Publikation Ungleichheit / Soziale Kämpfe - Arbeit / Gewerkschaften - Kultur / Medien - Digitaler Wandel «Wir hassen die Gig-Economy nicht, aber sie muss sich ändern»

Ein Gewerkschaftsaktivist bei Deliveroo über Arbeitskämpfe in der Plattform-Ökonomie

Information

Reihe

Online-Publ.

Autor

Guy McClenahan,

Erschienen

Juli 2017

Bestellhinweis

Nur online verfügbar

Deliveroo couriers strike rally day 2 - central London August 12th 2016., CC BY-NC-SA 2.0, Foto: Steve Eason, flickr

Sich durch den Verkehr schlängeln. Sich durch den Platzregen kämpfen. Autos ausweichen, die deinen Weg kreuzen. Es ist ein toller Job, ohne Vorgesetzte durch die Straßen zu pflügen, aber auch ein gefährlicher. Als Fahrradkurier wirst du von allen gehasst – von FußgängerInnen ebenso wie von Auto- und TaxifahrerInnen. Nicht, dass ich das nicht genießen würde – es ist ein großartiges Gefühl sich zurückzulehnen, mit den Lichtern der Stadt vor dir den Berg hinunterzurollen, die ruhigen Straßen in der Nacht. Die meisten sagen, dass es das Fahren ist, das sie bei diesem Job am meisten beglückt – sie machen's jedenfalls nicht allein der Bezahlung wegen. Sie genießen dieses Gefühl der Freiheit, das man nur als Kurierfahrer hat; niemand kennt die Stadt wie wir. Wenn du durch kleine Nebengassen radelst, um zu einer Küchentür zu gelangen, oder wenn du Grundstücke so leise durchquerst, dass selbst die Füchse überrascht aufspringen, lernst du eine Seite der Stadt kennen, die niemand sonst so zu Gesicht bekommt.

Ich begann bei Deliveroo im Oktober 2016 – sie suchten so verzweifelt nach FahrerInnen, dass es praktisch keine Hürden gab, um einzusteigen. Alle, mit denen ich anfing, bestanden die Eingangsprüfung (manche davon recht überraschenderweise). Eine Woche später, nach Zahlung einer Kaution von 150 Pfund, hattest du bereits deine Box und Jacke. Die ersten paar Wochen waren ziemlich hart, da wir direkt ins kalte Wasser der Rush Hour von Brighton geworfen wurden, mit Kennzahlen, die es zu erfüllen galt, und Geld, das verdient werden wollte. Am Anfang war das Gehalt super – ich hatte noch nie derart viel Kohle verdient. Während die meisten anderen jungen Leute sich von einem Mindestlohn-Job zum anderen hangelten, schaffte ich 4 bis 5 Lieferungen pro Stunde, bei 4 Pfund pro Lieferung (natürlich spürte ich das jeden Montagmorgen ganz besonders in den Oberschenkeln). Da es an FahrerInnen mangelte, gab es soviel Arbeit, wie du wolltest – aber niemand war übermäßig in Eile. «Wenn ich bei diesem Tempo vier Lieferungen die Stunde erledige, warum soll ich mich da unnötig abhetzen?», war der Konsens unter den FahrerInnen, wenn wir uns am Wartepunkt im Stadtzentrum trafen, wo uns die App hinschickte. 

Im Laufe der nächsten Monate erreichte die Zahl der KurierfahrerInnen in Brighton ihren Sättigungspunkt und die Lage begann sich zu verschlechtern. Den Leuten wurde bewusst, dass unsere guten Arbeitsbedingungen nicht in Stein gemeißelt waren. Wenn der Lohn jedoch unter einem Reallohn von 8,45 Pfund sinkt, fängt es an weh zu tun. Die FahrerInnen bemerkten, dass die Lieferungen nicht fair verteilt wurden. Manchmal saßen zwanzig von uns auf einer kalten Bank, bereit jederzeit auf Geheiß des Unternehmen loszuspringen – nur damit jemand von der anderen Seite der Stadt gerufen wurde, um mehrere Lieferungen von eben jenem Restaurant abzuholen, vor dem wir gerade saßen. Die Löhne fielen und sanken immer weiter. Es gab Nächte, in denen wir alle auf dem Rad saßen, weil wir von Deliveroo per Mail die Ansage «Extrem Hohe Nachfrage!» bekamen, nur um dann bloß zwei Lieferungen abzubekommen. Acht Pfund für einen ganzen Abend harter, gefährlicher Arbeit. Es ging soweit, dass du als FahrradkurierIn nur wenige Stunden hattest, um möglichst viel Geld rauszuholen. In die Pedale steigen um 19 Uhr und dann wie ein Verrückter zwei Stunden lang durch die Stadt rasen, bis sie dir die Arbeit wieder wegnehmen – ein gefährlicher Knochenjob.

