Publikation Staat / Demokratie - Wirtschafts- / Sozialpolitik - Osteuropa - Sozialökologischer Umbau Der Berg kreißte und gebar nicht mal eine Maus

Viel Kritik am Dieselgipfel

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Stephan Krull,

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Matthias Müller (VW), Harald Krüger (BMW) und Dieter Zetsche (Daimler) nach dem Dieselgipfel. Bild: picture alliance / Maurizio Gambarini/dpa

«Die bürgerlichen Produktions- und Verkehrsverhältnisse, die bürgerlichen Eigentumsverhältnisse, die moderne bürgerliche Gesellschaft, die so gewaltige Produktions- und Verkehrsmittel hervorgezaubert hat, gleicht dem Hexenmeister, der die unterirdischen Gewalten nicht mehr zu beherrschen vermag, die er heraufbeschwor.» (Manifest der Kommunistischen Partei; MEAW, Dietz-Verlag 1979, Bd.1, Seite 422)

«Dieselgipfel – was für eine peinliche Inszenierung» so Die Zeit am 2. August: «Für die einen gelten Gesetze, für die anderen werden Gipfel veranstaltet.» Ähnlich kritisch äußern sich Umwelt- und Naturschutzverbändeverbände, Verkehrsinitiativen, DIE LINKE und einige Grüne.

«Jedes Jahr sterben in unserer Stadt rechnerisch 183 Bürger an den Folgen der Luftverschmutzung», sagt Marion Godager Tveter, die für die Grünen Mitglied im Osloer Stadtrat ist.[1] «Unsere oberste Priorität ist die Gesundheit der Menschen, danach kommen die Interessen der Autofahrer.» Von den Interessen der Autoindustrie ist erst gar nicht die Rede. In den Niederlanden sowie in Dänemarks Hauptstadt Kopenhagen dürfen ältere Diesellastwagen nicht in die Umweltzonen fahren, partielle Fahrverbote für ältere Fahrzeuge gibt es in Paris und in vielen anderen europäischen Städten.

Viele Städte in Deutschland haben angekündigt, wegen dauernder, jahrelang anhaltender Überschreitung der Stickoxyd-Messwerte nach verbindlicher EU-Norm Fahrverbote aussprechen zu müssen. Weil das bisher nicht geschehen ist, hat die EU-Kommission ein Verfahren gegen Deutschland eingeleitet. Wie der Hexenmeister, der die Gewalten nicht mehr beherrschen kann, waren Autoindustrie, Bundes- und Landesregierungen aufgeschreckt – ein «Dieselgipfel» wurde einberufen; offizieller Titel: «Nationales Forum Diesel» – kleiner ging es nicht. Am 2. August 2017 wurde das Treffen der 23 Personen plus ihrer Berater wegen erwarteter Proteste ins Innenministerium verlegt. Es trafen sich die Bundesminister_innen Dobrindt, Hendricks, Schäuble, Zypries und Wanka, die Ministerpräsident_innen von Baden-Württemberg, Bayern, Hessen, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz und des Saarlandes als Produktionsstandorte. Eingeladen warender Regierende Bürgermeister von Berlin und der Erste Bürgermeister von Hamburg als besonders betroffenen Städten sowie die maßgeblichen Vertreter der Automobilbranche (VW, Audi, Porsche, Daimler, BMW, Ford und Opel) und der oberste Lobbyist Matthias Wissmann vom Verband der Deutschen Automobilindustrie; bevor er diese Funktion bekleidete war er im Kabinett von Helmut Kohl Bundesverkehrsminister. Es fällt auf, dass der Thüringische Ministerpräsident – trotz Opel in Eisenach – nicht eingeladen war zu diesem exklusiven «Nationalen Forum». In der Erklärung des Treffens heißt es u.a.: «Das Image und das Vertrauen in die Automobilindustrie als Schlüsselindustrie unseres Landes sind in erheblichem Umfang beschädigt. […] Gerade auch die jüngsten Urteile von Verwaltungsgerichten zu Luftreinhaltungsplänen zeigen: Es muss entschieden gehandelt werden.»[2]

Das wurde zwecks Abwehr von Fahrverboten einvernehmlich beschlossen:

