Intellektuellen. Er wollte überzeugen, es wirkte manchmal schon rührend. Geradezu unheimlich erscheint die Anerkennung seiner Leistungen, die ihm die Größen der ökonomischen Disziplin, wie die Nobelpreisträger der Wirtschaftswissenschaften, Paul Samuelson und Ken Arrow, selten verweigerten.

Paul Marlor Sweezy wurde am 10. April 1910 als Sohn von Everett B. Sweezy und Caroline (Wilson) Sweezy in New York geboren. Sein Vater war Vize-Präsident der First National Bank of New York, einem engen Partner von J.P. Morgan and Company. Paul Sweezy war der Jüngste von drei Geschwistern. Er genoss seine Ausbildung in Exeter und Harvard. Paul führte sein Studium der Ökonomie nach dem Tod seines Vaters 1931 nach Wien und später nach London, an die London School of Economics and Political Science (LSE). Es war die Zeit der „Great Depression“, die auch das Vermögen seines Vaters nicht verschonte, wenngleich ein komfortabler Lebensstandard niemals in Gefahr geriet. Die britische Eliteuniversität wird heute vom führenden Vordenker des „dritten Weges“, dem Think Tank Aktivisten und Berater Tony Blairs, Anthony Giddens, geführt. Sweezy dessen Absicht es ursprünglich war für den konservativen Lehrbuchökonomen Hayek zu arbeiten, wurde dort zum Marxisten. Auslöser einer sich verändernden Sichtweise Sweezys waren nicht nur ökonomische Erschütterungen und große historische Umbrüche wie das Aufkeimen des europäischen Faschismus, sondern Auseinandersetzungen mit . jüngeren, links-orientierten Cambridge Ökonomen, wie der legendären Schülerin John Maynard Keynes, Joan Robinson, oder der später ebenfalls profilierten Ökonomin Abba Lerner.

Nach seiner Rückkehr nach Harvard hatte sich das intellektuelle Klima an den großen amerikanischen Universitäten spürbar verändert. Marxismus spielte zunehmend eine Rolle in der Zeit der großen politischen Entwürfe. Die Ankunft eines der zum damaligen Zeitpunkt fortgeschrittensten Wirtschaftswissenschaftlers, Alois Schumpeter, wurde zum Keim einer langjährigen und intellektuell fruchtbaren Freundschaft. Schumpeter, ein konservativer Ökonom und Theoretiker der „schöpferischen Zerstörung“ und unternehmerischen Innovationskraft hatte tiefen Respekt für die theoretischen Leistungen von Karl Marx. Wie dieser glaubte (der späte) Schumpeter nicht an die Stabilität des Kapitalismus in der langen Frist. Sweezy besuchte nicht nur dessen Seminar, er engagierte sich in leidenschaftlichen Debatten, später unter Mitwirkung berühmter Ökonomen wie Samuelson, dessen Lehrassistent Sweezy wurde. Dieser erinnerte sich einer Debatte zwischen Sweezy und Schumpeter, die er mit „foxy Merlin“ und „young Sir Galahad“ beschrieb. Samuelson, Vater der „neoklassischen-keynesianischen Synthese“, der Komposition aus angebots- und nachfrageorientierter Wirtschaftstheorie, hatte einen Sinn für soziale Ungerechtigkeit. Er beklagte sich einmal darüber, dass Sweezy nicht nur mit „a brilliant mind“ aber auch mit einem „beautiful face“ ausgestattet wurde. Vom stattlichen Erbe erst gar nicht zu sprechen.

Sweezy forschte als Assistenzprofessor in Harvard u.a. zur Preisstarrheit und unvollkommenen Wettbewerb, zur Rolle von Erwartungen und Unsicherheit in keynesianischen Modellen sowie der ökonomischen Stagnation, auf deren Gebiet er gemeinsam mit Schumpeter führend wurde. Er integrierte keynesianische Erkenntnisse in seine Modelle, blieb jedoch ein engagierter Neo-Marxist. Diese Tatsache wurde ihm zum Verhängnis als Schumpeter unter großem Einsatz versuchte Sweezy eine langfristige Professur in Harvard zu verschaffen. Sweezy der bereits einmal bemerkt hatte, dass er ohne seine finanzielle Unabhängigkeit wohl kaum der Anpassung im akademischen Betrieb widerstanden hätte, verabschiedete sich von den Universitäten und gründete gemeinsam mit amerikanischen Wissenschaftlern monthly review: An independent socialist magazine. Zu den frühen Autoren zählten Albert Einstein, Ernest Che Guevara und Joan Robinson.