Deliveroo couriers strike rally day 2 - central London August 12th 2016, CC BY-NC-SA 2.0, Foto: Steve Eason, flickr

Im Februar stimmten die FahrerInnen für eine gewerkschaftliche Organisierung im Rahmen der Independent Workers Union. An einem Samstagabend, wir planten gerade unsere weiteren Schritte, entlud sich der aufgestaute Ärger der FahrerInnen in einem wilden Streik, der das Unternehmen Tausende von Pfund kostete. Unsere Dynamik stimmte – aber wie ein Büttel des Unternehmens uns mitteilte, der uns zum Schweigen bringen sollte, hatten wir «nicht das Recht auf eine gewerkschaftliche Vertretung». Nun, Deliveroo, das ist einfach nur Bullshit. Gewerkschaftliche Vertretung sollte niemanden vorenthalten werden – und darüber hinaus sollte kein Arbeitsvertrag Klauseln enthalten, die eine Kündigung vorsehen, sollten ArbeitnehmerInnen das Unternehmen verklagen, so wie unsere Verträge mit Deliveroo es tun. Wir protestierten mit Hupen, Rauchgranaten, Soundsystemen und vielen wütenden FahrerInnen, die empört waren über die Ausbeutung, der sie auf der Straße ausgeliefert waren. Wenn du derart wenig verdienst, ist deine Situation so prekär, dass du buchstäblich davon abhängst, dass das Unternehmen dir Monat für Monat das Geld gibt, dass du zum Leben brauchst. Das muss sich ändern.

Viele der großen Restaurants in Brighton unterstützten unsere Kampagne – Burger King, Bella Italia, YO! Sushi; nicht zu vergessen unsere Abgeordnete im Parlament, Caroline Lucas, und unser Schattenkanzler, John McDonnell (von den Konservativen war nicht viel zu hören – aber das war auch nicht anders zu erwarten, schließlich fallen wir nicht gerade in die Spitzensteuerklasse). Es überrascht daher nicht, dass sich die Lage seit Mai 2017 langsam bessert. Die Löhne steigen und die Aufträge werden etwas fairer verteilt. Wir brauchen noch immer einen höheren Satz pro Lieferung, da es nach Abzug unserer Kosten erst bei einem Satz von 5 Pfund möglich wird, mit zwei Lieferungen pro Stunde auf einen Stundenlohn von mehr als 8,45 Pfund zu kommen. Und in unseren Arbeitsverträgen steht noch immer, wir seien selbstständig. Ich wollte schon immer mein eigener Unternehmer sein, aber ich hatte nie dran gedacht, Guys Lieferservice GmbH dafür gründen zu müssen, obwohl für alle klar ersichtlich ist, dass wir keine UnterauftragnehmerInnen sind. Es sollten nicht die FahrerInnen am unteren Ende der Pyramide sein, die die Geschäftsrisiken von Deliveroo tragen; eine ruhige Nacht mit wenigen Aufträgen sollte zulasten von Deliveroo und nicht des ärmsten Gliedes in der Kette gehen.

Wir hassen Deliveroo nicht – wir mögen es dem Unternehmen übelnehmen, wie es uns behandelt hat, aber alles in allem sind wir an seinem Erfolg interessiert –, schließlich profitieren wir genauso davon. Wir möchten eine gute Beziehung zu unseren ArbeitergeberInnen aufbauen, im Sinne allgemein guter Löhne und hoher Profite. Die Weigerung, unsere Gewerkschaft anzuerkennen und mit ihr zu verhandeln, ist abstoßend und moralisch verwerflich – dieser Standpunkt muss überwunden werden, wollen wir gemeinsam Fortschritte erzielen. Für Deliveroo hat die Stunde der Wahrheit geschlagen; unser Wohlergehen interessiert sie womöglich nicht, aber zum Zuhören können wir sie dennoch zwingen. 

 

Mehr zur Couriers & Logistics Branch der IWGB:
iwgbclb.wordpress.com | @iwgb_clb | fb.me/couriersandlogisticsbranch

Dieser Text erschien im Original in der Broschüre ‹Towards a Fairer Gig Economy›, die auf Englisch kostenfrei über meatspacepress.org erhältlich ist. Die Publikation wurde von Mark Graham und Joe Shaw herausgegeben.

Interview mit foodora und deliveroo Fahrern

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