  • «Optimierung» von 5,3 Millionen der aktuell in Deutschland zugelassenen Diesel-Pkw in den Schadstoffklassen Euro 5 und 6. Damit soll eine Reduktion der NOx-Emissionen dieser Fahrzeuge um 30 % bis zum Jahresende 2018 erreicht werden. Den Einbau neuer Hardware (Filter, Zusatztanks etc.) lehnten die Automanager «wegen zu hoher und unzumutbarer Kosten» ab[3]. Es bleibt bei Software-Updates, deren Wirksamkeit sehr fragwürdig ist.
  • Die Kosten für die Nachrüstungen tragen die Hersteller.
  • Es wird ein Verbraucherbeirat beim Kraftfahrt-Bundesamt eingerichtet.
  • Für EU-6-Fahrzeuge müssen die Hersteller zusätzlich erklären, dass bei den neu zugelassenen Fahrzeugen in allen Fahrsituationen auf der Straße eine technisch optimale Funktion des SCR-Katalysators gewährleistet ist.
  • Das KBA wird die Kontrollen regelmäßig durchführen.
  • Es wird ein 500-Millionen-Euro Fonds «Nachhaltige Mobilität für die Stadt» aufgelegt, der zur Hälfte vom Staat finanziert wird, um Städte wie Stuttgart und München bei der Luftreinhaltung  trotz IMV infrastrukturell («Green-City-Plan») mit Digitalisierung, Intelligenten Verkehrssystemen, intermodalen Mobilitätslösungen sowie mit zunehmender Automatisierung und Vernetzung im Individual- und Öffentlichem Personennahverkehr (ÖPNV) zu unterstützen.
  • Die Hersteller sind aufgefordert, finanzielle Anreize für den Verkauf neuer Fahrzeuge zu gewähren – bei VW sind dies 2.000 bis 10.000 Euro pro Fahrzeug; den höchsten Rabatt gibt es für die Fahrzeuge mit den meisten Emissionen.
  • Die Bundesregierung sagt weitere Förderung zu für die Durchsetzung von Elektromobilität, staatliche Nachfrage nach Fahrzeugen, 40 Prozent Förderung von Elektro-Taxen, Ausbau der Ladestruktur (50.000 Ladestationen),  Ausbau des Radverkehrs und Landstromversorgung von Schiffen während der Liegezeit.

Insbesondere die Letzten Punkte (Rad- und Schiffsverkehr) muten seltsam an, weil Vertreter dieser Branchen gar nicht mit am Tisch saßen.

Der Fonds «Nachhaltige Mobilität für die Stadt» wirft  zusätzlich Fragen auf, weil er direkt anschließt an die Konzepte der Autokonzerne, den ÖPNV zu kapern und die Umsätze daraus für sich zu erschließen. «Wir definieren Mobilität neu» – so der Slogan von Volkswagen  bei der diesjährigen Aktionärsversammlung. Dazu wurden von VW Unternehmen gekauft (Gett) oder neu gegründet (Moia), ähnlich bei Daimler (car2go und  moovel[4]). In kaum noch verständlicher kryptischer Sprache wird das Ziel formuliert, «umfassende On-Demand-Mobilitätsangebote zu entwickeln und anzubieten, die das Leben der Menschen in urbanen Räumen lebenswerter, sauberer und sicherer machen. Das Geschäftsfeld der App-basierten Fahrtenvermittlung (Ride Hailing) birgt neben Pooling Services mit intelligenter Anbindung an öffentliche Verkehrsmittel (Connected Commuting) dabei das derzeit größte Marktpotenzial im Bereich der On-Demand-Mobilität. Ziel von VW ist es, bis 2025 einen substanziellen Teil des Umsatzes mit diesen neuen Geschäftsfeldern zu erwirtschaften.» Robotertaxis, die fast ohne Personalkosten und durch den effizienten Betrieb von vernetzten Flotten zu einer drastischen Senkung des Fahrpreises pro Kilometer führen sollen, sind ein massiver Angriff auf den ÖPNV. Mit Ride-Hailing, der Bestellung eines bald selbstfahrenden Autos per App mit anschließendem Pooling Services, also der Aneinanderkopplung solcher autonomer Fahrmodule, sollen die Umsätze des bisherigen ÖPNV abgeschöpft und derselbe trockengelegt werden. Um das möglichst realitätsnah auszuprobieren, hat Volkswagen mit der Stadt Hamburg kürzlich an der Bürgerschaft vorbei eine «strategische Partnerschaft» mit weitreichenden Folgen vereinbart.[5]

Es ging weder um den millionenfachen Abgasbetrug noch um den Verdacht der Kartellbildung, sondern ‹nur› darum, drohende Fahrverbote zu vermeiden.