Er veröffentlichte zuvor zahlreiche Studien für verschiedene Agenturen des US-amerikanischen „New Deal“. Eine wichtige Arbeit aus dieser Zeit ist Interest Groups in the American Economy (1937), die Anhang zum wegweisenden Report zur Unternehmenskonzentration, The structure of the American Economy, des National Resources Comittee wurde. Sweezy klassifizierte acht führende Interessengruppen und ihres verzerrenden Einfluss auf die US-Ökonomie, in der er auch das Finanzunternehmen J.P. Morgan und die Bank für die sein Vater wirkte einreihte. Seine Zeit in der US-Army während des zweiten Weltkrieges beendete er als Chefanalyst der britischen Volkswirtschaft im Dienste der US-Regierung im Vorläufer der Central Intelligence Agency (CIA), dem Office for Strategic Services (OSS). Er leistete offenkundig einen Beitrag zum Anliegen der US-Regierung nach dem Krieg das Vereinigte Königreich als „top dog“ im ökonomischen und weltpolitischen Geschäft abzulösen, wie es Sweezy im Rückblick einmal formulierte. Sweezy dürfte sich kaum im Konflikt mit seiner Tätigkeit als US-Dienstleister gefühlt haben. Es gehörte nicht zu Sweezys Denken dass sich Fortschritt aufhielten ließe, seine politische Orientierung verbarg er dabei nie.

Er beschäftigte sich zu mehreren Anlässen mit der Despotie Stalins. Er scheute weder vernichtende Kritik, noch die nüchterne Debatte verschiedener Aspekte seiner ökonomischen Nachkriegspolitik. Selbst Business Week zollte der Unabhängigkeit der monthly review Autoren und ihrer scharfen ökonomischen Analyse Respekt und Times International ermittelte Sweezy als eine der begehrtesten Persönlichkeiten, die japanische Businessleader und Meinungsmacher einmal treffen möchten.  Für den aufgeregten Antikommunismus der McCarthy-Ära blieb Sweezy scheinbar zu nüchtern. Er musste vor den U.S. Surpreme Court aussagen und blieb nach einer flammenden, jedoch politisch eindeutigen Rede nicht nur frei von einer Verurteilung, sondern läutete das Ende einer Politik ein, die bedeutende Persönlichkeiten wie Berthold Brecht und Charlie Chaplin aus den USA trieb.

Sweezy meist debattiertes Werk blieb neben The Theory of Capitalist Development (1942), Monopoly Capital (1966), dass er gemeinsam mit seinem Weggefährten, dem Standford-Professor für Ökonomie und Pionier der dependency-Theorie in der Entwicklungsökonomie, Paul Baran, formulierte. Es erfuhr in seinen Marshall-Lectures in Cambridge 1972 eine letzte grosse akademische Würdigung. Monopoly Capital enthielt eine frühe und dezidierte Analyse der Bedeutung des Marketing, der Rüstung und der Finanzmärkte für das US-amerikanische Wachstum. Sweezy befasste sich in dieser Zeit mit internationalen Fragen. Seine Hoffnung auf politische Umbrüche stützte er dabei auf die Peripherie, da er zunächst davon ausging, dass die Widersprüche des Kapitalismus dort am stärksten zum Tragen kämen. Sein Augenmerk konzentrierte sich zuletzt aber wieder auf die entwickelten Volkswirtschaften, da ihn die renommierten Arbeiten seines Mitstreiters Harry Bravermann dazu veranlassten, die Arbeitsbedingungen und Konflikte der „high-skilled jobs“ neu zu bewerten. Sweezy konzentrierte sich in den letzten Jahren auf die Rolle der internationalen Finanzmärkte. Er wurde dabei von Harry Magdorff bei monthly review unterstützt, einem Kind der New Yorker Bronx, der wegen seiner politischen Aktivitäten sein Mathematik- und Physikstudium aufgeben musste und nach einem Studium in Commerce zu einem Finanzanalysten, New Deal-Businesslobbyisten und Wirtschaftsberater des US-Präsidentenkandidaten Wallace aufstieg.  

Paul Sweezy hinterlässt zwei Ehefrauen und drei Kinder, er wurde 94 Jahre alt. Er bleibt all jenen ein Vordenker, die über eine andere und freiere Welt nachdenken, ohne den Blick auf den vermeidbaren „Terror der Ökonomie“ zu scheuen. Sweezy hat nicht nur ein Jahrhundert der Ökonomie besichtigt, er war ein Jahrhundertökonom. Ein Jahr vor der Jahrtausendwende sagte er mit Blick auf die wirtschaftlichen Voraussetzungen, “Well, if socialism is ever going to happen, we’re nearer to it now than we were then.”  Paul Sweezy lässt uns erneut mit einem unlösbaren Widerspruch zurück. Nach einem so langem und ereignisreichem Leben hat er seine Ruhe verdient, schmerzlich vermissen werden wir ihn dennoch, den netten alten New Yorker.

Ein ausführlicher Nachruf auf Paul Marlor Sweezy in der monthly review ist unter  www.monthlyreview.org/paulsweezy.htm  abrufbar.

In der Tagespresse erschien ein Rückblick auf das Wirken von Paul Sweezy in der New York Times vom 2. März 2004 www.nytimes.com

Ein memorial service für Paul Sweezy wird am Samstag, den 17. April  von 15.00 – 18.00 Uhr in Landmark on the Park, 160 Central Park West (at 76th Street), New York stattfinden. Interessenten wenden sich bitte an Tel. USA (Einwahl 001) (212) 691-2555 für weitere Informationen.