Das wurde zur Beschädigung des Rechtsstaates und der Menschen ebenfalls einvernehmlich beschlossen:

  • Das Dieselprivileg, die Steuerbegünstigung von Dieseltreibstoff, wird nicht angetastet; der Staat subventioniert so die Dieselflotte weiterhin mit mehr als 1 Milliarde Euro pro Jahr.
  • Keine Entschädigungen für die betrogenen Kundinnen und Kunden.
  • Keine Bußgeldzahlungen für die permanenten Rechtsverstöße.
  • Keine Einhaltung der Schadstoffgrenzwerte pro Fahrzeug und auf die Städte bezogen.

Es ging weder um den millionenfachen Abgasbetrug noch um den Verdacht der Kartellbildung, sondern «nur» darum, drohende Fahrverbote zu vermeiden. Die Kollaboration der beteiligten Regierungen mit der Autoindustrie, die in den Sondervoten der LINKEN und der Grünen aus dem Abgasuntersuchungsausschuss[6] benannt und kritisiert wurde, wurde bei diesem «nationalen Forum» fortgesetzt.

Die Thüringische Landesregierung hat die Anlage und die «Ergebnisse» des Gipfels kritisiert: «Wir brauchen schnellstens einen Innovationsgipfel Mobilität, eine öffentliche Debatte über die Zukunft des Verkehrs. Wissenschaft und Forschung, Fachleute aus der Verkehrs- und Stadtplanung haben viele interessante Ansätze, die bisher nur unzureichend gehört werden: Einer davon ist die Stärkung des öffentlichen Nahverkehrs», so Staatssekretär Klaus Sühl.[7] Ein Gipfeltreffen, bei dem auch Umweltverbände und Verbraucherschutz mit am Tisch sitzen müssten, sei angesichts des Ausmaßes des Skandals überfällig gewesen.

Die Hintergründe

Die PKW-Produktion weltweit stagniert ohne China seit der Krise von 2009, der Absatz in der EU ist im Sommer 2017 gerade wieder auf dem Niveau von 2008. In einigen Länder wie Japan, Deutschland, Brasilien, Argentinien, Frankreich, Russland, Polen und Belgien wurde das Vorkrisenniveau nicht wieder erreicht; in Deutschland gingen die Neuzulassungen von Volksagen im ersten Halbjahr 2017 um 3,6 Prozent (KBA) zurück. Weltweit wurden 11 Prozent weniger Golf und Audi A3 verkauft. Insgesamt wächst der Weltmarkt nur schleppend und mit zunehmend teuren «Kaufanreizen» (Rabatten) um durchschnittlich um 2,7 Prozent pro Jahr auf inzwischen stattliche 96 Millionen produzierte PKW im Jahr 2016; davon 30 Prozent in China, 23 Prozent in Europa (davon 2/3 in Deutschland), 19 Prozent in den USA und 14 Prozent in Japan und Korea. Ursächlich für die Stagnation sind gesunkene Kaufkraft und eine daran gemessene Marktsättigung in den Industrieländern: Mit teils weit über 500 PKW pro 1000 Einwohner_innen in Nordamerika, Westuropa, Australien, Neuseeland und Japan sowie inzwischen über 300 PKW pro 1000 Einwohner_innen in Brasilien und Russland scheinen objektive Grenzen erreicht. Bezeichnend: Die Absatzzahlen der großen Limousinen von Daimler, Audi und BMW in China gingen in dem Moment zurück, in dem die chinesische Führung eine Kampagne gegen die Korruption begann[8]. Um diese gesättigten Märkte, um «neue Märkte» vor allem in Afrika und Asien sowie um «neue Geschäftsmodelle»[9] wird nunmehr in erbitterter Konkurrenz gekämpft. In den USA, Kanada, Südkorea und vielen anderen Ländern gibt es wesentlich strengere Umweltanforderungen, in China gibt es eine steigende Quote von zunächst 10 Prozent Elektroautos bei den Neuzulassungen. Die Automobilproduktion in Deutschland und Europa ist zu einem großen Teil vom Absatz in China abhängig – eine Abhängigkeit, die sich böse auswirken wird, wenn die chinesischen Produzenten den heimischen Markt ausreichend bedienen können und zum Export ihrer Autos übergehen. Die Regierung von Trump trägt ebenfalls nicht zur Beruhigung bei, wenn «America first» auch auf die Automobilindustrie angewandt wird – wohin sollen dann die über 800.000 Fahrzeuge geliefert werden, die in den Fabriken von VW, Daimler und BMW in Mexiko für den US-Markt gebaut werden? In der Sprache des «Auto-Experten» Prof. Bratzel hört sich das alles so an: «Das durchschnittliche Wachstum der globalen Herstellerkonzerne Volkswagen, Toyota, GM, Hyundai sank im abgelaufenen Kalenderhalbjahr im Durchschnitt um 2,4 Prozent.»[10]

In diesen Veränderungen und Anforderungen an die Autoindustrie liegt der millionenfache Abgasbetrug  und die Nachsicht der Bundesregierung sowie der Parteien von CDU/CSU über SPD bis zu den Grünen begründet. Eine Lösung des Problembündels ist so allerdings nicht zu erreichen.

Marktbereinigung

So, wie es ist, kann und wird es in der Automobilindustrie nicht weiter gehen. Technologisch scheint die Entwicklung zur Elektromobilität ausgemachte Sache, die Digitalisierung aller Prozesse und sogenanntes «autonomes Fahren» kommen hinzu. Die erforderlichen Summen für diesen – eigentlich falschen bzw. verkürzten – Umbau sind immens und können von den Unternehmen nicht allein aufgebracht werden, zumal mit den Internetkonzernen Google und Apple neue und finanzstarke Spieler auf dem Markt aufgetaucht sind. Diese erbitterte Konkurrenz  der wenigen noch vorhandenen selbständigen Autokonzerne mit teuren Werbekampagnen und ruinösen Rabatten drückt den Profit und führt zu einer durch Regierungen und Banken betriebenen Neuordnung der Welt-Automobilindustrie, die mit der Liquidierung von Standorten in Deutschland (Bochum) und Belgien (Genk und Antwerpen) sowie der Übernahme von Opel durch die französische PSA-Gruppe sehr deutlich wurde. Die Traditionsmarke Volvo befindet sich inzwischen wie The London Taxi Company im Eigentum des chinesischen Geely-Konzerns (Glück verheißende Automobile), die Automarke Saab wurde durch GM gezielt in die Insolvenz getrieben. In der Erklärung der deutschen Wirtschaftsministerin und der Ministerpräsidenten zur Übernahme von Opel durch PSA heißt es vieldeutig: «… ein erster Schritt, um in Europa einen europäischen Global Player auf den Weg zu bringen»[11]. Diesem ersten Schritt werden bald weitere Schritte, Übernahmen und Kooperationen folgen – mit allen Konsequenzen für die Beschäftigten, mit Lohndruck, Entlassungen und zuletzt auch Werksschließungen. Am Ende geht es um den Abbau von Überkapazitäten: in Europa werden über  22 Millionen PKW pro Jahr produziert, aber weniger als 15 Millionen davon werden in Europa abgesetzt.[12]

Was sagen Grüne, SPD und Linke zum Dieselgipfel?

Bei SPD und Grünen sind die Reaktionen auf den Dieselgipfel widersprüchlich, schließlich haben Umweltministerin Hendricks, Justizministerin Zypries ebenso wie die Ministerpräsidenten Weil und Kretschmann teilgenommen und die Ergebnisse mitgetragen. Die zaghafte Kritik von Hendricks am folgenden Tag – Hardware-Lösungen seien noch nicht vom Tisch – können angesichts dessen nicht ernst genommen werden. In seiner Art hat Martin Schulz den Gipfel ergänzt: «Zukunft kommt nicht von allein, 5 Punkte für die Zukunft des Automobilstandortes Deutschland»: Umtauschprämien, staatliche Aufsicht verbessern und Musterklagen ermöglichen, eine europäische E-Mobilitätsquote und Sonderabschreibungen für gewerbliche Nutzer, Entwicklung neuer integrierter Mobilitätskonzepte. Am interessantesten erscheint die «Plattform ‹Zukunft der Automobilindustrie›, die den Strukturwandel gemeinsam mit Gewerkschaften, Verbänden und Experten politisch flankieren soll.»[13] Weitergedacht könnte das ein Branchendialog unter Einbeziehung von Gewerkschaften, der Wissenschaft, Umwelt- und Verkehrsverbänden werden, ein mit Entscheidungsbefugnissen ausgestatteter Wirtschafts- und Sozialrat für die Verkehrswende in unserem Land.

Baden-Württembergs grüner Ministerpräsident Kretschmann bescheinigt dem Dieselgipfel ein «gutes Ergebnis», Spitzenkandidat Özdemir sekundiert: «Es gibt keinen Dissens, nur unterschiedliche Rollen.»[14] Ganz anders die zweite Ebene der Grünen, so der niedersächsische Vorsitzende Stefan Körner: «Statt Mobilität neu und vor allem emissionsfrei zu denken, bestärkt die Bundesregierung die Autoindustrie auf dem Weg in die Sackgasse veralteter Technik und belohnt Betrug mit Nachsicht… Die Chance eines Neuanfangs und damit der Sicherung der Arbeitsplätze in der deutschen Automobilindustrie hat die Bundesregierung gestern vertan.»[15] Der Fraktionsvize im Bundestag, Oliver Krischer sagt: «Mit ihrer Weigerung, wirksame Nachrüstungen bei den Hersteller durchsetzen, sind Union und SPD verantwortlich für Fahrverbote, die Gerichte vermutlich durchsetzen werden».[16]

Der Verkehrsexperte der LINKEN im Bundestag, Herbert Behrens, erklärt, dass die Automobilhersteller sich beim Diesel-Gipfel wieder einmal durchgesetzt haben und macht auch auf die ökonomischen Zusammenhänge aufmerksam: «Die Automobilindustrie muss verpflichtet werden, auf ihre Kosten die lange schon vorhandenen wirksamen Abgasreinigungsverfahren in Diesel-Pkw einzubauen. Die Profitpolster sind dick genug, um das finanzieren zu können. Zwischen 2010 und 2016 verdienten allein Daimler, VW und BMW 152 Milliarden Euro.» Ansonsten, so Behrens, werden die Beschäftigten und die Eigentümer von Dieselfahrzeugen darunter zu leiden haben. Pointierter wird der Parteivorsitzende Bernd Riexinger per Twitter: «Appellieren an Auto-Bosse reicht nicht, Frau Merkel. Betrügern muss man das Handwerk legen.»[17]

Angesichts der gegenwärtig tonangebenden Personen wie Kretschmann bei den Grünen und Schulz bei der SPD fällt es schwer, sich ein gemeinsames Konzept dieser drei Parteien vorzustellen; dennoch gibt es auch in diesen beiden Parteien Politiker und Politikerinnen sowie inhaltliche Debatten und Ansätze, die eine gemeinsame Politik für eine Verkehrswende möglich machen könnten.

Wege aus der Krise

In vielen Ländern, in vielen Städten gibt es bereits Fahrverbote in Form von autofreien Zonen. Werden diese ausgeweitet und durch moderne, elektrische und sehr leise fahrende Niederflurbahnen oder Elektrobusse mit oder ohne Oberleitung erschlossen, so muss über innerstädtische Fahrverbote überhaupt nicht mehr geredet werden. Wird das dann mit günstigen Preisen verbunden, wie z.B. bei der erst 2003 wieder in Betrieb genommenen Tram in Bordeaux mit Unterflur-Stromschienen, ist ein großer Teil der sozial-ökologischen Verkehrswende schon erreicht: Eine Einzelfahrt kostet 1,50 Euro.[18]

Nötig ist mehr gesellschaftlicher, politischer und staatlicher Einfluss nicht nur bei Volkswagen, notwendig ist entschlossenes politisches Handeln, eine Verkehrswende einzuleiten und Wirtschaftsdemokratie zu ermöglichen.

Ein Neustart in der Produktpolitik der Unternehmen wie in der Verkehrspolitik der Länder ist im Übrigen auch die einzige Möglichkeit, Arbeitsplätze und Standorte zu erhalten – dementsprechend sollten Beschäftigte, Gewerkschaften und Betriebsräte ein außerordentliches Interesse daran haben, dass die vorhandenen Möglichkeiten für ein Reset und einen Neubeginn mutig angepackt werden. Dazu gehört eine langfristige Planung für die Beschäftigten, die im Automobilbau tendenziell nicht mehr benötigt werden, dafür aber in anderen Verkehrsbereichen, im Gesundheits- und Bildungswesen, in der Pflege und im Umbau der Infrastruktur. Nötig ist mehr gesellschaftlicher, politischer und staatlicher Einfluss nicht nur bei Volkswagen, notwendig ist entschlossenes politisches Handeln, eine Verkehrswende einzuleiten und Wirtschaftsdemokratie zu ermöglichen. Am Beispiel Niedersachsen: Die Mehrheit von Landesregierung plus Arbeitnehmendenvertretung im Aufsichtsrat von Volkswagen ermöglicht solch eine Politik. Es ist völlig unverständlich, warum Ministerpräsiden Weil und Wirtschaftsminister Ließ nicht längst auf diese Mehrheit setzen. Zur Verkehrswende liegen vielfältige Vorschläge vor für die unterschiedlichen staatlichen Ebenen und für die Unternehmenspolitiken, teils viele Jahre schon erklärt und begründet, teils auch neu. Diese Vorschläge beinhalten auch eine Abkehr von der autoritären Ideologie des Autos; von der Wahnvorstellung, dass «freie Fahrt für freie Bürger» ein Staatsziel sei; von der Verselbständigung von «Mobilität» mit über 3.000 tödlich verletzten Menschen pro Jahr allein in Deutschland.

Kurzfristige Forderungen könnten sein:

  • Die staatliche Subventionierung der Auto- und Logistikindustrie ist zu beenden! Eine Industrie, die Milliarden Profite für die Großaktionäre realisiert, bedarf keiner öffentlichen Unterstützung. Das gilt gleichermaßen für Subventionen der Europäischen Union.
  • Die Konzepte für Elektro-Mobilität sind auf das tatsächliche Nutzerverhalten zu orientieren; die weit überwiegenden Fahrten finden mit 1 bis 2 Personen und wenig Gepäck im Nahraum statt. Die Grenzen der Elektromobilität sind zu beachten.[19]
  • Die Besteuerung von Dieselkraftstoff ist auf das Niveau der Besteuerung von Benzin mit Mehrwertsteuer und Mineralölsteuer anzuheben.
  • Das «Dienstwagenprivileg» (70 Prozent aller Neuzulassungen sind Dienstwagen) muss abgeschafft werden; es ist nicht hinnehmbar, dass Dienstwagennutzer_innen nur 1 Prozent des Listenpreises zu versteuern haben. Und dem Staat damit bis zu 4 Milliarden Euro pro Jahr an Einnahmen entgehen.
  • Der Neu- und Ausbau von Straßen ist zu stoppen. Die Erfahrung zeigt: Wo Straßen gebaut werden, geht der Autoverkehr hin.
  • Einführung einer Luxussteuer (50 Prozent) für PKWs über 3 Liter Hubraum bzw. von mehr als 150 PS – niemand benötigt diese besonders gefährlichen und die Umwelt verschmutzenden Fahrzeuge.
  • Strikte Geschwindigkeitsbegrenzungen in Wohngebieten auf 30 km/h, auf Landstraßen auf 90 km/h und Autobahnen auf 110 km/h – wie das international üblich ist.
  • Das Flugbenzin ist mit Mehrwert- und Mineralölsteuer zu belegen. Start- und Landeverbote von 22 bis 6 Uhr.
  • Die Städte und viele Straßen sind für Schwerlastverkehr zu sperren; das Fahrverbot für LKWs ist täglich von 22 bis 6 Uhr sowie auf den Samstag zu erweitern, strikter einzuhalten und zu kontrollieren, (das sommerliche Wochenendfahrverbot ist auf das gesamte Jahr auszudehnen).
  • Die Maut für den Schwerlastverkehr (über 7,5 Tonnen Gesamtgewicht) wird in jeder Schadstoffklasse verdoppelt.
  • Die vielfältigen Rechtsverstöße der Manager der Autoindustrie und der Großaktionäre als Auftraggeber und Profiteure  werden konsequent geahndet, sie müssen für die Schäden von Abgasbetrug und Kartellbildung haften.

Längerfristige Forderungen könnten sein:

  • In den Städten und Ortschaften werden große autofreie Zonen gefördert, die Raum geben für lebendige Städte, für spielende Kinder und sich begegnende Menschen. (siehe z.B. www.fuss-ev.de und www.adfc.de)
  • Es wird hingearbeitet auf einen fahrscheinlosen ÖPNV; Bus und Bahn werden im Nah- und Fernverkehr flächendeckend und preiswert angeboten.
  • Die frei werdenden Mittel aus dem Straßenbau werden umgeleitet: Die stadt- und landschaftsplanerischen Ziele und Ressourcen werden zur Verbesserung des Bahn-, Rad- und Fußverkehrs eingesetzt.

Ein übergreifender Punkt wird dabei angesichts der Digitalisierung und der damit verbundenen  Produktivitätspotenziale eine deutliche Arbeitszeitverkürzung und eine andere Verteilung der Zeit für Erwerbsarbeit auf die verschiedenen Sektoren der Volkswirtschaft sein. Mehr Geschlechter- und Generationengerechtigkeit wäre ein weiteres Ergebnis solcher Umstrukturierung.

Die Verkehrswende ist ein derart komplexer Vorgang, dass alle relevanten Gruppen in die Umsetzung einzubeziehen sind: Die Gewerkschaften, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ebenso wie die Umwelt- und Verkehrsverbände. Nur so können die unterschiedlichsten Aspekte von technischen Möglichkeiten, sozialen, ökologischen, ökonomischen und juristischen Herausforderungen bis hin zur Frage von Eigentum und Verfügungsgewalt politisch bewältigt werden.[20]

Warum steht VW besonders im Fokus?

Volkswagen ist besonders deshalb Thema, weil der Abgasbetrug besonders dreist war, weil das Management besonders arrogant auftritt, weil es in den USA gar zu einer Verschwörung gegen die Justiz kam. Das wichtigste aber: Volkswagen ist ein Unternehmen mit 20 Prozent staatlicher Beteiligung und einem Gesetz, das den Belegschaftsvertretungen besondere Mitbestimmungsrechte einräumt. Diese beiden Besonderheiten liegen in der Geschichte des Unternehmens begründet, das von den Nazis zwecks KdF-Demagogie, «Volksmotorisierung» und Kriegsvorbereitung mit geraubtem Gewerkschaftsvermögen aufgebaut worden ist.[21] Nach 1945 «herrenlos», wurde es 1949 dem neuen Staat BRD «zu treuen Händen» (treuhänderisch) von den Briten übergeben. Innerhalb der Systemkonkurrenz zwischen West und Ost sollte es – nach Überzeugung der restaurativen Kräfte in CDU, DP, BHE und FDP – keinen «VEB Volkswagen» geben; die Privatisierung von VW wurde betrieben. 1960 wurden nach langen Auseinandersetzungen 60 Prozent des Unternehmens an die Börse gebracht, jeweils 20 Prozent blieben beim Land Niedersachsen und beim Bund, die jeweils zwei Aufsichtsratsmitglieder stellten. Zur Befriedung der Ansprüche der Belegschaft und der Gewerkschaft wurde das VW-Gesetz mit den besonderen Mitbestimmungsrechten vom Bundestag verabschiedet, mit ersten sogenannten «Volksaktien» fand die soziale Demagogie der Nazis ihre Fortsetzung. Mit dieser staatlichen Verantwortung und Beteiligung ist zu erklären, dass in der ersten Nachkriegsperiode mit dem Volkswagenwerk aktive Industriepolitik betrieben und in Emden/Ostfriesland und in Kassel/Nordhessen jeweils ein Werk neu gebaut wurde, um in diesen Armutsregionen Arbeitsplätze zu schaffen; ähnlich verhielt es sich mit den Werken in Hannover und in Salzgitter und jüngst, 2009, mit der Gründung von VW in Osnabrück, um den Beschäftigten der insolventen Karmann-Fabrik eine Perspektive zu bieten.

Unter der Regierung Kohl und ihrem Finanzminister Waigel verkaufte die Bundesregierung 1980 gegen Protest und Widerstand der Belegschaft ihre Anteile am Unternehmen und ist seither auch nicht mehr im Aufsichtsrat vertreten. Die niedersächsischen Landesregierungen haben seither – völlig unabhängig von der jeweiligen Regierungspartei oder Regierungskoalition – an den Landesanteilen festgehalten; dieses nicht wegen der Dividenden, denn deren Ertrag fließt in die Volkswagen-Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur, die 1960 ebenfalls gegründet wurde, um die Besitzansprüche der Gewerkschaften abzuwehren.

Eine neue Debatte über den Anteil des Landes am Unternehmen macht nur Sinn, wenn es darum geht, diesen Anteil zu vergrößern, mehr staatliche und politische Gestaltung einzufordern, mehr Kontrolle des profitgierigen Kapitals durchzusetzen, mehr Mitbestimmung, mehr Wirtschaftsdemokratie, in die Gewerkschaften, Umwelt-, Sozial- und Verkehrsinitiativen einbezogen sind, zu erringen.

Stephan Krull; von 1990 bis 2006 Mitglied des Betriebsrates bei VW in Wolfsburg; weitere Texte auf stephankrull.info

Ein Position von Dr. Bernd Röttger zur Konversion aus dem Gesprächskreis «Zukunft der Automobilindustrie» der RLS Niedersachsen: nds.rosalux.de/publikation/id/37392

 


[1] www.spiegel.de/auto/aktuell/diesel-fahrverbote-in-oslo-smog-erfordert-drastische-massnahmen-a-1130242.html

[2] www.bmvi.de/SharedDocs/DE/Anlage/K/170802-erklaerung-nationales-diesel-forum.pdf 

[3] www.zeit.de/wirtschaft/2017-08/diesel-gipfel-software-update-fuer-fuenf-millionen-dieselfahrzeuge

[4] Selbstbeschreibung: «Mit ihrem Ziel, urbane Mobilität neu zu definieren, verändert die Daimler-Tochter moovel die Nutzung des ÖPNV und die Fortbewegung in der Stadt.»

[5] www.hamburg.de/contentblob/6770750/79dfb53810fce0a30027b01de5160168/data/2016-08-29-pr-mobilitaetspartnerschaft.pdf

[6] Bericht Abgasuntersuchungsausschuss: dip21.bundestag.de/dip21/btd/18/129/1812900.pdf einschließlich der Sondervoten der Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen im vierten Teil

[7] www.thueringen.de/th9/tmil/presse/pm/99815/index.aspx  «Wir müssen über ein anderes Mobilitätsverhalten und neue Technologien reden.»

[8] «Besonders die Volkswagen-Tochter Audi sowie BMW erleben einen Einbruch beim Verkauf von Limousinen – dieses Segment war viele Jahre lang der größte Renditebringer, ist inzwischen jedoch am meisten von der seit zwei Jahre anhaltenden Antikorruptionskampagne betroffen. Luxusfahrzeuge gelten unter Regierungsangehörigen und Parteisekretären seitdem offiziell als verpönt und werden häufig gar nicht mehr erlaubt. Vor allem Audi hatte aber fast zwei Jahrzehnte auf diese höchst fragwürdige Klientel gesetzt.» blog.zeit.de/china/2015/07/13/autokrise-china/

[9] Privatisierung des bisher öffentlichen Verkehrs in der «Smart City»

[10] CAM Newsletter 6/2016

[11] www.bmwi.de/Redaktion/DE/Downloads/G/gemeinsame-erklaerung-zu-opel.pdf?__blob=publicationFile&v=26

[12] www.acea.be/publications/article/fact-sheet-cars

[13] www.spd.de/aktuelles/detail/news/zukunft-kommt-nicht-von-allein/11/08/2017/

[14] www.stuttgarter-zeitung.de/inhalt.die-gruenen-und-der-dieselgipfel-kretschmann-als-wahlkampfrisiko.01422bef-ecee-4fd1-bde7-4bbdd82ebc8e.html

[15] www.facebook.com/notes/gr%C3%BCne-niedersachsen/diesel-gipfel-versagen-auf-ganzer-linie/1640428102655997/

[16] www.ffh.de/news-service/ffh-nachrichten/toController/Topic/toAction/show/toId/130659/toTopic/software-update-fuer-5-millionen-diesel.html

[17] twitter.com/b_riexinger

[18] de.france.fr/de/info/oeffentliche-verkehrsmittel-bordeaux  

[19] www.spektrum.de/kolumne/was-waere-wenn-wir-alle-elektrisch-fahren-wuerden/1441400

[20] stephankrull.info/2017/08/07/autokrieg-krise-und-zukunft-einer-schluesselindustrie-2/#more-465

[21] Mommsen/Grieger: Das Volkswagenwerk und seine Arbeiter im Dritten Reich, Düsseldorf: Econ 1.-3. Auflage 1996